Achtes Kapitel.
Halg und Sirk.

[207] Der Kaw-djer stellte die Freiheit höher als alle Güter der Welt und war ebenso aufmerksam besorgt, sie bei seinem Nebenmenschen zu respektieren, als er auf die Anerkennung seiner eigenen Freiheit eifersüchtig bedacht war; und dennoch ging von seiner Person, seinem Auftreten ein so hoheitsvolles Etwas aus, daß man seinen Befehlen wie denjenigen des gefürchtetsten Despoten gehorchte. Vergebens bemühte er sich, nie etwas zu sagen, das die Form eines Befehles hatte – man nahm den unbedeutendsten Rat als einen solchen an, dem sich dann fast alle bereitwilligst fügten.

Man hatte die Häuser auf dem linken Flußufer errichtet, weil sein Heim dort stand. Durch die gesetzlosen Zustände im alten Lager und durch die Schattenregierung, die später eingerichtet worden war, beunruhigt, hatte man sich zu dem Manne geflüchtet, dessen physische Stärke, geistige Überlegenheit und moralische Größe sie mit Verehrung und Vertrauen erfüllte.

Je mehr man in der Nähe des Kaw-djer lebte, desto größer wurde die Macht seines Einflusses. Hartlepoool und die vier Matrosen sahen unbedingt in ihm ihr Oberhaupt und bei Harry Rhodes, welcher besser imstande war, die geheimen Triebfedern seines Handelns zu beurteilen, kam zur Achtung innige Freundschaft hinzu.[207]

Bei Halg und Karroly steigerte sich die Verehrung zum wirklichen Fetischismus. Der Kaw-djer hatte in ihnen eine Verneinung seiner Überzeugung, daß der Mensch keinen Gott brauche, vor sich; denn den beiden Indianern erschien er als ein Gott; dem Vater, dessen materielles Leben er gänzlich und zum Besseren umgestaltet hatte; dem Sohne, dessen Seelenleben er überhaupt erst geschaffen, aus dem Zustand halben Verliertseins herausgerissen hatte, den diese feuerländischen Volksstämme »Leben« nennen. Jedes seiner Worte war unumstößliches Gesetz für sie und nahm in ihren Augen den Charakter einer geoffenbarten Wahrheit an.

Darum darf man sich nicht verwundern, wenn Halg trotz seines lebhaften Widerwillens, sich von seinem Feinde ausbeuten zu lassen, seine Handlungsweise auch in diesem Punkte nach dem Wunsche desjenigen regelte, welchen er als seinen unumschränkten Gebieter ansah. Sirk und Genossen durften ihren Zynismus ungestraft täglich weiter treiben. Wie groß auch seine innerliche Empörung war, Halg wagte nicht, ihnen ihren Anteil an seinen Fischen zu verweigern, solange die Umstände die gleichen blieben und sie die Bedingungen einhielten, die der Kaw-djer festgesetzt hatte.

Aber es kam der Tag, an welchem die vom Kaw-djer aufgestellten Grundsätze zu unvorhergesehenen, ganz unlogischen Resultaten führten Auch der geschickteste Fischer, welcher von Kindesbeinen an mit dem nassen Element vertraut ist, kann einmal vom Unglück betroffen werden. Halg machte eines Tages diese Erfahrung. Wie gewöhnlich warf er Netze und Angeln aus, versuchte sein Glück an verschiedenen Stellen, er mußte die Arbeit einstellen und sich mit einem einzigen kleinen Fisch zufriedengeben.

In Gesellschaft von vier Kolonisten erwartete Sirk, wie tagtäglich, die Rückkehr der Schaluppe, faul am Strande hingestreckt. Die fünf Männer erhoben sich, als die Wel-kiej Anker warf, und näherten sich Halg.

»Wir haben heute wieder ordentliches Pech gehabt, Kamerad, sagte der eine der Emigranten. Wie gut, daß du jetzt kommst! Wir hätten sonst nichts zu essen und unsere Magen knurren.«

Die Bettler strengten sich nicht an, jeden Tag eine neue Formel für ihr Anliegen zu finden; gewöhnlich verlangten sie mit den gleichen Worten die gleiche Sache und Halgs kurze Antwort war immer: »Hier, nehmt!« Aber dieses Mal lautete seine Antwort anders: »Heute ist es unmöglich.«

»Unmöglich? fragte einer ungläubig.[208]

– Seht selbst, erwiderte Halg. Ich bringe einen einzigen Fisch heim und der ist nicht groß.

– Wir müssen uns eben damit zufriedengeben, meinte einer der Emigranten, welcher großmütig gute Miene zum bösen Spiele machen wollte.


 »Ich bin bereit,« sagte er im reinsten Portugiesisch. (S. 214.)
»Ich bin bereit,« sagte er im reinsten Portugiesisch. (S. 214.)

– Und ich? fragte Halg.

– Du, riefen gleichzeitig fünf Stimmen mit dem Ausdruck des höchsten Staunens.«[209]

Der junge Indianer war aber auch zu anmaßend! Was nahm er sich denn – ein Wilder – gegen die fünf »Zivilisierten« heraus, welche ihm die Ehre angedeihen ließen, seine Dienste anzunehmen!

»Na, höre einmal, Rothaut, rief einer der Kolonisten, du verstehst auch die Brüderlichkeit auf deine eigene Art!... Du wirst doch nicht die Frechheit so weit treiben und deinen elenden Fisch nicht ausliefern?«

Haig schwieg. Nach den Worten des Kaw-djer war er in seinem guten Recht, wenn er den Fisch behielt. – »Erst muß man für die eigenen Bedürfnisse Sorge tragen, dann erst...«

So und nicht anders, hatte der Kaw-djer gesagt.

Ein einziger Fisch war übrigens – wie der Augenschein ergab – ungenügend für eine Abendmahlzeit, zu klein zur Teilung – Halg war entschlossen, den Fisch zu behalten.

Der eine Arbeiter nahm Halgs Zögern für den Beweis eines krassen Egoismus.

»Schöne Handlungsweise, rief er empört!

– Keine weiteren Redensarten, mischte sich Sirk in herausforderndem Tone ein; wenn der Kerl den Fisch nicht gutwillig hergibt, nehmen wir ihm denselben einfach weg, und sich zu Halg wendend, zählte er: Eins... zwei... und... drei!« –

Schweigend stellte sich Halg in Verteidigungszustand.

»Vorwärts, Jungen!« kommandierte Sirk. Die fünf Männer warfen sich auf ihn, er wurde zu Boden geworfen und der Fisch seinen Händen entrissen.

»Kaw-djer!« schrie er im Fallen.

Auf den Hilferuf traten der Kaw-djer und Karroly sofort aus ihrem Hause. Sie sahen Halg im ungleichen Kampfe begriffen und eilten ihm zur Hilfe.

Die Angreifer warteten die Ankunft der beiden nicht ab. Sie flohen, so schnell sie ihre Beine trugen, über den Fluß zurück, den durch brutale Gewalt eroberten Fisch hatten sie mitgenommen.

»Was ist denn geschehen?« fragte der Kaw-djer.

Haig erzählte, was vorgefallen war und der Kaw-djer hörte mit finster gerunzelter Stirne zu. Wieder ein neuer Beweis für die menschliche Bosheit, der seine optimistischen Theorien untergrub. Wieviele andere[210] mußten sich noch diesem an die Seite stellen, bevor er dazu zu bringen war, den Menschen so zu sehen, wie er tatsächlich ist!

Wenn er dem Altruismus auch die weitgehendsten Zugeständnisse machte, seinem Schüler konnte er heute unmöglich unrecht geben, er hatte nicht anders handeln können. Höchstens ließ er die Bemerkung fallen, daß die kleinliche Ursache des Streites nicht einer solchen Verteidigung wert gewesen sei. Aber diesmal war Halg nicht zu überzeugen.

»Es handelt sich nicht um den Fisch, rief er erregt und noch ganz heiß vom Ringen; ich will aber doch nicht der Sklave dieser Menschen sein!

– Nein, nein, das sollst du auch nicht,« sagte der Kaw-djer, einlenkend.

Ja, auch die Eigenliebe, die Eitelkeit säet Unfrieden unter die Menschen. Nicht nur die Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse ist die Ursache zu Zank und Streit. Sie haben aber auch moralische Bedürfnisse und unter ihnen nimmt der Stolz die erste Stelle ein, der viel dazu beigetragen hat, die Erde im Laufe der Zeiten mit Blut zu tränken. Hatte der Kaw-djer das Recht, das Aufbäumen dieses Stolzes zu tadeln, er, dessen unzähmbare Seele nie den Schatten eines Zwanges ertragen konnte?

Inzwischen hatte sich Halgs Zorn noch nicht gelegt.

»Ich! rief er, ich soll diesem Sirk nachgeben!« –

Das auch noch! Die Leidenschaften wollten auch eine aktive Rolle spielen und hetzten diejenigen gegeneinander auf, welche der Kaw-djer immer noch eigensinnig als Brüder bezeichnete!

Er sagte nichts zu diesem empörten Ausruf des jungen Mannes, nur versuchte er, Halg durch eine Geste zu beruhigen und entfernte sich schweigend.

Aber er gab es nicht auf, seine Traumgebilde gegen die Angriffe der Tatsachen zu verteidigen. Während seiner kurzen Wanderung suchte und fand er Entschuldigungen für die Angreifer:

Sie waren ja schuldig, das stand bombenfest, aber es war in Erwägung zu ziehen, daß diese armen Menschen die traurigen Ergebnisse der vielgepriesenen Zivilisation der Alten Welt waren, welche kein anderes Überzeugungsmittel kannten, außer der rohen Kraft – besonders in diesem Falle, wo es sich um ihre Lebenserhaltung handelte.

Und darum handelte es sich in diesem Falle wirklich! Ihr Leichtsinn, ihre Sorglosigkeit dieser brennenden Frage gegenüber war groß, strafbar! – aber wie furchtbar niederschmetternd mußte für sie der Anblick[211] der sich stetig verringernden Vorräte sein – das meiste davon war im Inneren der Insel. Kein neuer Zufluß war zu erwarten, der sie vermehrt hätte, schon konnte man den Tag bestimmen, an dem sie aufgezehrt sein würden. War es zu verwundern, wenn die Unglücklichen jegliches Mittel ergriffen, um die unabwendbare Katastrophe zu verzögern? Gehorchten Sie nicht nur einem mächtigen Naturtrieb, welcher – per fas et nefas – die unausbleibliche Zerstörung nach Tunlichkeit hinauszuschieben versucht?

Waren sich Sirk und Genossen der schlimmen Aussichten der Kolonie voll bewußt oder hatten sie nur ihrer brutalen Natur die Zügel schießen lassen? Wie dem auch sei, die Befürchtungen des Kaw-djer hatten ihre Berechtigung. Man mußte mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu bemerken, wie der schrecklichste Feind, der Hunger, die entstehende Kolonie bedrohte. Was ging im Inneren der Insel vor? Man wußte es nicht; nach der allergünstigsten Annahme konnte erst im folgenden Sommer die Ernte so viel abwerfen, daß ein Teil davon den Küstenbewohnern zugute kommen konnte. Da hieß es noch ein volles Jahr warten – und man hatte nur noch Lebensmittel für zwei Monate!

Am linken Flußufer standen die Sachen weniger ungünstig. Man hatte sich hier von allem Anfang an nach dem Beispiel des Kaw-djer alles besser eingeteilt, man sparte mit den Nahrungsmitteln und trachtete durch Gemüsebau und Fischfang Vorräte zu schaffen. Im Gegensatz zu diesen wenigen waren die sechzig Bewohner des rechten Ufers von einer strafbaren Gleichgültigkeit. Was war das mutmaßliche Schicksal dieser Unglücklichen? Würde es – dreihundert Jahre später – zu einer abermaligen Tragödie von Port-Famine kommen?

Man mußte es mit allem Rechte befürchten und alle Anzeichen wiesen auf solch ein entsetzliches Ende hin, als ein unvorhergesehener Glücksfall die leichtsinnigen Kolonisten dieser Sorgen enthob.

Chile hatte sein Versprechen, der jungen Republik zu Hilfe zu kommen, nicht vergessen. Gegen die Mitte des Monates Februar legte sich ein Schiff, das die chilenische Flagge trug, vor der Insel Hoste vor Anker. Dieses Schiff, »Ribardo«, ein Segellastschiff, stand unter dem Kommando des Kapitäns José Fuentes und versorgte die Emigranten mit frischen Lebensmitteln, Samen, Haustieren und Ackergeräten; es war eine sehr wertvolle[212] Ladung und mußte den Kolonisten zum Erfolg verhelfen, wenn weise damit verfahren wurde.

Kaum hatte der Anker Grund gefaßt, so ließ sich Kommandant Fuentes ans Land rudern, um mit dem Gouverneur der Insel zu verhandeln. Ferdinand Beauval hatte sich ihm in dieser Eigenschaft vorgestellt – und eigentlich mit Recht, denn er allein erhob Anspruch auf diesen Titel – und die Ausschiffung der Ladung wurde sogleich in Angriff genommen.

Während dieser Arbeit brachte Kapitän Fuentes eine andere Angelegenheit zur Sprache, mit der er betraut war.

»Herr Gouverneur, sagte er zu Beauval, meine Regierung hat in Erfahrung gebracht, daß ein unter dem Namen »Kaw-djer« bekannter Mann auf der Insel Hoste lebt. Verhält es sich so?«

Beauval bejahte die Frage und der Kommandant fuhr fort:

»Also beruhen unsere Erkundigungen auf Wahrheit. Durste ich Sie um nähere Aufklärung über diesen Mann bitten?

– Er ist ein Revolutionär, sagte Beauval mit ihm selbst unbewußter Offenherzigkeit.

– Ein Revolutionär! Wie verstehen Sie das, Herr Gouverneur?

– Für mich wie für jedermann, erwiderte Beauval, ist ein Revolutionär jeder Mensch, welcher sich gegen die Gesetze auflehnt und der rechtmäßig eingesetzten Autorität den Gehorsam verweigert.

– Hat Ihnen der Kaw-djer Schwierigkeiten bereitet?

– Er macht mir sehr viel zu schaffen, sagte Beauval mit wichtiger Miene; er ist, was man einen Starrkopf nennt... Aber ich werde ihn schon zähmen!« beteuerte er energisch.

Der Kapitän des chilenischen Schiffes schien sehr interessiert. Nach einer kurzen Pause schweigenden Überlegens fragte er:

»Könnte ich vielleicht diesen Kaw-djer sehen, welcher die Aufmerksamkeit meiner Regierung schon so oft auf sich gelenkt hat?

– Nichts ist leichter, entgegnete Beauval... Übrigens, sehen Sie dorthin... er kommt gerade auf uns zu!«

Mit diesen Worten bezeichnete Beauval mit der Hand den Kaw-djer, welcher soeben die über den Fluß führende Brücke betreten hatte. Der Kommandant ging ihm entgegen.[213]

»Auf ein Wort, mein Herr, bitte,« sagte er höflich und legte die Hand an die mit Goldschnüren verzierte Mütze.

Der Kaw-djer blieb stehen.

»Ich bin bereit,« sagte er im reinsten Portugiesisch.

Aber der Kapitän sprach nicht gleich. Mit starren Blicken sah er den Kaw-djer offenen Mundes in maßlosem Staunen, das er gar nicht zu verbergen suchte, an.

»Nun? sagte dieser ungeduldig.

– Entschuldigen Sie, mein Herr, nahm endlich Fuentes das Wort. Als ich Sie vorhin zum ersten Mal erblickte, glaubte ich einen alten Bekannten wiederzusehen. Sind wir uns nicht schon einmal irgendwo begegnet?

– Ich glaube kaum, sagte der Kaw-djer, um dessen Lippen sich ein ironischer Zug vertiefte.

– Und dennoch scheint mir...«

Der Kommandant unterbrach sich mitten in der Rede und schlug sich auf die Stirne:

»Ich habe es! rief er. Sie haben recht. Begegnet habe ich Sie in der Tat niemals. Aber Sie sehen einem Porträt so ähnlich, das in Millionen von Exemplaren über die ganze Welt verbreitet worden ist, daß es ganz ausgeschlossen erscheint, daß dieses Porträt nicht Sie selbst darstellen sollte!«

Während seiner Rede wurde seine Haltung unwillkürlich respektvoller und seine Stimme zitterte wie in tiefer Erregung. Als er schwieg, hatte er die Mütze abgenommen.

»Sie irren sich bestimmt, mein Herr, sagte der Kaw-djer in kaltem Tone.

– Trotzdem würde ich schwören, daß...

– Wann haben Sie das fragliche Porträt gesehen? fragte der Kaw-djer.

– Vor zehn Jahren ungefähr.«

Der Kaw-djer hielt es nicht unter seiner Würde, die Wahrheit ein wenig zu entstellen.

»Es ist länger als zwanzig Jahre her, erwiderte er, daß ich Ihre sogenannte zivilisierte Welt verließ. Folglich kann dies unmöglich mein Bild gewesen sein. Wie wollten Sie mich auch wiedererkennen? Vor zwanzig Jahren war ich noch jung, und jetzt!...

– Wie alt sind Sie?« fragte der Kapitän unvorsichtigerweise.[214]

Die unpassende Frage war fast ohne sein Wissen von seinen Lippen gefallen. Seine Neugierde war aufs höchste aufgestachelt, er glaubte, einem Geheimnis auf der Spur zu sein, das er vielleicht lösen konnte. Kaum war die Frage ausgesprochen, als er seinen Taktfehler einsah und sie bereute.

»Habe ich Sie um Ihr Alter gefragt?« sagte der Kaw-djer kalt.

Der Kommandant biß sich auf die Lippen.

»Ich vermute, nahm der Kaw-djer das Gespräch wieder auf, daß Sie mich nicht angesprochen haben, um mit mir über alte Photographien zu plaudern. Bitte, lassen Sie uns zur Sache kommen!

– Gut!« erwiderte der Kapitän.

Etwas ärgerlich setzte er seine Mütze wieder auf.

»Meine Regierung, sagte er, indem er einen rein geschäftlichen Ton anschlug, hat mich beauftragt, Sie um Ihre Absichten zu befragen.

– Um meine Absichten? wiederholte der Kaw-djer erstaunt. Um welche Absichten denn?

– In bezug auf Ihren Aufenthaltsort.

– Das geht sie doch nichts an!

– Das geht sie sehr viel an!

– Ah!...

– Gewiß! Es ist meiner Regierung nicht unbekannt, welche Macht Sie über die Eingebornen des Archipels haben, und sie hat nie aufgehört, diesen Einfluß ernstlich zu beobachten und mit Interesse zu verfolgen!

– Zu liebenswürdig, sagte spöttisch der Kaw-djer.

– Solange der Magalhães-Archipel unabhängig war, fuhr der Kommandant fort, hat man nur zugewartet. Aber mit der Teilung hat sich die Lage geändert; nach der Annexion...

– Dem Raube, berichtigte der Kaw-djer.

– Sie meinen?

– Nichts. Bitte, fahren Sie fort!

– Nach der Annexion mußte sich meine Regierung – die besorgt sein muß, ihre Autorität im neuen Besitz zur Geltung zu bringen – fragen, welche Haltung Ihnen gegenüber anzunehmen ist. Natürlich wird dies ganz von Ihrem Verhalten abhängen. Meine Mission ist, Sie um Ihre Zukunftspläne zu befragen. Ich bin im Besitze eines Freundschaftsvertrages...[215]

– Oder einer Kriegserklärung?

– Sie erraten es. Ihr Einfluß, den Sie nicht leugnen können, ist er uns feindlich gesinnt oder gedenken Sie ihn in den Dienst unserer Zivilisationsbestrebungen zu stellen? Wollen Sie unser Verbündeter – oder unser Gegner sein? Die Entscheidung liegt bei Ihnen!

– Ich bin weder das eine noch das andere, sagte der Kaw-djer; ich gedenke neutral zu bleiben.«

Der Kommandant schüttelte zweifelnd das Haupt.

»Die Neutralität scheint mir eine schwer durchzuführende Sache, sagte er, wenn man Ihre Machtstellung hierzulande in Betracht zieht.

– Sie ist im Gegenteil sehr leicht zu bewahren, erwiderte der Kawdjer, aus dem überzeugenden Grunde, daß ich Magellanien auf Nimmerwiedersehen verlassen habe.

– Sie haben es verlassen?... Aber Sie sind doch hier...

– Hier bin ich auf der Insel Hoste, einem freien Lande, und ich bin fest entschlossen, nie mehr den Magalhães-Archipel zu betreten, der nicht mehr frei ist.

– Somit beabsichtigen Sie, auf der Insel Hoste Ihre bleibende Wohnstätte aufzuschlagen?«

Der Kaw-djer nickte.

»Das vereinfacht alles, meinte der Kapitän sehr befriedigt. Ich kann also die Versicherung mit mir nehmen, daß meine Regierung nichts Feindliches von Ihnen zu befürchten hat.

– Sagen Sie Ihrer Regierung, daß ich sie nicht kenne,« sagte der Kaw-djer, lüftete seine Mütze und ging fort.

Einen Augenblick folgte ihm der Kommandant mit seinen Blicken. Trotz der Beteuerungen des Kaw-djer war Fuentes gar nicht überzeugt, daß die entdeckte Ähnlichkeit nur auf Einbildung beruhen sollte; und diese Ähnlichkeit mußte etwas Außergewöhnliches bedeuten, um ihn so zu erregen.

»Wie merkwürdig!« murmelte er halblaut, während sich der Kaw-djer entfernte, ohne sich umzublicken.

Der Kommandant kam nicht in die Lage, seine Vermutungen nochmals auf ihre Richtigkeit zu prüfen, denn der Kaw-djer gewährte ihm keine zweite Unterredung. Als ob er Ursache gehabt hätte, eine abermalige Zusammenkunftmit dem Kapitän, die sein früheres Leben zur Sprache bringen konnte, zu scheuen, war er noch am selben Abend vom Schauplatz verschwunden: er war auf einer seiner Streifereien durch die Insel begriffen.


Die jungen Leute zogen sich auf das andere Ufer zurück... (S. 224.)
Die jungen Leute zogen sich auf das andere Ufer zurück... (S. 224.)

Der Kommandant mußte sich darauf beschränken, die Ausschiffung seiner Ladung zu bewerkstelligen, eine Arbeit, die eine Woche in Anspruch nahm.

Außer den durch Chile zum allgemeinen Besten großmütig gesandten Vorräten brachte der »Ribardo« auch noch eine besondere Fracht für einen einzelnen, und zwar für Harry Rhodes.

An den Feldarbeiten konnte er sich nicht beteiligen, dazu hatte ihn die genossene Erziehung nicht vorbereitet. So war ihm der Gedanke gekommen, einen Importhandel zu begründen. Deshalb hatte er nach der Unabhängigkeitserklärung, als man eine glückliche Zukunft erhoffen konnte, den Kommandanten des Avisoschiffes beauftragt, bei Gelegenheit ihm die Waren zukommen zu lassen.

Dieser hatte den Wunsch nicht vergessen und nun brachte der »Ribardo« über Auftrag und auf Rechnung Harry Rhodes' eine Unmenge der verschiedensten Dinge mit, die, einzeln genommen, fast wertlos und doch wieder von größtem Werte sind: Zwirn, alle Arten von Nadeln, Zündhölzchen, Schuhe, Kleider, Federn, Bleistifte, Papier, Tabak und tausend andere Kleinigkeiten, eine ganze Ausrüstung für einen Bazar.

Das Projekt Harry Rhodes' war sehr vernünftig, seine Wahl gut getroffen. Aber wie die Dinge standen, war zu befürchten, daß ihm sein Warenlager zum Selbstgebrauch verbliebe! Nichts deutete darauf hin, daß es jemals zum geregelten Zwischenhandel unter den Hostelianern kommen könnte, welche eigentlich aus Einsiedlern bestanden, die zufällig zusammengeweht worden waren.

Harry Rhodes war seines Mißerfolges schon jetzt so sicher, daß er um ein Haar seine Waren auf dem »Ribardo« gelassen und sich selbst eingeschifft hätte, um dieses Land zu fliehen, von dem er nichts mehr erhoffte.

Aber wohin sich wenden mit diesen verschiedenartigen Gegenständen, die hier auf dieser weltabgeschlossenen Insel so kostbar waren und in belebten Gegenden fast wertlos wurden. Nach reiflicher Überlegung beschloß er, sich in Geduld zu fassen und zu bleiben. Das Schiff war nicht das[219] letzte, das diese Küste besuchte! Die Gelegenheit, die Insel Hoste zu verlassen, kam wieder und er konnte immer von ihr Gebrauch machen, wenn die Lage sich nicht besserte.

Sobald die Ladung ausgeschifft war, lichtete der »Ribardo« die Anker und fuhr ab, und einige Stunden später erschien der Kaw-djer wieder an der Küste; es war, als ob er nur die Abfahrt des chilenischen Schiffes abgewartet hätte.

Die frühere Lebensweise wurde wieder aufgenommen, die einen bebauten ihre Gärten, die anderen gingen dem Fischfang nach, der Kawdjer jagte im Inneren der Insel, die Mehrzahl tat gar nichts und lebte heiter und fröhlich in den Tag hinein, was jetzt nicht mehr so unvernünftig zu nennen war, da ja ein neuer Schatz von Vorräten angelangt war. Die Bevölkerung belief sich auf hundert Seelen, wobei die Bewohner Neudorfs mitgerechnet waren. (Diesen Namen hatte man mit allgemeiner Zustimmung der zweiten kleinen Niederlassung gegeben, die sich um das Haus des Kaw-djer gebildet hatte.) Lebensmittel gab es nun für achtzehn Monate. Folglich war kein Grund zur Beunruhigung vorhanden.

Beauval »regierte« einstweilen. In Wirklichkeit führte er ein richtiges Faulenzerdasein und seiner Meinung nach gedieh der Staat prächtig. In den ersten Tagen seiner Ernennung hatte er das Lager auf den Namen »Liberia« getauft, die neue Hauptstadt der Insel Hoste. Seit dieser anstrengenden Regierungsarbeit ruhte er.

Das großmütige Geschenk der chilenischen Regierung bot ihm Gelegenheit, ein zweites Mal seine Autorität zu betätigen, indem er für die Unterhaltung seiner Untertanen Sorge trug – eine wichtige Sache. Auf seinen Befehl hin war die eine Hälfte der Alkoholvorräte, die der »Ribardo« gebracht hatte, für kommende Zeiten reserviert, die andere Hälfte unter die Kolonisten verteilt worden. Die Folgen dieser Freigebigkeit waren leicht vorherzusehen. Viele verloren gleich ihren klaren Verstand und Lazare Ceroni noch mehr als alle anderen. Tullia und ihre Tochter mußten wieder die häßlichen Szenen über sich ergehen lassen, die der Außenwelt unbekannt blieben, weil sie vom allgemeinen Festtaumel übertönt wurden. Man trank, man spielte, man tanzte auch zu den Klängen, die der wiedererwachte Fritz Groß seiner Geige entlockte. Die Müßigen blieben bei dem musikalischen Genie stehen. Selbst der Kaw-djer kam nach Liberia herüber,[220] von den herrlichen Weisen angezogen, die um so wunderbarer klangen, weil sie einzig waren auf dieser weltfernen Insel. Einige der Bewohner Neudorfs begleiteten den Kaw-djer, unter ihnen Harry Rhodes samt Familie, welche den musikalischen Genuß sehr zu würdigen wußten. Für Halg und Karroly waren die zauberhaften Klänge wie eine Offenbarung und Dick und Sand fehlten bei keiner Produktion und liefen aufs andere Ufer hinüber, sobald die Violine sich hören ließ.

Dick allerdings suchte nur nach einer neuen Gelegenheit zur Unterhaltung. Er hüpfte und tanzte, bis ihm der Atem ausging, indem er wenig und keine Rücksicht auf den Takt nahm. Anders Sand. Wie bei den früheren Vorstellungen war er in der vordersten Reihe zu erblicken, mit großen Augen und offenem Munde, zitternd vor Bewegung; er lauschte voll Aufmerksamkeit, verlor keinen Ton vom ersten bis zum letzten, der leise verhallend erstarb.

Seine andächtige Haltung fiel schließlich dem Kaw-djer auf.

»Du hörst wohl gerne Musik, mein Junge, fragte er ihn einmal.

– O... Herr!« seufzte Sand.

Und ganz begeistert fügte er hinzu:

»Wenn ich auch so spielen... spielen könnte... wie Herr Groß!...

– Wirklich, sagte der Kaw-djer, dem die Begeisterung des Knaben gefiel, würde dir das Freude bereiten? Das ließe sich ja vielleicht machen!«

Sand schaute ihn ungläubig an.

»Warum nicht? sagte der Kaw-djer; bei nächster Gelegenheit lasse ich dir eine Geige kommen!

– Wahrhaftig, Herr?... fragte Sand mit glückstrahlenden Augen.

– Ich verspreche es dir, mein Kind, sagte der Kaw-djer, bis dahin mußt du aber Geduld haben.«

Ohne in der Vorliebe für Musik so weit zu gehen wie der kleine Schiffsjunge, hatten doch die anderen Emigranten Gefallen an diesen zufälligen Konzerten. Es war eine Zerstreuung, die die Monotonie ihres Lebens angenehm unterbrach.

Der unleugbare Erfolg Fritz Groß' inspirierte Ferdinand Beauval mit einer neuen Idee. Regelmäßig zweimal in der Woche sollte dem Musiker eine Ration Alkohol verabfolgt werden – was in der Folge geschah –[221] und somit hatte Liberia zweimal in der Woche ihr Konzert – wie andere zivilisierte Städte.

Die Taufe der Hauptstadt und die Organisation der Vergnügungen erschöpften Ferdinand Beauvals Kräfte. Außerdem neigte er zur Selbstbewunderung, jetzt besonders, da alle zufrieden schienen. Klassische Erinnerungen wurden in ihm wach. »Panem et circenses« forderten die Römer. Hatte er, Beauval, nicht nach antikem Vorbild gehandelt? Das Brot hatte der »Ribardo« gebracht und die zukünftigen Ernten würden das weitere schaffen. Die Unterhaltungen waren die Produktionen Fritz Groß', wenn man nicht dieses fortgesetzte »Far niente« zu den Unterhaltungen rechnen wollte, in dem die Mitglieder der Kolonie lebten, welche das Glück hatten, unter der unmittelbaren Autorität des Gouverneurs zu stehen.

Februar und März gingen vorüber, ohne daß seine optimistischen Anschauungen getrübt wurden. Der Friede Liberias wurde zwar manchmal durch Wortwechsel und Streitereien getrübt, aber das waren Vorfälle ohne Bedeutung, zu denen Beauval die Augen schloß – was ihm ein geschicktes politisches Vorgehen dünkte.

Leider machten die letzten Märztage der glücklichen Zeit ein Ende. Der erste Vorfall, der seine Ruhe störte, war bedeutungslos und nur das Vorspiel zu den dramatischen Peripetien, die noch folgen sollten. Es handelte sich zunächst nur um einen leichten Wortwechsel, der aber, nach seinem Charakter und seinen Folgen zu urteilen, nicht angetan schien, eine friedliche Lösung zu finden; er erachtete es sogar für nötig, aus seiner bescheidenen Verborgenheit herauszutreten. Er tat nicht wohl daran und sein Dazwischentreten hatte Folgen, die er nicht voraussah.

Haig war der Held dieses Ereignisses.

Nach dem ungleichen Kampf, den er mit Sirk und seinen vier Genossen zu bestehen hatte, waren mehrere Wochen verstrichen, ohne daß er seinen Gegner gesehen hätte.

Seine ehemaligen Angreifer hatten – wahrscheinlich aus Furcht vor dem Einmengen des Kaw-djer – seither den Indianern keine Fische mehr abgebettelt. Übrigens war durch die Ankunft des »Ribardo« die Lebensmittelfrage gelöst worden. Jetzt kam es auf einige Fische mehr oder weniger nicht an. Jetzt hatte man Vorräte in Hülle und Fülle, die vorläufig unerschöpflich erschienen.[222]

Aber die Ladung des »Ribardo« bestand nicht ausschließlich aus Eßwaren, das Schiff brachte auch Alkohol, und Beauval war unvorsichtig genug gewesen, das gefährliche Getränk zu verteilen und damit hatte er Verwirrung im Lager gestiftet.

Besonders bei Ceroni sah es schlimm aus. Die abscheulichen Auftritte, welche die stete Trunkenheit Lazares zur Folge hatte, verstärkten die Gefühle des Hasses, die Halg und Sirk beseelten. Während sich der eine zum Beschützer Tullias und ihrer Tochter aufwarf, schmeichelte Sirk dem Laster des elenden Gatten und verachtungswürdigen Vaters. Das Benehmen Sirks erfüllte den jungen Indianer mit stillem Ingrimm, er konnte seinem Rivalen die Tränen nicht verzeihen, die er Graziella vergießen sah.

Der verteilte Alkohol war vertilgt, aber die Ruhe kehrte nicht wieder.

Dank seiner Intimität mit Ferdinand Beauval gelang es Sirk, die Methode Pattersons nachzuahmen. Er versorgte Lazare mit neuen Vorräten und hoffte, sich so seine Zuneigung zu erwerben.

Das Vorgehen, das ein erstes Mal Erfolg gehabt, mißglückte auch ein zweites Mal nicht. Der Trunkenbold nahm offen Partei für seinen Freund, welcher seiner entwürdigenden Leidenschaft schmeichelte, und erklärte sich zu seinem Verbündeten. Bald nannte er Sirk nur »Schwiegersohn« und schwur hoch und teuer, er werde Graziella schon zu zwingen wissen.

Das junge Mädchen verschwieg Halg die Kämpfe, die es zu erdulden hatte, aber dieser erriet viel, verstand Sirks Absichten und haßte ihn mit jedem Tage gründlicher.

So standen die Sachen, als am Morgen des 29. März Halg, welcher gerade über die Brücke zum rechten Ufer schritt, auf zweihundert Schritte Entfernung Graziella erblickte, welche mit gelösten Haaren aus Leibeskräften lief, als gälte es, einer drohenden Gefahr zu entfliehen.

Sie war wirklich auf der Flucht begriffen und die Gefahr war – Sirk, der, nur fünfzig Schritte von ihr entfernt, sie mit der Schnelligkeit seiner langen Beine verfolgte.

»Halg... Halg... hilf mir!« schrie Graziella, als sie den jungen Indianer erblickte. Dieser stürzte vor und versperrte ihrem Verfolger den Weg.

Aber Sirk verachtete den schmächtigen Gegner. Nach einem kurzen Halt nahm er die Verfolgung wieder auf und eilte, laut lachend, mit gesenktem Kopfe vorwärts.[223]

Das Folgende sollte ihm eine Lehre für seinen Eigendünkel sein! Wenn Halg jung war, so verdankte er dem freien Leben in der Wildnis stählerne Muskeln und eine affenartige Geschwindigkeit. Als ihm der Feind auf Griffweite nahe gekommen war, schlug er ihm beide Fäuste ins Gesicht und auf die Brust, daß dieser, wie erschlagen, zu Boden stürzte.

Die jungen Leute zogen sich, von den Verwünschungen des Besiegten verfolgt, aufs andere Ufer zurück. Sirk, welcher nur schwerfällig atmete, stieß fürchterliche Drohungen aus.

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen gingen Halg und Graziella geradewegs zum Kaw-djer, welchen das junge Mädchen um Schutz anflehte. Das Weiterleben am anderen Ufer war ihr unmöglich. Sie hatte lange das Elend totgeschwiegen, aber jetzt hatten ihre Leiden den Höhepunkt erreicht und es war besser, sie sagte alles. Diesen Morgen war Sirk in seiner Roheit so weit gegangen, daß er sie mißhandelt, geschlagen hatte. Tullias Dazwischentreten war ganz erfolglos geblieben, während Lazare Ceroni – das Scheusal – den Übeltäter noch ermuntert und ihm Beifall gezollt hatte. Endlich war es Graziella gelungen, aus dem Zelte zu springen, aber wer weiß, wie das Ende vom Liede gewesen wäre, hätte nicht Halg sie errettet.

Der Kaw-djer hatte den Bericht mit seiner gewöhnlichen ruhigen Miene angehört.

»Und was wollen Sie jetzt tun, mein Kind, fragte er.

– Bei Ihnen bleiben... rief Graziella; ich beschwöre Sie, verweigern Sie mir Ihren Schutz nicht.

– Der ist Ihnen sicher, sagte der Kaw-djer. Was das Hierbleiben anbelangt, so ist das Ihre Sache, Sie müssen entscheiden, jeder ist frei, mit sich zu machen, was er will. Ich werde mir höchstens erlauben, Ihnen einen Rat bezüglich der Wahl Ihrer künftigen Wohnung zu geben. Bitten Sie die Familie Rhodes um Gastfreundschaft, sie wird Ihnen auf meine Bitte hin sicher freudigst gewährt.

Dieser weise Entschluß traf nirgends auf Widerstand. Die Flüchtende wurde mit offenen Armen von der Familie Rhodes empfangen und besonders freudig von Clary begrüßt, welche glücklich war, eine Altersgenossin zu bekommen.

Nur eine Sorge quälte Graziella. Was wurde aus ihrer Mutter, welche sie in dieser Hölle zurückgelassen hatte. Der Kaw-djer beruhigte sie. Er[224] wollte selbst hinübergehen und Tullia bewegen, zu ihrer Tochter zu ziehen.

Es sei gleich hier bemerkt, daß diese Mission nicht nach seinem Wunsche ausfiel. Tullia bestand eigensinnig darauf, bei ihrem Gatten zu bleiben, billigte aber die Flucht Graziellas und war glücklich, sie bei einer ehrenwerten Familie so gut aufgehoben zu wissen. Ihrer Lebensaufgabe aber wollte sie bis zum letzten Augenblicke treu bleiben. Und diese Aufgabe bestand darin, ihren Mann, der jetzt als formlose Masse nach dem ersten Rausch des Tages, seiner Sinne beraubt, auf der Erde lag, auf seinem Lebensweg zu begleiten, nicht zu verlassen, wenn sie auch darunter leiden, selbst sterben sollte!

Als der Kaw-djer diese Antwort, die er vorausgesehen hatte, Graziella überbrachte, traf er Ferdinand Beauval an, welcher mit Harry Rhodes einen Wortwechsel hatte, der ernst zu werden schien.

»Was gibt es denn, fragte der Kaw-djer.

– Nichts anderes, sagte Harry Rhodes erregt, als daß der Herr hier sich erlaubt hat, Graziella zurückzuverlangen; er will sie ihrem liebenswürdigen Vater wieder zuführen.

– Seit wann nimmt Herr Beauval so regen Anteil an den Familienverhältnissen der Familie Ceroni, fragte der Kaw-djer mit einer Stimme, in der der verhaltene Unmut zitterte.

– Alle Vorgänge auf der Kolonie erregen das Interesse des Gouverneurs, erklärte Beauval, indem er sich Mühe gab, durch Würde in Haltung und Rede seiner hohen Stellung gerecht zu werden.

– Nun, und der Gouverneur?...

– Bin ich!...

– Ach so! machte der Kaw-djer.

– Es ist mir eine Klage zugegangen, begann Beauval, welcher die ironische Bemerkung des Kaw-djer nicht zu verstehen schien.

– Durch Sirk natürlich, sagte Halg, welcher die freundschaftlichen Beziehungen der beiden kannte.

– Nein, berichtigte Beauval. Durch den Vater, durch Lazare Ceroni selbst.

– So, sagte der Kaw-djer; spricht denn Lazare Ceroni im Schlafe? Denn ich weiß bestimmt, daß er jetzt schläft und schnarcht.[225]

– Ihr Spott macht das Verbrechen nicht ungeschehen, das auf dem Boden der Kolonie verübt worden ist, sagte Beauval in barschem Tone.

– Ein Verbrechen?... Wo sehen Sie denn eines?

– Ich wiederhole, ein Verbrechen! Ein junges, noch unmündiges Mädchen ist seiner Familie entrissen worden. Dieses Vorgehen wird in den Gesetzen aller zivilisierten Länder als Verbrechen bezeichnet.

– Seit wann gibt es denn Gesetze auf der Insel Hoste? fragte der Kaw-djer, dessen Augen bei dem Worte »Gesetz« unheilverkündende Blitze schossen; von wem gehen denn diese Gesetze aus?

– Von mir, antwortete Beauval mit hoheitsvoller Miene; von mir, der ich im Namen sämtlicher Kolonisten hier stehe und als deren Repräsentant ich ein Anrecht auf den Gehorsam aller habe.

– Was sagten Sie? rief der Kaw-djer; sprachen Sie nicht von Gehorsam?... Wohlan, denn, so hören Sie auch meine Antwort. Die Insel Hoste ist ein freies Land, wo niemand dem anderen zu gehorchen hat. Graziella ist freiwillig hierher gekommen und wird hier bleiben, wenn sie will...

– Aber, versuchte Beauval einzuwerfen.

– Da gibt es kein »Aber«; wer sich untersteht, vor mir von Gehorsam zu sprechen, hat mich zum Gegner.

– Nun, wir werden ja sehen, sagte Beauval; dem Gesetze muß Achtung verschafft werden – und sollte ich zur Gewalt greifen müssen.

– Zur Gewalt? rief der Kaw-djer. Versuchen Sie es doch! Vorläufig rate ich Ihnen, meine Geduld nicht länger auf die Probe zu stellen, sondern sich in Ihre Hauptstadt zurückzuziehen, wenn Sie nicht dahin zurückgeführt werden wollen.«

Der Anblick des Kaw-djer war nicht sehr beruhigend, so daß es Beauval für klüger hielt, nicht weiter auf seiner Forderung zu bestehen. Er zog sich zurück, auf zwanzig Schritte Entfernung von dem Kaw-djer, Harry Rhodes, Hartlepool und Karroly gefolgt.

Als er sich am anderen Flußufer sicher fühlte, drehte er sich um und drohte:

»Wir werden uns schon wiedersehen!«

So wenig furchterregend der Zorn Beauvals war, mußte man ihm doch einigermaßen Rechnung tragen. Gekränkte Eigenliebe kann den feigsten[226] Menschen mutig machen, und es war nicht unmöglich, daß er mit Hilfe seiner sauberen Genossen einen Handstreich plane, die finstere Nacht als Bundesgenossin benützend.

Glücklicherweise war dem leicht vorzubeugen. Als sich Beauval nach weiteren hundert Schritten abermals umdrehte, sah er, wie Hartlepool die Brücke abbrach, welche die beiden Ufer verband. Die gesamte kleine Flottille war in einer Bucht bei Neudorf verankert und somit war alle Verbindung mit Liberia abgebrochen und eine nächtliche Überraschung vereitelt.

Als er die Absicht seiner Widersacher verstand, ballte Beauval grimmig die Fäuste.

Der Kaw-djer zuckte gleichmütig die Achseln; langsam fiel eines der Bretter der Brücke nach dem anderen, bald standen nur mehr die Bohlen, die als Pfeiler gedient hatten, an denen sich die Wellen brachen, die jetzt die Scheidewand zwischen den beiden feindlichen Lagern bildeten.

So hatte sich wieder einmal gezeigt, wie sehr zum Kampfe geneigt die menschliche Natur ist. Diese Bewohner zweier am Ende der Welt versteckten Dörfer hatten bewiesen, daß sie ebensolche Menschen waren wie die Bürger großer Reiche: auch sie hatten die Möglichkeit eines Krieges angenommen, ja als einzigen Ausweg angesehen, hatten – ganz wie es in zivilisierten Staaten gebräuchlich ist – alle diplomatischen Beziehungen abgebrochen – sie verdienten den Namen »Menschen«.

Quelle:
Jules Verne: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCV–XCVII, Wien, Pest, Leipzig 1910, S. 207-217,219-227.
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