Küß

[131] Einig süßes mündelein,

röter dan ein röselein,

das die sonn durch ihr ansehen

macht aufgehen;

lefzen übertreffend weit

den thau, so die erden netzet,

und mit fruchtbarkeit ergetzet

in der süßen frühlingszeit.


Mein liebreiches schätzelein,

gib mir so vil schmätzelein,

so vil du gibst meinem herzen

pein und schmerzen,

so viel pfeil der fliegend got

wider mein herz abgeschossen,

so vil ich leid unverdrossen

jamer, trübsal, angst und spot.


So vil man wol körnlein sands

am ufer des Morenlands,

so vil gras in dem feld stehen

man kan sehen;

so vil tropfen in dem meer,

so vil fisch die wasser bringen,

vögel durch den luft sich schwingen

und so vil der herbst weinbeer.


So vil schöne lieblichkeit,

schmollende holdseligkeit,[131]

so vil höflichkeit und lachen

lieblich machen

deinen theuren purpurmund;

wie vil rosen deine wangen,

wie vil lilgen machen prangen

deinen busen steif und rund.


So oft küß mich, Nymfelein,

so oft schmätz mich schimpfelein,

laß uns miteinander scherzen

und uns herzen,

bis ich sag: »mein frid, mein freid,

ich kan nicht mehr, laß mich gehen!«

so solt du ein weil abstehen,

daß ich seufzend halb verscheid.


Darnach küß mich widerum,

daß noch größer werd die sum,

stüpf mich auch mit deiner zungen

ungezwungen,

die so süß als honig ist:

also laß uns kurzweil führen

damit wir ja nicht verlieren

der jugend einige frist.


Laß uns nach der lieb willkur

wandlen auf der jugend spur,

bis das alter krum gebogen

kom gezogen

mit kält, zittern, forcht und graus,

welches mit sich auf dem rucken

vil leids bringet, uns zu drucken,

bis es uns macht den garaus.

Quelle:
Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte, Leipzig 1873, S. 131-132.
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