Fünftes Kapitel.

Auf dem Gipfel des Teyde.

[317] Etwa fünfzig Seemeilen trennen Las Palmas von Santa-Cruz. Die »Seamew«, die jetzt wieder ihre normale Geschwindigkeit von zwölfundeinemhalben Knoten entwickelte, legte diese Strecke binnen vier Stunden zurück. Gegen halb vier ankerte sie im Hafen von Teneriffa.

Zwischen dieser, an Bedeutung mit Las Palmas rivalisierenden Stadt und Europa findet eine häufige und leichte Verbindung statt. Zahlreiche Dampferlinien verbinden sie mit Liverpool, Hamburg, Havre, Marseille und Genua, ohne eine hier etablierte Gesellschaft zu zählen, die einen halbmonatlichen Verkehr zwischen den verschiednen Inseln des Archipels vermittelt.

Amphitheatralisch an einem Gürtel von Bergen gelegen, bietet Santa-Cruz einen bezaubernden Anblick und kann in dieser Beziehung den Vergleich mit Las Palmas aushalten.

Seine Schönheit genügte jedoch nicht, die Gleichgültigkeit der Passagiere zu überwinden. Im Verlaufe der Fahrt hatten sie nur flüchtige Blicke auf die großartige und wilde Küstenlandschaft mit ihren nackten Felsen geworfen, auf die die »Seamew« zusteuerte. Im Hafen begnügten sich die meisten von ihnen, das Land oberflächlich zu betrachten, damit war ihre Neugierde schon befriedigt.

Was kümmerte sie das gewiß prächtige Bild, das ihnen durch die Gewohnheit banal geworden war? Was die ohne Zweifel hübsche Stadt, die doch ebenso gewiß den schon besuchten wie ein Ei dem andern glich? Sie interessierten sich hier höchstens für den Pic von Teyde, der mehr unter dem Namen Pic von[317] Teneriffa bekannt ist, und dessen Besteigung das Programm als einen Glanzpunkt der großen Reise in Aussicht nahm. Das war wenigstens etwas Neues und Originelles! Schon die nahe Aussicht auf einen solchen Ausflug ließ die Aktien Thompsons merkbar steigen.

Die Touristen der »Seamew« wurden aber tatsächlich vom Unglück verfolgt. Der Pic, auf den sich während der Fahrt von Canaria nach Teneriffa ihre Blicke gerichtet hatten, blieb hartnäckig hinter einem Wolkenvorhang verborgen, der so dicht war, daß ihn auch die besten Fernrohre nicht durchdringen konnten. Jetzt war es, selbst wenn der Himmel sich aufheitern sollte, zu spät; die Küste versperrte allen die weitre Aussicht.

Die Reisegesellschaft ertrug dieses Ungemach immerhin mit philosophischer Ruhe. Es schien sogar, als hätte der Pic durch seine geheimnisvolle Verhüllung die schon gespannte Erwartung seiner Besieger nur noch mehr gereizt, und das Verlangen nach dieser Besteigung war so lebhaft, daß Thompson die meisten seiner Passagiere dazu überreden konnte, auf einen Spaziergang über das Pflaster von Santa-Cruz zu verzichten.

Das junge Ehepaar gehörte aber nicht zu jenen. Sobald der Anker in den Grund eingesunken war, hatte es sich mit der gewohnten Diskretion ans Land setzen lassen und war nach wenigen Augenblicken verschwunden, um erst zur Essenszeit zurückzukehren.

Ihre Gefährten wären ihnen doch wahrscheinlich gefolgt, wenn es Thompson, während er nochmals hervorhob, daß in der Hauptstadt von Teneriffa nichts Sehenswertes zu finden sei, nicht gewagt hätte, eine Wasserfahrt nach Orotava vorzuschlagen, das an der Nordküste gelegen ist und den Ausgangspunkt für die Besteigung bildet, statt sich dahin zu Lande zu begeben, wie das im Programm vorgesehen war. Auf diese Weise hoffte er einen kostspieligen Transport zu ersparen.

Zu seiner Überraschung fand dieser Vorschlag keinerlei Widerspruch, und da die Abfahrt der »Seamew« für den nächsten Morgen festgesetzt war, entschied sich die größere Zahl der Touristen dafür, gleich an Bord zu bleiben.

Einige praktische Reisende waren jedoch andrer Ansicht, und zwar immer dieselben, nämlich Alice Lindsay nebst ihrer Schwester, Roger de Sorgues, deren unzertrennlicher Begleiter, ferner Saunders, mit seinem drohenden Notizbuche, und Sir Hamilton mit seiner Familie, die einmal streng auf Ausführung des Programmes hielten... Diese alle ließen sich ausbooten, sowie die »Seamew«[318] still lag, um Orotava zu Lande zu erreichen. Jack Lindsay hatte es diesmal nicht für angezeigt gehalten, sich der Exkursion eines Bruchteils der Passagiere anzuschließen, und Morgan hatte es ebenfalls vorgezogen, an Bord zu bleiben. Roger de Sorgues paßte das jedoch nicht, und er wußte es bei Thompson durchzusetzen, daß ihm der Dolmetscher überlassen wurde, dessen Unterstützung, behauptete er, im Innern der Insel nicht zu entbehren wäre. Morgan trat also in die kleine dissentierende Partei ein, der leider die schönsten Zierden fehlten.

Doch konnte das anders sein? Konnte Mr. Absyrthus Blockhead durch die Insel ziehen und seine Bewunderung zu erkennen geben, wenn er jetzt seine zwanzig Stunden so fest schlief, als ob er gar nicht wieder erwachen sollte? Oder hätten wenigstens seine Töchter an seine Stelle treten können, wo diese auf ihrem Schmerzenslager immer mit der Vorsicht lagen, sich nicht auf den Rücken zu wenden?

Tigg machte sich diese beklagenswerten Verhältnisse schimpflich zunutze. Auch er verließ die »Seamew« und würde sich bei dem Wege über Land gewiß wenig von Miß Margaret trennen.

Auf dem Lande herrschte eine drückende Hitze. Morgan empfahl deshalb, noch denselben Abend in La Laguna, der alten Hauptstadt der Insel, zu übernachten. Dort, versicherte er, werde man eine erträgliche Temperatur finden und vor allem auch den Moskitos entgehen, die eine wahre Geißel von Santa-Cruz sind.

Die Touristen beschränkten sich also darauf, der Stadt eine kurze Visite abzustatten. Sie gingen durch die langen Straßen längs der meist mit hübschen Balkons versehenen und mit Malereien nach italienischer Sitte geschmückten Häuser hin. Sie kreuzten den schönen Konstimtionsplatz, in dessen Mitte sich ein Obelisk aus weißem Marmor erhebt, den die Bildsäulen vier alter Guanchen-Häuptlinge zu behüten schienen, und es schlug kaum fünf, als zwei bequeme Wagen die acht Touristen im Galopp ihrer Pferde hinwegführten.

In anderthalb Stunden waren sie schon in dem höchstens zehn Kilometer von der Hauptstadt entfernten La Laguna angelangt. La Laguna liegt auf einer Hochebene, fünfhundert Meter über dem Meere, und das sichert ihm eine angenehme Temperatur, ebenso wie infolgedessen Moskitos hier völlig unbekannt sind. Diese Vorzüge haben den Ort zu einer Villegiatur der Einwohner von Santa, Cruz gemacht, da hier unter großen Bäumen meist Europäer Erholung suchen.


Eine Straße in Santa-Cruz.
Eine Straße in Santa-Cruz.

Trotz dieser Annehmlichkeiten ist La Laguna aber doch eine dem Verfall zueilende Stadt. Man trifft wohl hier noch auf schöne Kirchen, ebenso aber auf viele in Ruinen liegende Gebäude. Zwischen dem Pflaster seiner Straßen sprießt überall Gras auf, das ebenso das Dach vieler Häuser bedeckt.

Es konnte natürlich nicht davon die Rede sein, sich in der todesstillen Stadt, wo die Traurigkeit anstec[319] kend zu sein scheint, irgendwie länger aufzuhalten.

Am nächsten Morgen verließen die Touristen schon diese entthronte Königin mit der Post, die zwischen La Laguna und Orotava täglich zweimal hin- und herfährt.


Ansicht von Santa-Cruz.
Ansicht von Santa-Cruz.

Bei dem schläfrigen Trab, in dem die fünf Kracken den Wagen, die »Coche«, fortschleppten, wurden vier Stunden nötig, die dreißig Kilometer zwischen La Laguna und Orotava zurückzulegen. Ohne daß einer der Reisenden sich gemüßigt sah, abzusteigen, fuhr die Gesellschaft durch Tacoronte hin, das ein Museum[320] hat, welches eine merkwürdige Sammlung von Guanchenmumlen, Waffen und Werkzeugen dieses untergegangenen Volkes enthält; weiterhin führt der Weg über Sanzal, das aus seinen Lavabrüchen reiche Einnahmen erzielt, über Mantaza, die »Tuerie«, deren Name an ein blutiges Gefecht erinnert, über die Victoria, den Schauplatz eines andern einstigen Kampfes, und endlich[321] über Santa-Ursala. Erst von letzterer Stadt aus lenkt die Straße in das Tal von Orotava ein, das ein berühmter Reisender, Alexander von Humboldt, für das schönste der ganzen Erde erklärt hat.

Tatsächlich dürfte es schwierig sein, sich ein noch harmonischeres Bild vorzustellen. Zur Rechten dehnt sich die Fläche des uferlosen Meeres aus, zur Linken liegt eine Anhäufung von wilden schwarzen Pics, den äußersten Vormauern des Vulkans – seine Söhne, in der malerischen Sprache des Landes – während der Vater, der Teyde selbst, sich dahinter in stolzer Majestät erhebt. Dazwischen dehnt sich, voll des üppigsten Grüns, das Tal von Orotava aus.

Je näher man herankam, desto mehr schien der Gipfel des Teyde am Horizont herunterzusinken, und er verschwand ganz, als zwischen den Bäumen die ersten Häuser der beiden Orotava, des einen, der Stadt, die fünf Kilometer vom Meere entfernt liegt, und des andern, des Hafens, dreihundertachtzig Meter unter jener, sichtbar wurden. Als dann die Coche bei der er sten ankam, hielt ein von Rauch umgebner Punkt an der andern an. Dieser Punkt war die »Seamew« mit ihrer Fracht von Passagieren.

Die Coche hatte vor einem recht einladend aussehenden Hotel angehalten, dem Hôtel des Hesperides, wie in Goldbuchstaben an seiner Front zu lesen war. Morgan, der zuerst vom Wagen gesprungen war, fühlte sich angenehm überrascht, sich in seiner Muttersprache begrüßt zu hören. Das Hôtel des Hesperides wurdenämlich von einem Franzosen bewirtschaftet, der sich nicht weniger erfreut darüber zeigte, unter den neuen Ankömmlingen zwei Landsleute zu entdecken. Wie eifrig war er da, alle zu bedienen! Wie sorgfältig hatte er für sie das Frühstück herrichten lassen! Die so lange an die Tafel der »Seamew« gewöhnten Touristen waren ganz außer sich vor Verwunderung. Noch einmal triumphierte hier die französische Küche.

Gleich nach dem Essen begab sich Morgan nach dem Hafen hinunter, um mit Thompson den Ausflug des folgenden Tages zu besprechen. Nachdem er von diesem die nötige Weisung erhalten hatte, kehrte er eiligst zurück und brachte zwei mit Decken und Paketen beladne Wagen mit.

Obgleich es erst Nachmittag vier Uhr war, blieb ihm nicht viel Zeit übrig, einen so bedeutenden Ausflug genügend vorzubereiten. Seine Aufgabe wurde ihm jedoch durch die bereitwillige Unterstützung des Inhabers der Hesperiden erleichtert, der mit allen örtlichen Hilfsquellen sehr vertraut war und ihm jede gewünschte Auskunft gab, so daß er nur dessen Anweisungen zu[322] folgen brauchte. Immerhin genügte der Tag dazu nicht, Morgan mußte noch den Abend zu Hilfe nehmen, so daß er nicht einmal zur Tafel erscheinen konnte.

Diese stand hinter dem Frühstück nicht zurück. Die Passagiere der »Seamew« fragten sich, ob sie wohl träumten, und sahen Thompson verstohlen und beunruhigt an. War der das wirklich? Oder hatte er nicht wenigstens den Verstand verloren? Noch ein weniges mehr, und alle hätten ihm wirklich aus Anerkennung laut zugejubelt.

Einen gab es aber dennoch, der die Waffen nicht strecken wollte.

»Da muß man wirklich glauben, daß die Heuschrecken nicht bis Teneriffa gekommen sind, bemerkte Saunders mit höhnender Stimme.

– O, die kommen niemals weiter als bis Gran Canaria,« antwortete der Hotelier, der ja den Hohn in diesen Worten nicht verstand und der es sich zum Vergnügen machte, die Gäste in eigner Person zu bedienen.

Saunders warf ihm einen wütenden Blick zu. Was brauchte er die geographische Belehrung des Mannes? Die Antwort, die Thompson in gewissem Maße als schuldlos hinstellte, verfehlte aber nicht ihre Wirkung! Mehr als ein Tourist sprach dem General-Unternehmer seinen Dank mit einem Blick aus, der auf den Wiederanfang eines bessern Einvernehmens schließen ließ.

Diese glücklichen Verhältnisse blieben in der Nacht dieselben. Gut ernährt, fanden alle auch ein gutes Lager, und das Morgenrot des 18. Juni traf die Touristen in bester Laune zum Aufbruche bereit.

Eine wirkliche Armee, Infanterie und Kavallerie, erwartete sie um sechs Uhr morgens.

Von fünfundsechzig hatte der Abgang mehrerer Deserteure im Hafen von La Luz der »Seamew« nur noch neunundfünfzig Passagiere, den Dolmetscher-Cicerone und den General-Unternehmer inbegriffen, übriggelassen. Weiter aber war deren Zahl infolge besonderer Umstände jetzt von neunundfünfzig auf einundfünfzig zurückgegangen.

Bei drei dieser Dissidenten kannte man ja die Gründe dazu schon längst. Da war zunächst das junge Ehepaar, das, wie gewöhnlich, auch hier gleich nach der Ankunft in Santa-Cruz verschwand und jedenfalls nicht vor der Weiterfahrt wieder erscheinen würde. Der Dritte war Johnson, den wohl immer noch die Furcht vor den Erdbeben und Überschwemmungen an Bord der »Seamew« zurückhielt. Das hätte freilich niemand behaupten können, da Johnson es vermieden hatte, sich weiter über seine namenlose Furcht auszusprechen,[323] wenn er überhaupt einen triftigen Grund dafür angeben konnte. Er war eben einfach an Bord geblieben. Vielleicht wußte er gar nicht, daß die »Seamew« vor Anker lag. Auf dem Meere, im Hafen und auf dem Lande... für ihn herrschte überall ein ewiges Schwanken.

Sehr wider ihren Willen waren dagegen die fünf andern ausgeblieben. Das Hüftweh kennt keine Gnade, und Mrs. Georgina Blockhead, sowie der an ihrer Schürze hängende junge Abel hatten sich zu Krankenwärtern für ihren Gatten und für ihre beiden Töchter umwandeln müssen, die noch so steif wie Laternenpfähle waren.

Morgan hatte es jetzt also nur mit einundfünfzig Touristen zu tun. Das ist ja immer noch eine ansehnliche Zahl, ja, die Leute und die Reittiere, die für alle nötig waren, genügten, unter den Fenstern des Hotels einen Heidenlärm zur verursachen.

Hier standen zunächst einundfünfzig Maulesel, einer für jeden Reisenden. Diese Tiere mit ihrem sichern Tritt sind auf den steilen und schlecht gebahnten Wegen, die nach dem Teyde hinaufführen, geradezu unschätzbar. Ferner waren zwanzig Pferde zur Stelle, die Decken und Lebensmittel tragen sollten. Diese einundsiebzig Vierfüßler bildeten die Kavallerie.

Die nicht weniger imposante Infanterie bestand aus vierzig Arrieros, nämlich zwanzig für die Lastpferde, und zwanzig, um im Notfalle die Frauen zu stützen, ferner aus zwölf Führern unter dem Kommando eines von ihnen, eines gewissen Ignacio Dorta, der, sowie sich die Karawane geordnet hatte, an deren Spitze trat.

Hinter dem spreizte sich Thompson, begleitet von Morgan, der sich bei der großen Anzahl von Personen beruhigt genug fühlte, sich vorläufig von Mistreß Lindsay mehr entfernt halten zu können. Dann folgten die Passagiere in langer Reihe, geleitet von den elf Führern und den zwanzig Arrieros, während die Pferde unter der Führung der zwanzig andern Arrieros den Schluß der Kolonne bildeten.

Die Einwohner von Orotava mochten noch so sehr die Besteigung ihres Vulkanberges gewöhnt sein, der heutige Aufzug war für sie doch etwas Außergewöhnliches und erregte die allgemeine Neugier.

So trottete denn die Kavalkade unter reichlichem Zulauf auf ein gegebenes Zeichen – Führer, Touristen und Arrieros – die untersten Abhänge des Monte Verde hinaus.[324]

Morgan hatte seine Sache wirklich gut gemacht. Wie das aber einmal recht und billig ist, fiel die Ehre dafür ausschließlich Thompson zu, der ja doch die Rechnungen bezahlen mußte. Dagegen erwarb er sich hiermit auch Freunde. Die tadellose Organisation dieses letzten Ausfluges versöhnte seine Reisenden; wenn die Erinnerung an frühere Unannehmlichkeiten dadurch auch noch nicht verlöscht wurde, so verblaßte sie doch ziemlich stark. Alles traf heute zusammen, die Gemüter milder zu stimmen. Das Wetter war herrlich, der Weg bequem und dazu wehte eine angenehme, leichte Brise; selbst Saunders fühlte sich entwaffnet.

Mit größter Anstrengung bekämpfte er aber diesen Anfall von Schwäche. Wie, sollte er sich wirklich so dummerweise auf das Trockne gesetzt fühlen, sich als Besiegten erkennen? Konnte denn ein einziger gelungener Ausflug die zehn andern, völlig verfehlten ausgleichen? Und würde übrigens der heutige in jeder Hinsicht erfolgreich sein? Da mußte man doch erst das Ende abwarten. Vor der Rückkehr nach Orotava würde schon noch das oder jenes schief gehen. Wer's erlebte, würde es ja sehen.

Als Schlußeffekt ließ Saunders mit entschlossener Miene seine Gelenke knacken und verzog das Gesicht auf eine so abscheuliche Weise, wie ihm das überhaupt möglich war.

Der Monte Verde verdankt seinen Namen den Tannen, die ihn einst bedeckten. Davon sind freilich nur wenige Spuren übriggeblieben. Zuerst im Schatten von Kastanienbäumen, dann in dem der noch vorhandenen Tannen verfolgte die Kavalkade einen reizenden Pfad, der von blühenden Geranien und stachelblättrigen Agaven eingefaßt war.

Weiterhin erschienen Weingärten, Felder mit Gemüse oder Nopalpflanzen, während da und dort einige ärmliche Hütten davon Zeugnis ablegten, daß hier nicht alles Leben erstorben war.

In der Höhe von tausend Metern kam die Gesellschaft in ein Gehölz baumartiger Gebüsche. Vierhundert Meter weiter oben ließ dann Ignacio Dorta Halt machen, und alle setzten sich nieder, im halbhellen Schatten von Cytisen zu frühstücken. Es war jetzt zehn Uhr Vormittag.

Saunders mußte zugeben, daß das Frühstück so gut war wie das frühere Essen. Da alle Teilnehmer tüchtigen Hunger hatten, herrschte trotz einiger Ermüdung doch allgemein die beste Stimmung. An die Ermüdung wollte keiner denken. In der Überzeugung, nun dem Gipfel nahe zu sein, priesen alle über[325] die Maßen die Leichtigkeit des Aufstieges. Saunders hörte die ihn erbitternden Lobsprüche und flehte den Himmel an, bald auch einige Schwierigkeiten zu bescheren.

Ob seine heimtückischen Wünsche wohl von dem vernommen worden waren, der das Schicksal der Agenturen lenkt? Jedenfalls ließ ihre Verwirklichung nicht auf sich warten.

Kaum war das Frühstück beendet, als alle unter Lachen und Scherzen – den Folgen einer guten Verdauung – weiterzogen, da änderte sich auch schon der Charakter des Weges. Als die Touristen in den Hohlweg des »Portillo« einschwenkten, fanden sie den Aufstieg schon minder bequem. Erst vortrefflich, dann sehr schlecht, schmal und von zahlreichen Rissen unterbrochen, war der Weg, der jetzt viel Windungen zeigte, stark mit Schlacken aus Bimssteinen bedeckt, auf denen die Maulesel häufig stolperten.

Nach wenigen Minuten fanden alle, und das mit Recht, die Besteigung geradezu erschöpfend. Eine Viertelstunde später war jedes Lachen verstummt. Kaum eine halbe Stunde nach dem Betreten des Hohlweges konnte man, anfänglich nur schüchtern, bittre Klagen hören. Sollte denn dieser Höllenweg gar kein Ende nehmen?

Doch Umwege folgten weiter auf Umwege, Spalten auf Spalten, ohne daß das Ziel sich zu nähern schien. Dazu kamen wiederholt, wenn auch nicht ernste, Stürze vor, die den Eifer selbst der entschlossensten Touristen mehr und mehr abkühlten. Einige davon dachten bereits daran, nicht mehr weiter mitzugehen. Sie zögerten nur noch, weil keiner der erste Deserteur sein wollte.

Der Pfarrer Cooley wurde dieser erste. Plötzlich drehte er entschlossen um und schlug, ohne sich wie der umzusehen, seelenruhig den Weg nach Orotava ein.

Ein Beispiel von verderblicher Wirkung! Die ältern Damen fühlten, ebenso wie die ältern Herren, bei diesem Anblick den Rest ihres Mutes schwinden. Von Minute zu Minute wuchs die Zahl der Flüchtlinge weiter. Ein gutes Drittel der Karawane war schon verschwunden, als sich nach zwei Stunden der anstrengenden Bergwanderung der Pic von Teneriffa zeigte, der bisher von Bodenwellen verdeckt gewesen war. Nach Überschreitung eines offenen Platzes gelangte man endlich auf das kleine Hochplateau der Estancia de la Cera.

Unter seiner von schwarzen Lavaströmen gestreiften weißen Decke von Bimssteinen erhob sich, in einen Mantel von Dünsten gehüllt, der Pic als regelrechter Kegel ganz allein inmitten einer Ebene, deren Ausdehnung das Auge[326] nicht abschätzen konnte. Ihm zugewendet und wie ihrem Herrn huldigend, bildeten niedrigere Berge die kreisrunde Grenze der weiten Hochebene. Nur an der Ostseite war diese Barriere von Bergen unterbrochen, da senkte sie sich tief hinab und verlief sich in ein chaotisches Wirrsal, ein »Unland«, jenseit dessen das entfernte Meer in der Sonne glänzte.

Dieses einzig schöne und erhabene Bild entschied den Erfolg des Ausflugs. Alle begrüßten es mit lautem Hurra.

Thompson verneigte sich bescheiden. Er konnte sich in die schönen Tage von Fayal zurückversetzt glauben, als noch die wohlgeordnete Kolonne jedem Winke von ihm gehorchte. Und hatte er das fast verlorne Spiel jetzt nicht doch tatsächlich noch gewonnen? Da begann er eine kleine Rede.

»Meine Herren, sagte er, und seine Hand schien den riesigen Kegel familiär wie ein zartes Geschenk anzubieten, hier sehen Sie nochmals, daß die Agentur, ich möchte sagen, vor nichts zurückschreckt, denen, die sich ihr anvertraut haben, jedes irgendmögliche Vergnügen zu verschaffen. Wenn Sie zustimmen, wollen wir mit dem Angenehmen das Nützliche verbinden, und Herr Professor Morgan wird mit einigen Worten über das bezaubernde Panorama belehren, das wir das Glück haben, vor uns zu sehen.«

Morgan nahm, obwohl über den etwas ungewohnt gewordenen Vorschlag erstaunt, sofort die kalte Miene an, die den Verhältnissen angepaßt war, die Miene des Cicerone, wie er sie selbst nannte.

»Meine Herren und Damen, begann er, während sich um ihn der vorschriftsmäßige Kreis zusammenschloß, Sie haben hier vor sich die Ebene von Las Canadas, einen frühern, jetzt aber mit Geröll ausgefüllten Krater, das der Vulkan selbst ausgeworfen hatte. Allmählich haben sich dann in der Mitte dieses zur Ebene verwandelten Kraters die Schlacken zur Bildung des Pic des Teyde aufgetürmt, bis sie die Höhe von siebzehnhundert Metern erreichten. Diese früher so lebhafte vulkanische Tätigkeit ist gegenwärtig stark abgeschwächt, doch noch nicht ganz erloschen. Auch in diesem Augenblicke werden Sie am Fuße des Kegels Fumarolen bemerken, die den plutonischen Kräften als Sicherheitsventil dienen und denen die Eingebornen den bezeichnenden Namen der »Narizes«, das heißt der Nasenlöcher, gegeben haben.


Das Tal von Orotava und der Pic von Teneriffa.
Das Tal von Orotava und der Pic von Teneriffa.

Der Pic von Teneriffa ist mit dreitausendachthundertundacht Metern der höchste Vulkan der Erde. Seine imposanten Größenverhältnisse konnten nicht verfehlen, die Phantasie anzuregen. Die ersten europäischen Reisenden sahen in ihm den allerhöchsten Berg der Welt und schrieben ihm fünfzehn Lieues Höhe zu.[327] Die Guanchen, die autochthone Bevölkerung der Insel, haben ihn gar zu einer Gottheit verwandelt, sie schworen bei ihm und legten bei Guayata, dem bösen Geist, der auf dem Grunde des Kraters wohnt, Gelübde ab, deren Nichteinhaltung die schwersten Strafen nach sich zog.

– Mister Thompson tat sehr unrecht daran, uns so hoch hinausgehen zu lassen,« unterbrach den Redner eine harte Stimme, in der jeder das liebliche Organ des Herrn Saunders erkannte.

Diese Bemerkung wirkte lähmend. Morgan schwieg still und Thompson hielt es nicht für angezeigt, ihn zur Fortsetzung seines belehrenden Vortrags aufzufordern. Auf einen Wink von ihm setzte sich Ignacio Dorta wieder an die Spitze des Zuges, und die Touristen überschritten nun den Circus de Las Canadas.

Die Reisenden traten den Weg darüber leichten Herzens an. Die Ausdehnung des Zirkus schien ja gering zu sein, und keiner zweifelte daran, daß man in einer halben Stunde den Fuß des Kegelberges erreicht haben würde.

Diese halbe Stunde verging aber, ohne daß man sich dem Ziele auf bemerkbare Weise genähert zu haben schien. Beim Abmarsch hatte man geglaubt, es mit den Händen fassen zu können, das konnte man vielleicht auch noch jetzt glauben... Es war aber eine schwere Täuschung.


Orotava.
Orotava.

Obendrein erwies sich der Erdboden hier eher noch schlechter gangbar, als bei der Überschreitung des Portillo. Er bestand fast allein aus Buckeln und Vertiefungen, ohne jede andre Vegetation als einigen dürftigen Büschen von Retamas.

»Erlauben Sie, Herr Professor, fragte da einer der Touristen, wieviel Zeit erfordert es denn, über diese abscheuliche Hochebene zu kommen?

– Ungefähr drei Stunden, mein Herr,« erklärte Morgan.

Diese Antwort schien den Touristen und die, die ihm näher standen, nachdenklich werden zu lassen.

»Und nach Überschreitung des Plateaus, fuhr der Fragesteller fort, wie weit ist es dann noch, bis wir an den Gipfel kommen?

– In lotrecht aufsteigender Linie etwa fünfzehnhundert Meter,« sagte Morgan lakonisch.

Der Frager verfiel in noch tieferes Nachdenken und murrte ein paar Flüche über die Beschwerden des Weges.

Es muß auch zugestanden werden, daß diese Promenade nicht gerade etwas Angenehmes an sich hatte. Die Kälte wurde in der großen Höhe schon recht empfindlich, während die von der dünnen Luft kaum gemilderten Sonnenstrahlen fast schmerzlich brannten. Vorn geröstet und hinten zu Eis verwandelt zu werden, diese Art von Ungleichheit wollte den Touristen doch keineswegs gefallen.

Da es nun schon stark auf Mittag ging, gesellten sich hierzu bald noch ernstere Beschwerden. Von dem mit Bimssteinen bedeckten, weiß glänzenden Erdboden, der fast dem Schnee ähnelte, wurden die Strahlen der Sonne wie von einem Spiegel zurückgeworfen, so daß sie auch die besten Augen verletzten. Roger, der sich auf Morgans Empfehlung mit einem kleinen Vorrat von blauen Brillen versehen hatte, konnte damit sich selbst und seine Freunde gegen jede Beschädigung der Augen schützen. Doch nur wenige seiner Gefährten hatten dieselbe Vorsicht gebraucht, und bald zeigten sich auch Anfänge von Augenentzündung, die mehrere Touristen zwangen, allmählich zurückzubleiben. Das machte wieder andre nachdenklich, und da sich der Weg über den Zirkus noch immer verlängerte, schlug die größte Zahl der Reiter entweder aus Furcht vor einer Augenentzündung, oder weil sie vielleicht schon zu sehr erschöpft waren, unbemerkt wieder den Weg nach Orotava ein.[331]

Seite an Seite mit Ignacio Dorta hielt sich Morgan an der Spitze der Karawane. Ganz seinen Gedanken nachhängend, sprach er in den drei Stunden, die der Weg über den Zirkus dauerte, kein einziges Wort. Erst als der Zug auf dem Gipfel des Weißen Berges, des letzten Vorberges des Pics, angelangt war, warf er einmal einen Blick zurück. Da sah er nicht ohne Überraschung, wie stark die Karawane zusammengeschmolzen war.

Jetzt bestand sie höchstens noch aus fünfzehn Touristen, und die Zahl der Arrieros hatte ebenso eine entsprechende Verminderung erfahren. Der Rest war verstreut, verschwunden.

»Eine englische Karawane, flüsterte Roger seinem Freunde zu, ist offenbar ein Körper, der den niedrigsten Schmelzpunkt hat. Ich werde mir diese Beobachtung aus der transzendentalen Chemie merken...

– Ja, so scheint es, antwortete Morgan lächelnd. Ich glaube nur, diese Erscheinung wird nun ein Ende nehmen. Die Lösung muß doch allmählich gesättigt sein.«

Das weitre sollte leider das Gegenteil beweisen.

Es galt jetzt, den Kegel selbst auf einem so steilen Pfade zu erklettern, daß es unmöglich erschien, daß Pferde oder Maultiere sich erhalten könnten. Die letzten Unerschrockenen wichen bei diesem Anblick zurück und erklärten unter dem Vorwande der äußersten Erschöpfung, nach Orotava zurückkehren zu wollen. Vergeblich bat Thompson und mobilisierte das ganze Zeughaus seiner Überredungskünste. Er erntete aber dafür nur die entschiedensten Weigerungen, und die in einem Tone, der nichts Liebenswürdiges an sich hatte.

Einen solchen Ausflug vorgesehen zu haben! Das war ja die reine Tollheit! Wie konnte nur ein Mann, der im Besitz seines Verstandes war, andern Leuten, als Bergsteigern von Beruf, den vorzuschlagen wagen? Warum denn nicht gleich auf den Montblanc?

So schallte es von allen Seiten, und dazu kamen noch andre, nicht eben wohlwollende Reflexionen. Man machte sich bittre Vorwürfe, vor drei Stunden auf dem Punkt gewesen zu sein, an einen schließlich guten Erfolg dieser Reise zu glauben, und spottete darüber, einen Augenblick angenommen zu haben, daß irgendein von Thompson ersonnenes Projekt Sinn und Verstand haben könne.

Da blieb nun nichts andres übrig, als die Getäuschten dahinziehen zu lassen und ihnen einen Teil der Führer und fünfzehn mit Proviant beladne Pferde zu überlassen.[332]

Dann begann Thompson todesmutig den Aufstieg, ohne seinen letzten Getreuen Zeit zu geben, sich zu besinnen.

Zu diesen gehörte in erster Reihe Van Piperboom – aus Rotterdam. Als Schatten des Agenten hatte er diesen seit vierzehn Tagen auf keinem Schritt verlassen. Das war vielleicht seine Rache. Höchst gereizt, konnte sich Thompson doch auf keine Weise von diesem lebenden Vorwurfe befreien. War er in Gang, Piperboom heftete sich an seine Sohlen; sprach er, so trank der Holländer förmlich seine Worte. Eine kleine Erholung fand er nur noch in den Stunden der Nacht.

Augenblicklich war Piperboom wie gewöhnlich auf seinem Posten. Sein Maulesel hätte den Schwanz von dem Thompsons abbeißen können.

Wenn ein Reiter und sein Tier nicht unbedingt zwei Tiere auszumachen brauchen, wie es im Sprichwort behauptet wird, so bilden sie wenigstens allemal zwei Köpfe, das heißt, zwei verschiedene und zuweilen widerstrebende Willen. Wenn hier Piperboom sich darauf versteifte, dem Chef des Ganzen dicht auf dem Fuße zu folgen, wenn er sich fest vorgenommen hatte, den Kegelberg bis zum Gipfel zu besteigen, so war sein Maulesel doch ganz andrer Ansicht. Nach zehn Schritten weigerte er sich entschieden, noch einen elften zu machen. Das arme Tier erkannte seine Aufgabe als gar zu schwierig.

Alle physischen und moralischen Beweismittel des Gegenteils wurden vergeblich angewandt, die Führer packten die Kantare des widerspenstigen Vierbeiners. Der aber, der einen unerschütterlichen Entschluß gefaßt hatte, ließ sich auf keine Weise besiegen. Endlich verärgert über die Neckereien, die man sich ihm gegenüber erlaubte, brachte er seinen Unwillen deutlicher zum Ausdruck und setzte seine Last einfach auf den Boden ab. Piperboom sah sich demnach gezwungen, den Agenten wohl oder übel zu verlassen und auch selbst vorzeitig den Rückweg anzutreten, wozu man ihm einen Führer, zwei Arrieros und ein Pferd überließ, während die andern Glücklichen ihre Bergpartie fortsetzten.

Jetzt waren nun also im ganzen noch neunzehn beisammen: drei Führer, acht Arrieros, die vier Pferde führten, und acht Reisende, nämlich: Thompson, den seine Würde zur Ausdauer verpflichtete, Morgan, Roger de Sorgues, Alice nebst ihrer Schwester, Jack Lindsay, Saunders und Hamilton. Lady Hamilton und Miß Margaret mußten unter Führung Tiggs, der sich galant zu ihrer Begleitung angeboten hatte, schon lange in Orotava eingetroffen sein. Ah, wenn Miß Mary und Miß Beß Blockhead hier anwesend gewesen wären, weit lieber[333] hätten sie den undankbaren Gipfel des Pic erstiegen und ihn sich in dessen Krater stürzen sehen, als sich zum Kurmacher einer Rivalin zu machen.

Seit die Kolonne so reduziert war, erfüllten Morgan wieder die gewöhnlichen Sorgen. Er hatte schon zwischen Jack Lindsay und dessen Schwägerin, die auf dem Abhange nach und nach einander näher gekommen waren, seinen Maulesel etwas rücksichtslos hineingelenkt, wobei er sogar Alice ein wenig stieß. Doch als ob sie die Beweggründe des Dolmetschers der »Seamew« erkannt hätte, machte sie aus dieser nervösen Hast kein weitres Aufsehen, sondern verließ nur langsam ihr Glied in der Reihe und setzte sich an die Seite ihres getreuen Beschützers.

Auch Jack Lindsay hatte den Schritt Morgans beobachtet, zeigte aber seiner Schwägerin auf keine Weise, daß das ihm aufgefallen wäre. Höchstens verriet ein leichter Zug um den Mund den Zorn seines Innern, und er kletterte wie vorher den Bergabhang hinauf, ohne sich nach seinem Feinde, den er hinter sich wußte, umzukehren.

Der Aufstieg gestaltete sich ungemein beschwerlich. Auf dem morschen, leicht nachgebenden Boden kostete jeder Schritt eine wirkliche Arbeit. Als nach zweistündigen Anstrengungen um sechs Uhr abends Halt gemacht wurde, waren Tiere und Menschen am Ende ihrer Kräfte.

Die Touristen waren bis zur Alta Vista gekommen, einer Art Anschwellung des Kegels, worin man eine Zufluchtsstätte für die hier mit der Gewinnung des Schwefels beschäftigten Arbeiter eingerichtet hatte, in der sie auch die Nacht zubringen konnten.

Jetzt war es sehr kalt geworden. Das Thermometer zeigte kaum drei Grad über Null. Ein Unterkommen war zunächst unentbehrlich.

Alice und Dolly würden, trotz ihrer Gewöhnung an das Reisen und die damit verknüpften gelegentlichen Unannehmlichkeiten, diese Unterkunft doch jedenfalls abgelehnt haben, vorzüglich weil ja schon die Arbeiter von der Solfatara darin schliefen. Vielleicht hätten sie lieber, trotz der Kälte unter freiem Himmel übernachtet, als mit Männern zusammen in dem Schuppen.

Zum Glück hatte Morgan Vorsorge getroffen, ihnen diese Unannehmlichkeit zu ersparen. Auf sein Verlangen wurde den Pferden ihre Last abgenommen, und bald erhob sich ein hübsches Zelt, worin, dank einem tragbaren Ofen und einem genügenden Vorrat von Heizmaterial, in wenigen Minuten ein lustiges Feuer aufloderte.[334]

Der Tag nahm nun schnell ab. Um acht Uhr war das Meer schon in einen Schatten gehüllt, den man mit der Schnelligkeit eines Eilzuges die Küste und dann die Böschungen der hohen und der benachbarten Berge hinaufziehen sah. Binnen zwei Minuten war der Zirkus Las Canadas in der Dunkelheit verschwunden. Nur der Pic stieg noch leuchtend wie aus einem unsichtbaren Abgrunde auf.

Die Sonnenscheibe erreichte den Ozean, der Horizont bog sich gleichsam ein, während ein vom Pic geworfener ungeheurer Schattenkegel, der kurze Zeit in allen Farben spielte, bis Gran Canaria hinüberreichte, und dann der letzte Strahl sich wie ein leuchtender Pfeil in der verdunkelten Atmosphäre verlor.

Alice und Dolly zogen sich sofort in ihr Zelt zurück. Die Männer konnten im Schuppen aber nicht den geringsten Schlaf finden wegen einer Menge von lästigen Parasiten, um die sich die Arbeiter wenig zu kümmern schienen, während ihre Gäste und Schlafkameraden wenigstens mit Hilfe eines mit Retamas unterhaltenen Feuers die Kälte einigermaßen zu bekämpfen vermochten.

Erst gegen zwei Uhr, wo sich die lästigen Insekten wahrscheinlich genügend gesättigt hatten, konnten sie mit Mühe ein wenig schlafen, da wurden sie aber auch schon wieder zum Aufbruch geweckt. Jetzt war keine Zeit zu verlieren, wenn der Gipfel noch kurz vor Sonnenaufgang erreicht werden sollte.

Wahrheitsgemäß sei hierbei bemerkt, daß zwei Passagiere dafür taube Ohren hatten.

Der eine, der Baronet Sir Georges Hamilton, konnte sich dabei darauf berufen, daß es ihm unmöglich sei, sich zu erheben, es gehörte auch ein so schwerwiegender Grund dazu, den kleinlich mäkelnden Passagier einmal vom Programme abweichen zu lassen. Heute war er wirklich außerstande, es einzuhalten. Wie hätte er zum Gipfel hinaufklettern sollen, wenn ihm schon die geringste Bewegung die grausamsten Schmerzen machte. Offenbar hatte die nächtliche Kühle seinen vornehmen Gliedern und Gelenken geschadet. Auf Canaria ein einfacher Prolog, verwandelte sich der Rheumatismus auf Teneriffa zum Drama.

Der andre Passagier hätte keinen so genügenden Grund anführen können. Er befand sich völlig wohl und – ein erschwerender Umstand – er hatte besondere Veranlassung, jetzt Mut zu zeigen. Es bedarf jedoch keiner weitern Gründe für einen lendenlahmen Mann, der Thompson augenblicklich war. Er antwortete auch nur auf den Weckruf Ignacio Dortas mit einem unverständlichen[335] Gemurmel und ließ die letzten Passagiere ohne seine Begleitung abmarschieren. Seiner Ansicht nach hatte er für ihr Glück schon genug getan.

Sechs Bergsteiger hatten also nur den Mut, auch die fünfhundertfünfunddreißig Meter in Angriff zu nehmen, die den Gipfel von der Schutzhütte der Alta Vista trennen. Diese fünfhundertfünfunddreißig Meter, die man nur zu Fuß überwinden kann, bilden tatsächlich die schwierigste Wegstrecke. In der dunkeln Nacht, die kaum durch die von den Führern getragenen Fackeln ein wenig erhellt wurde, war der Marsch über den beweglichen Boden, dessen Neigungswinkel von Meter zu Meter stieg, sehr unsicher. Außerdem nahm die Kälte noch mehr zu, und bald sank das Thermometer bis unter Null. Die unternehmenden Touristen litten auch schwer unter dem Winde, der allen wie Eisnadeln ins Gesicht schlug.

Nach zwei Stunden beschwerlichen Aufstiegs wurde Rambleta, ein kleines rundes Plateau, erreicht, das die Sohle der höchsten Spitze umsäumt. Von hier aus waren noch hundertundfünfzig Meter zu überwinden.

Mr. Saunders sah man es jetzt deutlich an, daß er diese hundertfünfzig Meter nicht mehr zu steigen imstande wäre. Kaum auf der Rambleta angelangt, streckte er sich, so lang er war, auf dem Boden aus und blieb trotz aller Ermahnungen der Führer unbeweglich liegen. Der mächtige, sonst so kräftige Körper war jetzt, wie man sagt, völlig ausgepumpt. Seinen weiten Lungen fehlte es an Luft, sein Gesicht hatte sich bläulich gefärbt und er atmete nur mühsam. Ignacio Dorta beruhigte aber seine ängstlichen Begleiter.

»Das ist nur die gewöhnliche Bergkrankheit, sagte er. Der Herr wird sofort wieder hergestellt sein, wenn er bergabwärts geht.«

Hierdurch beruhigt, nahmen die fünf Überlebenden des Gemetzels ihren wechselvollen Aufstieg wieder auf. Diese letzte Strecke erschöpfte sie aber mehr als jede andre.

Auf dem um fünfundvierzig Grad geneigten Boden wollte jeder Schritt sorgsam berechnet sein, und es brauchte viel Zeit und große Anstrengung, auch nur einige Zentimeter weiterzukommen. Das verlangte einen ungeheuern Aufwand von Kräften, der bei der stark verdünnten Luft nur noch empfindlicher wurde.

Nach Zurücklegung des ersten Drittels dieses Weges mußte auch Jack sich für besiegt erklären. Völlig außer Atem und von Übelkeiten schwer heimgesucht, sank er schwerfällig zu Boden. Seine ihm vorausgehenden Gefährten bemerkten nichts von seinem Unwohlsein und setzten ihren Weg fort, während der letzte Führer bei dem außer Gefecht gesetzten Touristen zurückblieb.[336]

Fünfzig Meter weiter oben kam Dolly an die Reihe. Mit leichtem, etwas spöttischem Lächeln empfahl ihr Roger, sich ganz ruhig zu verhalten, und sein listiger Blick folgte Alice und Morgan, die unter der Führung Ignacio Dortas endlich den obersten Gipfel erreichten.

Noch war es Nacht. Immerhin gestattete ein zerstreutes schwaches Licht, wenigstens den Erdboden, über den sie gingen, einigermaßen zu erkennen.


Das Maultier setzte seine Last einfach auf den Boden ab. (S. 333)
Das Maultier setzte seine Last einfach auf den Boden ab. (S. 333)

Der Führer, der sich gleich zurückzog, hatte Alice und Morgan noch nach einer Aushöhlung des Berges geleitet, wo sich die bisher eisige Temperatur zu einer recht angenehmen ermäßigte.

Bald bemerkten die beiden bei dem langsam zunehmenden Licht, daß sie in einem reichlich vierzig Meter tiefen Krater des Vulkans selbst Schutz gefunden hatten. Auf allen Seiten rauchten hier Fumarolen. Der schwammartige und heiße Boden war vielfach durchlöchert.

Überall drangen schweflige Dämpfe daraus hervor. Der Rand des Kraters zeigte sich sehr scharf abgeschnitten. Bis zu ihm herauf herrschte das Reich des Todes, ohne ein lebendes Wesen, ohne eine einzige Pflanze. Unter dem Einfluß der wohltätigen Wärme begann das Reich des Lebens erst oben am Gipfel wieder.

Drei Schritte weit voneinander stehend, betrachteten Alice und Morgan den Horizont, der schon im Morgenrot glühte. Vor der Feierlichkeit des Anblicks verstummt, weideten sich ihre Augen und ihre Seele an dem großartigen Schauspiel, das sich vor ihren Augen entwickelte.

Um sie herum summten Fliegen und Bienen und schnelle Finken flatterten kreuz und quer dahin. Zu seinen Füßen entdeckte Morgan ein Veilchen, das sich wie frostig unter seinen wolligen Blättern verbarg. Er beugte sich nieder und pflückte das verirrte Blümchen, das seine Blüte in einer Höhe entfaltete, wo kein andrer Vertreter des Pflanzenreichs hätte leben können. Das Veilchen überreichte er seiner Begleiterin, die es schweigend an ihrem Busen befestigte.

Plötzlich flammte das Licht des Tages auf. Gleich einer glühenden, noch strahlenlosen Metallscheibe erhob sich die Sonne am fernen Horizonte. Zuerst wurde es um den Gipfel völlig hell, dann sank der Schatten, wie er gestern emporgestiegen war, mit gleicher Schnelligkeit hinunter.[339]

Alta Vista und der Zirkus Las Canadas wurden sichtbar. Wie mit einem Schlage und als ob ein Schleier davor weggezogen worden wäre, erglänzte auch das Meer unter dem endlosen Azur des Himmels.

Auf dem Meere lag nur noch ein regelmäßiger Kegel, der Schatten des Pics, dessen Spitze im Westen bis zur Insel Gomera reichte. Weiter draußen und mehr im Süden wurden Ferro und Palma trotz einer Entfernung von hundertfünfzig Kilometern deutlich sichtbar. Im Osten erhob sich Gran Canaria im goldenen Lichte des jungen Tages, und während seine Hauptstadt Las Palmas sich an der entgegengesetzten Seite versteckte, unterschied man ihr gegenüber La Isleta und den Hafen von La Luz, wo die »Seamew« vor wenigen Tagen geankert hatte.

Am Fuße des Teyde breitete sich ganz Teneriffa wie auf einem Plane übersehbar aus. Das schräg einfallende Licht ließ seine Bodenerhebungen scharf er kennen. Überall zeigten sich unzählige kleine Pics, gähnten wilde Vertiefungen und öffneten sich liebliche Täler, in denen zu dieser Stunde das Leben erwachte.

»Wie schön ist das alles! seufzte Alice nach längerer Betrachtung des Bildes.

– Wie herrlich schön!« klang es von Morgan wie ein Echo zurück.

Diese wenigen, in dem allgemeinen Schweigen hinausgerufenen Worte genügten, den bisher herrschenden Bann zu brechen. Von der mächtigen Empfindung erfüllt, wendete sich der eine dem andern zu. Da bemerkte Alice erst, daß Dolly nicht bei ihnen war.

»Wo ist denn meine Schwester? fragte sie, wie aus einem Traume erwachend.

– Miß Dolly war etwas unwohl geworden, antwortete Morgan, und ist mit Herrn de Sorgues ein Stück weiter unten zurückgeblieben. Wenn Sie es wünschen, werde ich ihr noch zu Hilfe eilen.«

Morgan hatte schon eine Bewegung gemacht, davonzugehen. Alice hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Nein, sagte sie, bleiben Sie hier.«

Dann fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort:

»Ich bin glücklich darüber, daß wir einmal allein sind, lauteten ihre zögernden und bei ihrem entschiedenen Charakter ungewöhnlich erscheinenden Worte, ich habe mit Ihnen zu sprechen... oder Ihnen vielmehr meinen Dank abzustatten.

– Mir, Madame? rief Morgan.


Orotava. - Hafen von Santa-Cruz.
Orotava. - Hafen von Santa-Cruz.

– Ja, Ihnen, versicherte Alice. Ich habe recht wohl den diskreten Schutz bemerkt, den Sie uns seit der Abfahrt von Madeira haben angedeihen lassen, und glaube auch, den Grund dazu erkannt zu haben. Dieser Schutz, das glauben Sie mir, ist mir sehr viel wert gewesen, ich will aber versuchen, Sie von Ihrer Sorge zu entlasten. Ich bin nicht ganz hilflos und weiß alles, was sich auf Madeira zugetragen hat.«

Morgan wollte etwas erwidern, Alice kam ihm jedoch zuvor.

»Nein, antworten Sie mir nicht. Ich habe ausgesprochen, was ich für unumgänglich nötig hielt, es ist aber besser, wir sehen von jener peinlichen Sache ab. Es ist ein schmachvolles Geheimnis, das nur wir beide kennen, und ich weiß, daß es treu bewahrt werden wird.«

Nach nochmaligem kurzen Stillschweigen nahm sie wieder das Wort:

»Wie hätte ich Ihre vorsorgliche Freundschaft nicht anerkennen sollen? Mein Leben ist ja jetzt gewissermaßen ein wenig Ihr Eigentum«

Morgan protestierte mit einer ablehnenden Geste.

»Würden Sie denn auch meine Freundschaft ablehnen? fragte Alice mit halbem Lächeln.

– Eine sehr kurz währende Freundschaft, antwortete Morgan traurig. Nach wenigen Tagen wird das Schiff, das uns trägt, auf der Themse liegen, und jeder von uns wird dem ihm vom Schicksal vorgezeichneten Wege nachgehen.

– Das ist wohl wahr, sagte Alice innerlich erregt. Wir werden wahrscheinlich voneinander scheiden, die Erinnerung wird uns aber bleiben.

– Und ebenso schnell wie der Morgennebel verschwinden.«

Die Augen auf den Horizont gerichtet, ließ Alice diese enttäuschende Antwort zuerst unerwidert.

»Das Leben muß Ihnen grausam mitgespielt haben, sagte sie endlich, wenn Ihre Worte der getreue Ausdruck Ihrer Gedanken sind. Stehen Sie denn so allein in der Welt, um alles Vertrauen verloren zu haben? Haben Sie keine Eltern mehr?«

Morgan schüttelte verneinend den Kopf.

»Auch keine Freunde?

– Die hatte ich vielleicht früher, antwortete Morgan bitter.

– Und jetzt hätten Sie keine mehr? wandte Alice ein. Wären Sie wirklich blind genug, diese Bezeichnung Herrn de Sorgues zu verweigern, ohne von meiner Schwester und mir zu reden?[343]

– Von Ihnen, Madame! rief Morgan mit halberstickter Stimme.

– Eines ist auf alle Fälle sicher, fuhr Alice fort, ohne die Unterbrechung weiter zu beachten, entgegenkommend sind Sie für die Freundschaft, die sich Ihnen anträgt, gerade nicht. Ich muß mich da wirklich fragen, ob ich da Ihnen gegenüber etwas verschuldet habe.

– Wie wäre das möglich? fragte Morgan ernstlich verwundert.

– Das weiß ich nicht, antwortete Alice. Es liegt aber auf der Hand daß Sie sich seit dem Ereignis, dessen ich eben Erwähnung tat, von uns auffallend zurückgezogen haben. Meine Schwester und ich, wir haben uns oft darüber gewundert, und Herr de Sorgues hat es auch nicht unterlassen können, ein Verhalten zu tadeln, für das er, wie er sagt, keine Erklärung finden könne. Hat Sie vielleicht jemand von uns, ohne daß wir es wußten, beleidigt?

– O, ich bitte Sie, Madame! stammelte Morgan verwundert.

– Nun, dann verstehe ich Ihr Verhalten auch nicht.

– Weil da nichts zu verstehen ist, antwortete Morgan lebhaft. Trotz dessen, was Sie zu vermuten scheinen, bin ich derselbe geblieben wie vorher. Der einzige Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart liegt nur in dem Interesse, das mir ein zufälliger Umstand erworben hat und das dem bescheidenen Dolmetscher der »Seamew« doch nicht erlaubte, sich über sich selbst zu erheben.

– Für mich sind Sie der Dolmetscher der »Seamew« aber nicht, erwiderte Alice, deren Wangen eine leichte Röte überflog. Ihre Erklärung ist unzutreffend, und das ist weder Ihrer noch meiner würdig. Gestehen Sie zu, meiner Schwester, mir und Herrn de Sorgues absichtlich aus dem Wege zu gehen?

– Das kann ich nicht leugnen, gestand Morgan.

– Nun, dann wiederhole ich: warum?«

Morgan fühlte, wie ihm seltsame Gedanken durch den Kopf wirbelten. Es gelang ihm jedoch, sich zu fassen, und während er darüber schwieg, sagte er einfach:

»Weil unsre gegenseitigen Lebensverhältnisse mir mein Verhalten vorschreiben und eine große Zurückhaltung verlangen. Könnte ich wohl verkennen, wie weit sie an Bord dieses Fahrzeuges voneinander liegen, wo wir in einer so weit voneinander abweichenden Stellung leben?


 »Eine sehr kurz währende Freundschaft,« antwortete Morgan traurig. (S. 343.)
»Eine sehr kurz währende Freundschaft,« antwortete Morgan traurig. (S. 343.)

– Auch das ist gar keine Entschuldigung, sagte Alice etwas ungeduldig, weil es uns Dreien geziemt, von der Entfernung, die uns, wie Sie meinen, trennen soll, ein für allemal abzusehen.[344]

– Meine Pflicht ist es aber, mich ihrer zu erinnern, erklärte Morgan bestimmt, und nicht ein edelmütiges Gefühl der Dankbarkeit zu mißbrauchen, um mir eine Freiheit zu erlauben, die sehr verschieden gedeutet werden könnte.«

Alice errötete und ihr Herz begann heftiger zu klopfen. Sie hatte das Bewußtsein, sich hier auf einen heißen Boden zu wagen; ein etwas, das stärker war als sie, trieb sie aber unwiderstehlich, das Gespräch, das schon anfing gefährlich zu werden, bis zum Ende durchzuführen.[345]

»Ich verstehe nicht recht. was Sie sagen wollen, gab sie etwas hochmütig zur Antwort, und weiß nicht, welche Beurteilungen es sind, die Sie fürchten zu müssen glauben.

– Und wenn es nur Ihr eignes Urteil wäre, Madame! rief Morgan mehr wider Willen.

– Mein Urteil?

– Ja, das Ihrige, Madame. Auch außerhalb der »Seamew« sind unsre Verhältnisse doch so verschieden, daß jede Annäherung zwischen uns Verdacht erwecken könnte. Was würden andre, was würden Sie selbst von mir denken, wenn ich Ihnen Veranlassung gäbe, je anzunehmen, daß ich es gewagt hätte... gewagt hätte...«

Morgan unterbrach sich schnell und verschloß mit größter Mühe in sich das nicht wieder gut zu machende Wort, das er sich niemals auszusprechen gelobt hatte. Doch schwieg er jetzt nicht schon zu spät? Hatte er nicht genug gesagt, daß Mrs. Lindsay ihn verstehen mußte?

Wenn es an dem war, und hatte Alice das Wort erraten, das ihm auf der Zunge lag, so schien es doch, als ob sie das nicht fürchtete. Durch einen eignen Fehler in eine Lage ohne Ausgang versetzt, trat sie dieser entschlossen entgegen, ohne sich ihr durch kindische Ausflüchte zu entziehen zu suchen. Ohne Scheu hatte sie sich Morgan gerade zugewandt.

»Nun, und..? sagte sie ruhig. Vollenden Sie Ihre Worte.«

Morgan war es, als ob ihm der Boden unter den Füßen fehlte. Seine letzten Entschlüsse wurden wankend. Ermüdet gab er den Kampf auf. Noch eine Sekunde, und sein übervolles Herz schrie sein Geheimnis hinaus...

Da rollte zehn Schritte von ihnen ein Stein hin und gleichzeitig hörte man ein heftiges Aufhusten in der verdünnten Luft. Gleich darauf erschien Roger mit der sehr hinfälligen Dolly und Ignacio Dorta, der zu diesen hinuntergestiegen war, ihnen auf der letzten Strecke zu helfen.

Roger erkannte auf den ersten Blick die Verlegenheit seiner Freunde und verstand, ohne sich's merken zu lassen, sie bald von dem auf ihnen lastenden Drucke zu befreien. Ein kaum bemerkenswertes Lächeln flog dabei aber doch über sein Gesicht, während er, überall hinweisend, anfing, Dolly das ungeheure Panorama zu erklären, das sich vor ihren Augen ausbreitete.[346]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 317-329,331-337,339-341,343-347.
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