Prolog


[235] Ein Tierbändiger tritt, nachdem der aufgezogene Vorhang einen Zelteingang hat sichtbar werden lassen, in zinnoberrotem Frack, weißer Krawatte, langen schwarzen Locken, weißen Beinkleidern und Stulpstiefeln, in der Linken eine Hetzpeitsche, in der Rechten einen geladenen Revolver, unter Zimbelklängen und Paukenschlägen aus dem Zelt.


Hereinspaziert in die Menagerie,

Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust'gen Frauen,

Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen

Die unbeseelte Kreatur zu schauen,

Gebändigt durch das menschliche Genie.

Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt! –

Auf zwei Personen kommt umsonst ein Kind.


Hier kämpfen Tier und Mensch im engen Gitter,

Wo jener höhnend seine Peitsche schwingt

Und dieses, mit Gebrüll wie Ungewitter,

Dem Menschen mörderisch an die Kehle springt;

Wo bald der Kluge, bald der Starke siegt,

Bald Mensch, bald Tier geduckt am Estrich liegt;

Das Tier bäumt sich, der Mensch auf allen vieren!

Ein eisig kalter Herrscherblick –

Die Bestie beugt entartet das Genick

Und läßt sich fromm die Ferse drauf postieren.


Schlecht sind die Zeiten! – All die Herrn und Damen,

Die einst vor meinem Käfig sich geschart,

Beehren Possen, Ibsen, Opern, Dramen

Mit ihrer hochgeschätzten Gegenwart.

An Futter fehlt es meinen Pensionären,

So daß sie gegenseitig sich verzehren.

Wie gut hat's am Theater ein Akteur!

Des Fleischs auf seinen Rippen ist er sicher,

Sei auch der Hunger ein ganz fürchterlicher[235]

Und des Kollegen Magen noch so leer. –

Doch will man Großes in der Kunst erreichen,

Darf man Verdienst nicht mit dem Lohn vergleichen.


Was seht ihr in den Lust- und Trauerspielen?! –

Haustiere, die so wohlgesittet fühlen,

An blasser Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen

Und schwelgen in behaglichem Geplärr,

Wie jene andern – unten im Parterre:

Der eine Held kann keinen Schnaps vertragen,

Der andre zweifelt, ob er richtig liebt,

Den dritten hört ihr an der Welt verzagen,

Fünf Akte lang hört ihr ihn sich beklagen,

Und niemand, der den Gnadenstoß ihm gibt. –

Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier,

Das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir.


Sie sehen den Tiger, der gewohnheitsmäßig,

Was in den Sprung ihm läuft, hinunterschlingt;

Den Bären, der, von Anbeginn gefräßig,

Beim späten Nachtmahl tot zu Boden sinkt;

Sie sehn den kleinen amüsanten Affen

Aus Langeweile seine Kraft verpaffen;

Er hat Talent, doch fehlt ihm jede Größe,

Drum kokettiert er frech mit seiner Blöße;

Sie sehn in meinem Zelte, meiner Seel,

Sogar gleich hinterm Vorhang ein Kamel! –

Und sanft schmiegt das Getier sich mir zu Füßen,

Wenn


Er schießt ins Publikum.


donnernd mein Revolver knallt.

Rings bebt die Kreatur; ich bleibe kalt –

Der Mensch bleibt kalt! – Sie ehrfurchtsvoll zu grüßen.


Hereinspaziert! – Sie traun sich nicht herein? –

Wohlan, Sie mögen selber Richter sein!

Sie sehn auch das Gewürm aus allen Zonen:

Chamäleone, Schlangen, Krokodile,

Drachen und Molche, die in Klüften wohnen.

Gewiß, ich weiß, Sie lächeln in der Stille[236]

Und glauben mir nicht eine Silbe mehr –


Er lüftet den Türvorhang und ruft in das Zelt.


He, Aujust! Bring mir unsre Schlange her!


Ein schmerbäuchiger Arbeiter trägt die Darstellerin der Lulu in ihrem Pierrotkostüm aus dem Zelt und setzt sie vor dem Tierbändiger nieder.


Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften,

Zu locken, zu verführen, zu vergiften –

Zu morden, ohne daß es einer spürt.


Lulu am Kinn krauend.


Mein süßes Tier, sei ja nur nicht geziert!

Nicht albern, nicht gekünstelt, nicht verschroben,

Auch wenn die Kritiker dich weniger loben.

Du hast kein Recht, uns durch Miaun und Fauchen

Die Urgestalt des Weibes zu verstauchen,

Durch Faxenmachen uns und Fratzenschneiden

Des Lasters Kindereinfalt zu verleiden!

Du sollst – drum sprech ich heute sehr ausführlich –

Natürlich sprechen und nicht unnatürlich!

Denn erstes Grundgesetz seit frühster Zeit

In jeder Kunst war Selbstverständlichkeit!


Zum Publikum.


Es ist jetzt nichts Besondres dran zu sehen,

Doch warten Sie, was später wird geschehen:


Mit starkem Druck umringelt sie den Tiger;

Er heult und stöhnt! – Wer bleibt am Ende Sieger?! –

Hopp, Aujust! Marsch! Trag sie an ihren Platz –


Der Arbeiter nimmt Lulu quer auf die Arme; der Tierbändiger tätschelt ihr die Hüften.


Die süße Unschuld – meinen größten Schatz!


Der Arbeiter trägt Lulu ins Zelt zurück.


Und nun bleibt noch das Beste zu erwähnen:

Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen.

Hereinspaziert! Das Schauspiel ist nicht neu,

Doch seine Freude hat man stets dabei.[237]

Ich wag es, ihm den Rachen aufzureißen,

Und dieses Raubtier wagt nicht zuzubeißen.

So schön es ist, so wild und buntgefleckt,

Vor meinem Schädel hat das Tier Respekt!

Getrost leg ich mein Haupt ihm in den Rachen;

Ein Witz – und meine beiden Schläfen krachen!

Dabei verzicht ich auf des Auges Blitz;

Mein Leben setz ich gegen einen Witz;

Die Peitsche werf ich fort und diese Waffen

Und geb mich harmlos, wie mich Gott geschaffen. –

Wißt ihr den Namen, den dies Raubtier führt? – –

Verehrtes Publikum – – Hereinspaziert!!


Der Tierbändiger tritt unter Zimbelklängen und Paukenschlägen in das Zelt zurück.[238]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 235-239.
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