Viertes Kapitel.
Schlimme Nachbarschaft.

[51] Die Stadt Vancouver liegt nicht auf der eigentlichen Insel dieses Namens, sondern erhebt sich auf einer Landzunge, die vom kolumbischen Ufer hinausragt, und bildet nur eine Art Provinzhauptstadt. Der Regierungssitz von Britisch-Kolumbien, das sechzehntausend Einwohner zählende Victoria, ist auf der Südostküste der Insel erbaut, wo sich auch noch New-Westminster, jetzt eine Stadt von zehntausend Einwohnern, findet.

Vancouver liegt weit draußen an einer offnen Reede, die sich an die in vielen Biegungen nach Nordwesten verlaufende Juan de la Fucastraße anschließt. Im Hintergrunde der Reede ragt der Glockenturm einer Kapelle empor, umgeben von einem Gehölz von Fichten und Zedern, die stellenweise so groß sind, daß sie selbst hohe Türme einer Kathedrale verdecken könnten.

Die Meerenge (die genannte Straße) bespült erst den südlichen Teil der Insel und folgt dann deren östlichem und nördlichem Ufer. Infolgedessen ist der Hafen von Vancouver den aus dem Stillen Ozean ankommenden Schiffen leicht zugänglich, gleichviel ob diese längs des kanadischen Ufers herunter- oder längs der Küste der Vereinigten Staaten von Amerika heraufgesegelt waren.

Die Gründer der Stadt Vancouver scheinen deren Zukunft schon vorausgesehen zu haben. Ohne Zweifel würde sie selbst hunderttausend Bewohnern Raum bieten und die könnten noch in der letzten ihrer sich rechtwinklig schneidenden Straßen bequem verkehren. Die Stadt hat Kirchen, Bankhäuser, Hotels, hat Gas- und elektrische Beleuchtung, geräumige, über die seichte Mündung der False-Bay führende Brücken und auf der nordwestlichen Halbinsel eine schöne, dreihundertachtzig Hektar bedeckende Parkanlage.

Als Summy Skim und Ben Raddle den Bahnhof verlassen hatten, ließen sie sich nach dem Westminster-Hotel führen, wo sie bis zur Abreise nach Klondike wohnen wollten.

Nur mit einiger Schwierigkeit gelang es ihnen, in dem mit Reisenden überfüllten Gasthaus Unterkommen zu finden. Die Züge und Dampfschiffe brachten[51] gegenwärtig binnen vierundzwanzig Stunden zu viele »Auswandrer«, zuweilen bis zwölfhundert, hierher. Der Stadt erwuchs daraus natürlich ein großer Nutzen, besonders der Klasse von Leuten, die sich mit der Beherbergung von Fremden befaßten und diese für unglaubliche Preise mit fast noch mehr unglaublicher Beköstigung abspeisten. Die flottierende Bevölkerung hielt sich deshalb auch nur so kurze Zeit wie möglich in Vancouvers Mauern auf, denn alle diese Abenteurer drängte es, nach den Gebieten zu gelangen, deren Goldreichtum sie anzog wie der Magnet das Eisen. Freilich mußte man auch abreisen können und sehr häufig fehlte es da an Platz auf den zahlreichen Dampfern, die auf dem Wege nach Norden hier erst eintrafen, nachdem sie schon verschiedne Hafenorte Mexikos und der Vereinigten Staaten angelaufen hatten.

Zwei Wege führten von Vancouver nach Klondike. Der eine auf dem Stillen Ozean nach Saint-Michel, wo an der Westküste Alaskas der Yukon mündet, und dann diesen Strom hinauf nach Dawson-City. Der andre, von Vancouver bis Skagway ebenfalls Seeweg, verläuft dann über Land von dieser Stadt bis zum Hauptorte von Klondike. Einen von beiden sollte nun Ben Raddle wählen.

Sobald die beiden Vettern ihr Zimmer in Beschlag genommen hatten, lautete Summy Skims allererste Frage:

»Wie lange werden wir uns denn in Vancouver aufhalten, lieber Ben?

– O, nur einige Tage, antwortete Ben Raddle. Ich denke, es wird keiner längern Zeit bedürfen, bis wir den »Foot-Ball« zu sehen bekommen.

– Was schert mich der »Foot-Ball« (wörtlich Fußball, nämlich -spiel)? erwiderte Summy Skim. Was geht uns der »Foot-Ball« an?

– Oho, das ist ein auf dem Ozean verkehrender Dampfer, der uns nach Skagway bringen soll und auf dem ich noch heute zwei Plätze für uns belegen werde.

– Du hast also deine Wahl zwischen den verschiednen Wegen nach Klondike schon getroffen?


Vancouver - Gesamtansicht.
Vancouver - Gesamtansicht.

– Da war nicht viel zu wählen, Summy. Wir nehmen den Weg, den die meisten einschlagen, und kommen da, nach einer durch vorgelagerte Inseln geschützten Seefahrt, ohne Beschwerden nach Skagway. Zur jetzigen Jahreszeit ist der Yukon noch zugefroren, und wenn Tauwetter eintritt, gehen auf ihm nicht so selten Schiffe zugrunde oder erleiden bestenfalls eine Verspätung bis zum Juli. Der »Foot-Ball« dagegen wird bis Skagway, vielleicht sogar bisDyea, nicht mehr als eine Woche brauchen. Ans Land gekommen, müssen wir zwar die unwirtlichen Abhänge des Chilkoot und des White-Paß überschreiten, dann aber gelangen wir, zur Hälfte über Land und zur Hälfte über Seen hin. mühelos an den Yukon, der uns vollends nach Dawson City trägt. Meiner Schätzung nach werden wir vor dem Juni, das heißt mit Beginn der schönen Jahreszeit, am Ziele sein. Vorläufig heißt es jedoch sich gedulden und das Eintreffen des »Foot-Ball« abwarten.

– Woher kommt er denn, dein Dampfer mit dem sportlichen Namen? fragte Summy Skim.

– Eben von Skagway, denn er vermittelt eine regelmäßige Verbindung zwischen dieser Stadt und Vancouver. Man erwartet ihn spätestens am vierzehnten dieses Monats.

– Ach, erst am vierzehnten! rief Summy!

– Ei, ei, sagte Ben Raddle lachend, hast es wohl noch viel eiliger als ich?

– Ja gewiß, bestätigte Summy, denn um zurückkehren zu können, muß man doch stets erst einmal abgereist sein!«

Während ihres Aufenthaltes in Vancouver waren die beiden Vettern durch nichts Besonderes in Anspruch genommen. Ihre Ausrüstung bedurfte keiner Vervollständigung. Auch die nötigen Hilfsmittel zur Bearbeitung eines Claims brauchten sie sich nicht zu beschaffen, die fanden sie an Ort und Stelle als Nachlaß des Onkels Josias. Alle Bequemlichkeiten, die ihnen der Schnellzug der Transkontinental-Pacificbahn geboten hatte, hofften sie an Bord des »Foot-Ball« wiederzufinden. Erst in Skagway würde es Ben Raddle obliegen, sich um die weitern Beförderungsmittel nach Dawson City zu bekümmern. Dort mußte zur Fahrt über die Seen ein Boot – aber ein zerlegbares – beschafft werden, ebenso ein Hundegespann für die Schlitten, die einzigen brauchbaren Transportmittel über die vereisten Ebenen des hohen Nordens, wenn sie es nicht vorzogen, mit einem Reiseunternehmer zu verhandeln, der sich gegen angemessene Gebühr verpflichtete, sie nach Dawson City zu befördern. In beiden Fällen wurde die letzte Fahrtstrecke ziemlich kostspielig... sollten aber nicht ein Paar Pepiten (Goldklümpchen) hinreichen, diese Ausgaben und auch noch etwas darüber zu decken?

In der Stadt herrschte übrigens ein so lebhaftes Treiben und Reisende strömten hier in solcher Menge zu, daß die beiden Vettern, trotz ihres Mangels[55] an Beschäftigung, keine Langeweile verspürten. Es war geradezu merkwürdig, die Ankunft der Bahnzüge zu beobachten, gleichgültig ob sie aus der Dominion oder den Vereinigten Staaten kamen... ebenso interessant, der Ausschiffung der tausende von Passagieren zuzusehen, die die Dampfer ununterbrochen in Vane ouver ans Land setzten. Welche Unmassen von Menschen irrten hier, wo sie auf die Weiterreise nach Skagway warteten, durch die Straßen, freilich meist Leute, die sich gezwungen sahen, in allen Winkeln des Hafens oder unter den Bohlen der vom elektrischen Lichte überfluteten Kais ein Unterkommen zu suchen.

Der Polizei fehlte es inmitten der sich drängenden Menge, der es fast an allem mangelte und die sich nur durch eine Art wunderbarer Luftspiegelung von Klondike hatte heranlocken lassen, nicht an Beschäftigung. Auf Schritt und Tritt begegnete man den Hütern der öffentlichen Ordnung in ihrer braungelben Uniform, immer bereit, bei den unaufhörlichen Streitigkeiten einzugreifen, die meist mit Blutvergießen zu enden drohten.

Die Konstabler entledigten sich auch in rühmenswerter Weise ihrer oft gefährlichen, immer wenigstens schwierigen Aufgabe mit allem Eifer und dem Mute, der erforderlich war gegenüber dieser Welt von Auswandrern, in der alle sozialen Klassen – vor allem aber die unzähligen Deklassierten – rauh aneinanderstießen. Kam es den braven Männern denn gar nicht in den Sinn, daß es für sie einträglicher und daneben gefahrloser gewesen wäre, den Schlamm der Zuflüsse des Yukon auszuwaschen? Gedachten sie gar nicht mehr der fünf kanadischen Konstabler, die, fast zu Anfang der Ausbeutung Klondikes, mit zweihundert tausend Dollars in der Tasche von dort zurückgekehrt waren? Achtung vor ihrer Seelenstärke, daß sie sich nicht, wie so viele andre, hatten vom Pfade der Pflicht abdrängen lassen!

Aus der Tageszeitung erfuhr Summy Skim, daß in Klondike die Lufttemperatur im Winter nicht selten bis sechzig Grad Celsius herabsänke. Glauben konnte er das anfänglich nicht; bedenklicher machte es ihn aber doch, als er im Schaufenster eines Optikers in Vancouver mehrere Thermometer sah, deren Skala sogar bis neunzig Grad unter den Gefrierpunkt reichte. »Ach was, sagte er für sich zur Beruhigung, die Klondiker prahlen mit ihrer außerordentlichen Kälte, andre Leute sollen nur darüber staunen lernen!« Immerhin machte die Sache Summy Skim einige Sorge und schließlich drängte es ihn unwillkürlich, die Schwelle des Ladens zu überschreiten, um die schreckeinjagenden Thermometer genauer zu besichtigen.[56]

Die verschiednen Modelle, die der Händler ihm vorlegte, waren alle nicht nach der im Vereinigten Königreiche angenommenen Fahrenheitschen Skala, sondern nach der hundertteiligen, nach Celsius, eingeteilt, die in der Dominion – wo noch etwas von der Franzosenzeit nachwirkte – allgemein eingeführt war.


Equipierungsmagazin der Prospektolen.
Equipierungsmagazin der Prospektolen.

Zum eignen Leidwesen mußte Summy Skim sich dabei überzeugen, daß er sich vorher nicht getäuscht hatte. Die Thermometer waren tatsächlich alle für so unglaublich niedrige Temperaturen eingerichtet.

»Sind denn diese Thermometer auch mit der nötigen Sorgfalt hergestellt? fragte Summy Skim, nur um etwas zu sagen.

– Gewiß, mein Herr, versicherte der Optiker. Sie werden nichts daran auszusetzen finden.

– Auch nicht an einem Tage, wo sie sechzig Grad unter Null anzeigen? fuhr Summy Skim ernsthaft fort.

– Nein, erwiderte der Händler, das Wichtigste ist es doch, daß sie immer richtig zeigen.

– Ja freilich, darauf kommt es vor allem an. Doch gestehen Sie mir's nur, werter Herr, es ist wohl nur eine Art Reklame, daß Sie solche Wärmemesser im Schaufenster ausstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß in Wirklichkeit...

– O doch... doch!

– die Quecksilbersäule bis auf sechzig Grad unter Null sänke.1

– Das kommt ziemlich häufig vor, mein Herr, belehrte ihn der Händler eifrig, ja, ziemlich häufig; zuweilen sinkt sie noch weiter.

– Noch weiter!

– Warum nicht? meinte der Kaufmann, der das mit einer gewissen Selbstbefriedigung einwarf. Wünschen Sie vielleicht aber ein Instrument, das bis hundert Grad unter den Gefrierpunkt hinabreicht...

– Nein nein, ich danke bestens, unterbrach ihn Summy Skim erschrocken. Sechzig Grad erscheinen mir schon mehr als genug!«

Wozu hätte ein solcher Einkauf auch dienen sollen? Wenn die Augen durch den schneidenden Nordwind unter den Lidern wie verbrannt sind, wenn die ausgeatmete Luft in der Form von Schneeflocken niedersinkt, das halb vereiste Blut[59] in den Adern zu erstarren droht, wenn man keinen metallenen Gegenstand berühren kann, ohne die Haut der Finger darauf zurückzulassen, und wenn man selbst noch vor dem loderndsten Feuer friert, als hätten die Flammen ihre Wärme verloren, da hat's doch wahrlich kein Interesse mehr, zu wissen, ob die Kälte, die einen tötet, sechzig oder hundert Grad erreicht hat.

Inzwischen verflossen die Tage und bei Ben Raddle machte sich einige Ungeduld bemerkbar. Sollte der »Foot-Ball« auf dem Meere eine Verzögerung erfahren haben? Es war bekannt, daß er Skagway am 7. April verlassen hatte. Die Fahrt hierher beanspruchte aber nur sechs Tage und er hätte am 13. vor Vancouver in Sicht sein sollen.

Der zum Transporte der Auswandrer und ihres Gepäcks, mit Ausschluß jedes Frachtgutes, bestimmte Dampfer hielt sich ja hier nur sehr kurze Zeit auf. Vierundzwanzig, höchstens sechsunddreißig Stunden genügten für die Reinigung der Kessel, zur Einnahme von Kohlen und Trinkwasser und daneben für die Einschiffung einiger hundert Passagiere, die sich ihre Plätze schon vorher gesichert hatten.

Alle, die das zu tun versäumt hatten, mußten einfach auf andre Dampfschiffe warten, die erst nach dem »Foot-Ball« eintrafen, und da die Hotels und die Gasthäuser Vancouvers zur Aufnahme einer solchen Menschenmenge nicht ausreichten, sahen sich oft ganze Familien genötigt, unter freiem Himmel zu nächtigen.

Und doch: was waren die jetzigen Unbilden gegen die, die ihrer in der Zukunft harrten!

Die meisten dieser armen Leute fanden ja auch kaum mehr Behaglichkeit auf den Dampfbooten, die sie von Vancouver nach Skagway bringen sollten, wo dann für sie die fast endlose, schreckliche Reise begann, die sie endlich nach Dawson City führte. Die Kabinen des Vorder- und Hinterdecks entsprechen schon kaum den Anforderungen der vermögenden Passagiere, das Zwischendeck aber nimmt die Familien auf, die sich darin für sechs bis sieben Reisetage zusammenpferchen und obendrein für alle ihre Bedürfnisse selbst sorgen müssen. Die Mehrzahl solcher schickt sich außerdem darein, im Frachtraume gleich Tieren oder Gepäckstücken fast eingesperrt zu sein, und tatsächlich ist das immer noch besser, als etwa auf dem Verdeck alle Witterungsunbill, jeden eisigen Windstoß oder die in den dem Polarkreise so nahe liegenden Gegenden so häufigen Schneestürme aushalten zu müssen.[60]

Vancouver war übrigens nicht allein von den aus allen Teilen der Alten und der Neuen Welt herzuströmenden Auswandrern überfüllt, es kamen dazu viel mehr noch hunderte von Goldgräbern, die es vorgezogen hatten, für die schlechte Jahreszeit der Eiswüste um Dawson City zu entfliehen.

Im Winter ist ja jede weitere Ausbeutung der Claims unmöglich; alle Arbeiten werden endgültig unterbrochen, wenn zehn bis zwölf Fuß hoher Schnee den Erdboden bedeckt, wenn auf den dicken Bodenschichten, die bei vierzig bis fünfzig Grad Kälte granithart geworden sind, Spitzhaue und Axt wie Glas zersplittern. Deshalb ziehen es die Prospektoren, die es irgend können, die, denen das Glück nur einigermaßen gelächelt hatte, immer vor, zeitweise nach den bedeutenderen Städten Kolumbiens zurückzukehren. Diese Flüchtlinge haben Gold auszugeben und sie geben es auch in so sorgloser Verschwendung aus, daß man sich davon kaum eine Vorstellung machen kann. Sie trösten sich mit dem Gedanken, daß das Glück ihnen nicht untreu werden könne, daß die nächste Saison wieder ertragreich sein werde, daß neue Lagerstätten entdeckt werden und ihnen die Goldklümpchen haufenweise in die Hände fallen würden. Diese Leichtsinnigen bewohnen in den Hotels die besten Zimmer und nehmen auf den Dampfbooten die besten Kabinen in Anspruch.

Summy Skim hatte bald die Erfahrung gemacht, daß zu dieser Sorte von Goldsuchern die lärmendsten, prahlerischsten und gewalttätigsten Patrone gehörten, die vor keiner Ausschreitung in den verrufensten Schenken und in den Kasinos zurückschreckten, wo sie, die Hände voll Gold, die Herren spielten.

Im Grunde machte sich der brave Summy Skim über diese Rotte jedoch keinen besondern Kummer. In der – freilich vielleicht irrigen – Voraussetzung, daß er niemals mit einem dieser rohen Abenteurer etwas zu schaffen haben könne, hörte er nur mit halbem Ohre auf das, was sich die Leute über jene Burschen erzählten, und bald dachte er daran überhaupt gar nicht mehr.

Am Vormittage des 14. April lustwandelte er mit Ben Raddle auf dem Kai, als sich plötzlich die Heulpfeife eines Dampfers vernehmen ließ.

»Sollte das endlich der »Foot-Ball« sein? rief Summy.

– Das glaube ich nicht, antwortete Ben Raddle. Das Pfeifen tönt von Süden her, der »Foot-Ball« muß dagegen von Norden her kommen.«

Wirklich handelte es sich hier auch um einen Dampfer, der sich Vancouver auf dem Wege durch die Juan de la Fucastraße näherte und der also nicht von Skagway kommen konnte.[61]

Da Ben Raddle und Summy Skim eben nichts Besseres zu tun hatten, schlenderten sie durch eine dichte Menschenmenge, wie sie das Eintreffen eines Dampfschiffes immer herbeilockt, dem Ende der Hafenmole zu. Hier sollten sich mehrere hundert Passagiere ausschiffen, die alle annahmen, daß sie bald mit einem nach dem Norden abgehenden Dampfer weiterreisen könnten, ein Umstand, der immerhin ein interessantes Schauspiel zu bieten versprach.

Das Schiff, das seine Einfahrt durch ein ohrzerreißendes Pfeifen anmeldete, war der »Smyth«, ein Fahrzeug von zweitausendfünfhundert Tonnen, und hatte vom amerikanischen Acapulco aus alle Häfen der Küste angelaufen. Ausschließlich für den Küstendienst bestimmt, sollte es wieder nach dem Süden zu umkehren, sobald es in Vancouver seine Passagiere gelandet hatte, die die hier herrschende Überfüllung noch verschlimmern mußten.

Kaum lag der Landgang zwischen dem »Smyth« und der Mole, als sich seine lebende Fracht auch schon dem schmalen Ausgange zudrängte. In einem Augenblicke war der schrecklichste Wirrwarr fertig und Menschen und Gepäckstücke so zusammengeklemmt, daß keines davon aus dem Knäuel herauskommen zu können schien.

Das paßte aber offenbar nicht einem der Passagiere, der sich ganz wütend gebärdete, nur um als erster ans Land zu gelangen. Jedenfalls war das einer, der die Verhältnisse kannte und wußte, wie wichtig es war, sich im Bureau für die Fahrten nach Norden vor den andern einschreiben zu lassen. Es war ein großgewachsener, brutaler und kräftiger Bursche mit schwarzem, dichtem Barte, dem bräunlichen Teint der Südländer, mit starrem Blicke, schroffen Gesichtszügen und abstoßendem Auftreten. Ihn begleitete ein andrer Passagier, der äußern Erscheinung nach von derselben Nationalität, der ebenso ungeduldig und selbstsüchtig wie er zu sein schien.

Die andern Personen auf dem Schiffe hatten es wahrscheinlich nicht weniger eilig als er. Keiner konnte ihm jedoch zuvorkommen, diesem halb Besessenen, der, mit den Ellbogen fechtend, sich weder um die Zurufe der Schiffsoffiziere noch um die Befehle des Kapitäns kümmerte, sondern seine Nachbarn zurückstieß und sie mit einer rauhen Stimme insultierte, die das Verletzende seiner halb englisch und halb spanisch hervorgestoßenen Beleidigungen noch vermehrte.

»By God, rief Summy Skim, das wäre ja ein angenehmer Reisegefährte, wenn der Kerl an Bord des »Foot-Ball« Passage nähme...[62]

– Ei was da, es wäre ja doch nur für wenige Tage, bemerkte darauf Ben Raddle, und wir werden uns wohl von ihm und ihn von uns fernzuhalten wissen.«

Da rief gerade einer der müßigen Zuschauer dicht bei den beiden Vettern:

»Alle Teufel, das ist ja der verwünschte Hunter! Na, wenn der nicht noch heute aus Vancouver weiter zieht, wird's diesen Abend in den Schenken einen hübschen Spektakel geben!

– Da siehst du, Ben, raunte Summy seinem Vetter zu, ich hatte mich nicht getäuscht. Der wütende Bursche da ist hier schon eine Berühmtheit.

– Ja ja, stimmte ihm Ben zu, der scheint hier sehr bekannt zu sein...

– Und nicht zu seinem Vorteil!

– Ohne Zweifel, fuhr Ben Raddle fort, einer von den Abenteurern, die die schlechte Jahreszeit in Amerika zubringen und mit dem Eintritte günstigerer Witterung nach Klondike zurückkehren, um dort während einer neuen Kampagne nach Gold zu angeln.«

Hunter kam in der Tat aus Texas, seiner Heimat, und wenn sein Begleiter und er heute in Vancouver eintrafen, hatten sie die Absicht, ihre Fahrt nach Norden mit dem ersten dahingehenden Dampfschiffe fortzusetzen. Die beiden Burschen – spanisch-amerikanische Mestizen – fanden in der so gemischten Gesellschaft der Goldsucher gerade die Lebensverhältnisse, die ihren rohen Neigungen, ihren verlotterten Sitten, ihren brutalen Leidenschaften und ihrem Geschmack an einer ungeregelten, nur vom Zufall bestimmten Lebensweise am meisten zusagten.

Als Hunter gehört hatte, daß der »Foot-Ball« noch nicht eingetroffen wäre und vor Verlauf von sechsunddreißig oder achtundvierzig Stunden nicht wieder abfahren könnte, ließ er sich nach dem Westminster-Hotel führen, wo die beiden Vettern sechs Tage vorher abgestiegen waren. Als Summy in die Vorhalle des Hotels eintrat, stand er dem Ankömmling unerwartet Auge in Auge gegenüber.

»Na, das ist der beste Bursche sicherlich nicht,« murmelte er für sich hin.


Keiner konnte ihm jedoch zuvorkommen... (S. 62.)
Keiner konnte ihm jedoch zuvorkommen... (S. 62.)

Vergeblich war sein Bemühen, den unangenehmen Eindruck zu besiegen, den das Zusammentreffen mit dieser finstern Persönlichkeit auf ihn gemacht hatte. So viel er sich auch sagte, daß dieser Hunter und er inmitten des riesigen Gewimmels von Auswandrern schwerlich die Aussicht hätten, einander wieder vor Augen zu kommen, so verließ ihn dieser Gedanke doch nicht gänzlich. Fast[63] unbewußt und nur als triebe ihn eine dunkle Ahnung dazu an, wandte er sich zwei Stunden später an das Bureau des Hotels, um einige Aufklärung über den Neuangekommenen zu erhalten.

»Hunter? erhielt er auf seine erste Frage zur Antwort, wer sollte den nicht kennen.

– Ist er Besitzer eines Claims?

– Jawohl; eines Claims, den er selbst ausbeutet.

– Und wo liegt dieser Claim?[64]

– Natürlich in Klondike.

– Nein, ich meine, in welcher Gegend dort?

– Am Forty Miles River.

– Am Forty Miles River! wiederholte Summy verwundert. Das ist wahrhaftig merkwürdig!... Schade, daß ich die Nummer seines Claims wohl nicht erfahren kann. Ich möchte wetten...

– O, diese Nummer, fiel ihm der Hotelbeamte ins Wort, die kann Ihnen in Vancouver jeder Junge auf der Straße nennen.

– Nun... welche ist es denn?


An Bord drängten sich alle durcheinander.. (S. 68.)
An Bord drängten sich alle durcheinander.. (S. 68.)

– Nummer 131.

– Tod und Teufel! rief Summy ganz außer sich. Und wir haben die Nummer 129. Wir sind die Nachbarn dieses prächtigen Herrn. Na, das kann ja hübsch werden!«

Ja, etwas Bessres wußte Summy Skim nicht zu sagen.

Fußnoten

1 Das kann sie in der Tat auch nicht; der Autor hat hier übersehen, daß das Quecksilber schon zwischen 39 und 40° C erstarrt. (Anm. des Übers.)


Quelle:
Jules Verne: Der Goldvulkan. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIX–XC, Wien, Pest, Leipzig 1907, S. 67.
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