Zweiter Aufzug

[452] Im Arbeitszimmer des Marquis von Keith ist der mittlere Tisch zum Frühstück gedeckt: Champagner und eine große Schüssel Austern. – Der Marquis von Keith sitzt auf dem Schreibtisch und hält den linken Fuß auf einen Schemel, während ihm Sascha, der vor ihm kniet, mit einem Knopfhaken die Stiefel zuknöpft. Ernst Scholz steht hinter dem Diwan und versucht sich auf einer Gitarre, die er von der Wand genommen.


VON KEITH. Wann bist du denn heute morgen in dein Hotel zurückgekommen?

SCHOLZ mit verklärtem Lächeln. Um zehn Uhr.

VON KEITH. Tat ich also nicht recht daran, dich mit diesem entzückenden Geschöpf alleinzulassen?

SCHOLZ selig lächelnd. Nach den Gesprächen von gestern abend über Kunst und moderne Literatur frage ich mich, ob ich bei diesem Mädchen nicht in die Schule gehen soll. Um so mehr wunderte es mich, daß sie dich noch darum bat, an dem Gartenfest, mit dem du München in Erstaunen setzen willst, deine Gäste bedienen zu dürfen.

VON KEITH. Sie rechnet sich das ganz einfach zur Ehre an! Übrigens hat das noch Zeit mit dem Gartenfest. Ich fahre morgen auf einige Tage nach Paris.

SCHOLZ. Das kommt mir aber höchst ungelegen.

VON KEITH. Komm doch mit. Ich will eine meiner Künstlerinnen vor der Marquesi singen lassen, bevor sie hier öffentlich auftritt.

SCHOLZ. Soll ich mir jetzt die Seelenqualen wieder vergegenwärtigen, die ich seinerzeit in Paris durchgekostet habe?!

VON KEITH. Würde dir denn das Erlebnis dieser Nacht nicht darüber hinweghelfen?! – Dann halte dich während meiner Abwesenheit an den Kunstmaler Saranieff. Er wird ja heute wohl irgendwo vor uns auftauchen.

SCHOLZ. Von diesem Saranieff erzählte mir das Mädchen, sein Atelier sei eine Schreckenskammer, voll der entsetzlichsten[452] Greuel, die die Menschheit je verübt hat. Und dann plauderte sie im hellsten Entzücken von ihrer Kindheit, wie sie in Tirol den ganzen Sommer durch in den Kirschbäumen gesessen und im Winter abends bis in die Dunkelheit mit den Dorfkindern Schlitten gefahren sei. – Wie kann es sich dieses Mädchen nur so zur Ehre anrechnen, bei dir als Aufwärterin figurieren zu dürfen!

VON KEITH. Das Geschöpf rechnet sich das zur Ehre an, weil es dabei Gelegenheit findet, die unbegrenzte Verachtung zu bekämpfen, mit der sie von der gesamten bürgerlichen Gesellschaft behandelt wird.

SCHOLZ. Aber was rechtfertigt denn diese Verachtung! Wieviel hundert weibliche Existenzen gehen in den besten Gesellschaftskreisen daran zugrunde, daß der Strom des Lebens versiegt, wie er hier aus seinen Ufern tritt. – Einer Sünde, wie es die seelenmörderische Zwietracht war, in der meine Eltern zwanzig Jahre beieinander aushielten, macht sich dieses Mädchen doch in seinem seligsten Glück nicht schuldig!

VON KEITH. Was ist Sünde!!

SCHOLZ. Darüber war ich mir gestern noch völlig klar. Heute kann ich dafür ohne Beklommenheit aussprechen, was tausend und tausend gutsituierte Menschen wie ich empfunden haben: Das verfehlte Leben blickt mit bitterem Neid auf das verlorene Geschöpf!

VON KEITH. Das Glück dieser Geschöpfe wäre so verachtet nicht, wenn es nicht das denkbar schlechteste Geschäft wäre. Sünde ist eine mythologische Bezeichnung für schlechte Geschäfte. Gute Geschäfte lassen sich nun einmal nur innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung machen! Das weiß niemand besser als ich. Ich, der Marquis von Keith, von dem ganz München spricht, stehe heute bei meinem europäischen Ruf noch ebenso außerhalb der Gesellschaft wie dieses Geschöpf. Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich das Gartenfest gebe. Ich bedaure ungemein, daß ich die Kleine nicht unter meinen Gästen empfangen kann. Um so geschmackvoller wird sie sich dafür unter meiner Bedienung ausnehmen.[453]

SASCHA hat sich erhoben. Befehlen der Herr Baron einen Wagen?

VON KEITH. Ja.

SASCHA ab.

VON KEITH sich in den Stiefeln feststampfend. Du hast gelesen, daß sich gestern die Feenpalastgesellschaft konstituiert hat?

SCHOLZ. Ich habe von gestern auf heute natürlich keine Zeitung in die Hand bekommen.


Beide nehmen am Frühstückstisch Platz.


VON KEITH. Das ganze Unternehmen ruht auf einem Bierbrauer, einem Baumeister und einem Restaurateur. Das sind die Karyatiden, die den Giebel des Tempels tragen.

SCHOLZ. Ein entzückender Mensch ist übrigens dein Freund, der Kriminalbeamte Raspe.

VON KEITH. Er ist ein Schurke; ich liebe ihn aber aus einem anderen Grunde.

SCHOLZ. Er erzählte mir, er sei ursprünglich Theologe gewesen, habe aber durch zu vieles Studieren seinen Glauben verloren und ihn dann auf dem Wege wiederzufinden gesucht, auf dem der verlorene Sohn seinen Glauben wiederfand.

VON KEITH. Er sank immer tiefer und tiefer, bis ihn schließlich die hohe Staatsanwaltschaft in ihren Armen auffing und ihm seinen verlorenen Glauben durch einen zweijährigen Aufenthalt hinter Schloß und Riegel zurückerstattete.

SCHOLZ. Das Mädchen konnte es absolut nicht fassen, daß ich bis heute noch nicht Radfahren gelernt habe. Daß ich in Asien und Afrika nicht Rad gefahren sei, meinte sie, sei sehr vernünftig gewesen wegen der wilden Tiere. In Italien hätte ich denn aber doch damit anfangen können!

VON KEITH. Ich warne dich noch einmal, lieber Freund, sei nicht zu offenherzig! Die Wahrheit ist unser kostbarstes Lebensgut, und man kann nicht sparsam genug damit umgehen.

SCHOLZ. Deshalb hast du dir wohl auch den Namen Marquis von Keith beigelegt?[454]

VON KEITH. Ich heiße mit demselben Recht Marquis von Keith, mit dem du Ernst Scholz heißt. Ich bin der Adoptivsohn des Lord Keith, der im Jahre 1863 ...

SASCHA tritt vom Vorplatz ein, anmeldend. Herr Professor Saranieff!

SARANIEFF tritt ein, in schwarzem Gehrock mit etwas zu langen Ärmeln, hellen, etwas zu kurzen Beinkleidern, grobem Schuhwerk, knallroten Handschuhen; das halblange, straffe, schwarze Haar gerade abgeschnitten; vor den verheißungsvollen Augen trägt er an schwarzem Bande ein Pincenez à la Murillo; ausdrucksvolles Profil, kleiner spanischer Schnurrbart. Den Zylinder gibt er nach der Begrüßung an Sascha. Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück, mein lieber Freund. Endlich sind die Taue gekappt, und der Ballon kann steigen!

VON KEITH. Meine Kommanditäre erwarten mich; ich kann Sie kaum mehr zum Frühstück einladen.

SARANIEFF sich an den Tisch setzend. Ich erlasse Ihnen die Einladung.

VON KEITH. Noch ein Kuvert, Sascha!


Sascha hat den Hut auf dem Vorplatz aufgehängt und geht ins Wohnzimmer ab.


SARANIEFF. Mich wundert nur, daß man den Namen des großen Casimir nicht mit unter den Mitgliedern des Feenpalast-Konsortiums liest.

VON KEITH. Weil ich nicht auf das Verdienst verzichten will, selber der Schöpfer meines Werkes zu sein. Vorstellend. Herr Kunstmaler Saranieff – Graf Trautenau.

SARANIEFF zieht ein Glas und einen Teller heran und bedient sich, zu Scholz. Sie, Herr Graf, kenne ich schon in- und auswendig. Zu von Keith. Simba war eben bei mir; sie sitzt mir gegenwärtig zu einem Böcklin.

VON KEITH zu Scholz. Der Böcklin war nämlich selbst ein großer Maler. Zu Saranieff. Sie brauchten mit solchen Streichen nicht noch zu prahlen!

SARANIEFF. Machen Sie mich berühmt, dann habe ich diese Streiche nicht mehr nötig! Ich bezahle Ihnen dreißig Prozent auf Lebenszeit. Zamrjakis Verstand wackelt schon wie[455] ein morscher Zaunpfahl, weil er durchaus auf ehrlichem Wege unsterblich werden will.

VON KEITH. Mir ist es um seine Musik zu tun. Dem richtigen Komponisten ist sein Verstand nur ein Hindernis.

SCHOLZ. Um unsterblich werden zu wollen, muß man doch wohl schon ganz außergewöhnlich lebenslustig sein.

SARANIEFF zu Scholz. Sie hat mir unsere Simba übrigens als einen hochinteressanten Menschen geschildert.

SCHOLZ. Das glaube ich, daß ihr solche Sauertöpfe wie ich nicht jeden Tag in den Weg laufen.

SARANIEFF. Sie hat Sie den Symbolisten zugeteilt. Zu von Keith. Und dann schwärmte sie von einer bevorstehenden Feenpalast-Gründungsfeier mit eminentem Feuerwerk.

VON KEITH. Mit Feuerwerk blendet man keinen Hund, aber der vernünftigste Mensch fühlt sich beleidigt, wenn man ihm keines vormacht. Ich fahre übrigens vorher noch auf einige Tage nach Paris.

SARANIEFF. Man will wohl Ihre Ansichten über ein deutsch-französisches Schutz- und Trutzbündnis hören?

VON KEITH. Aber sprechen Sie nicht davon!

SCHOLZ. Ich wußte gar nicht, daß du dich auch in der Politik betätigst!

SARANIEFF. Wissen Sie vielleicht irgend etwas, worin sich der Marquis von Keith nicht betätigt?

VON KEITH. Ich will mir nicht vorwerfen lassen, daß ich mich um meine Zeit nicht gekümmert habe!

SCHOLZ. Hat man denn nicht genug mit sich selbst zu tun, wenn man das Leben ernst nimmt?

SARANIEFF. Sie nehmen es allerdings verteufelt ernst! Am Fuße der Pyramiden, in dem Dorfe Gizeh, soll Ihnen die Wäscherin einen Hemdkragen verwechselt haben?

SCHOLZ. Sie scheinen wirklich schon ganz gut über mich unterrichtet zu sein. Wollen Sie mir nicht erlauben, daß ich Sie einmal in Ihrem Atelier besuche?

SARANIEFF. Wenn es Ihnen recht ist, trinken wir jetzt gleich unsern Kaffee bei mir. Sie finden dann auch Ihre Simba noch dort.

SCHOLZ. Simba? – Simba? – Sie reden immer von Simba. Das Mädchen sagte mir doch, daß sie Kathi hieße![456]

SARANIEFF. Von Natur heißt sie Kathi; aber der Marquis von Keith hat sie Simba getauft.

SCHOLZ zu von Keith. Das bezieht sich wohl auf ihre wundervollen roten Haare?

VON KEITH. Darüber kann ich dir mit dem besten Willen keine Auskunft geben.

SARANIEFF. Sie hat es sich auf meinem persischen Diwan bequem gemacht und schläft vorläufig noch ihren Katzenjammer von gestern aus.

MOLLY GRIESINGER kommt aus dem Wohnzimmer und legt Saranieff ein Kuvert vor.

SARANIEFF. Heißen Dank, gnädige Frau; Sie sehen, ich habe schon alles aufgegessen. Verzeihen Sie, daß ich noch nicht Gelegenheit nahm, Ihnen die Hand zu küssen.

MOLLY. Sparen Sie Ihre Komplimente doch für würdigere Gelegenheiten!


Es läutet auf dem Korridor; Molly geht, um zu öffnen.


VON KEITH sieht nach der Uhr und erhebt sich. Sie müssen mich entschuldigen, meine Herren. Ruft. Sascha!

SARANIEFF wischt sich den Mund. Bitte, wir fahren natürlich mit.


Er und Scholz erheben sich. Sascha kommt mit der Garderobe aus dem Wartezimmer und hilft von Keith und Scholz in den Paletot.


SCHOLZ zu von Keith. Warum sagst du mir denn gar nicht, daß du verheiratet bist?

VON KEITH. Laß mich dir deine Krawatte in Ordnung bringen. Er tut es. Du mußt etwas mehr Sorgfalt auf dein Äußeres verwenden.

MOLLY kommt mit Hermann Casimir vom Vorplatz zurück. Der junge Herr Casimir bittet um die Ehre.

VON KEITH zu Hermann. Haben Sie gestern meine Grüße ausgerichtet?

HERMANN. Die Frau Gräfin wartete selbst auf Geld von Ihnen!

VON KEITH. Warten Sie einen Augenblick auf mich. Ich bin gleich zurück. Zu Scholz und Saranieff. Ist es Ihnen recht, meine Herren?

SARANIEFF Sascha seinen Hut abnehmend. Mit Ihnen durch dick und dünn![457]

SASCHA. Der Wagen wartet, Herr Baron.

VON KEITH. Setz dich zum Kutscher!


Scholz, Saranieff, von Keith und Sascha ab.


MOLLY kramt das Frühstücksgeschirr zusammen. Nimmt mich nur wunder, was Sie in diesem Narrenturm suchen! Sie blieben doch wirklich vernünftiger bei Ihrer Frau Mama zu Hause!

HERMANN will sofort das Zimmer verlassen. Meine Mutter lebt nicht mehr, gnädige Frau; aber ich möchte nicht lästig sein.

MOLLY. Um Gottes willen, bleiben Sie nur! Sie genieren hier niemanden. – Aber diese unmenschlichen Eltern, die ihr Kind nicht vor dem Verkehr mit solchen Strauchdieben schützen! – Ich hatte mein glückliches Vaterhaus wie Sie und war weder älter noch klüger als Sie, als ich, ohne mir was dabei zu denken, den Sprung ins Bodenlose tat.

HERMANN sehr erregt. Der Himmel erbarm sich mein – ich muß notwendig einen Weg wählen! Ich gehe zugrunde, wenn ich noch länger hier in München bleibe! Aber der Herr Marquis wird mir seine Hilfe verweigern, wenn er ahnt, was ich vorhabe. Ich bitte Sie, gnädige Frau, verraten Sie mich nicht!

MOLLY. Wenn Sie wüßten, wie es mir ums Herz ist, Sie hätten keine Angst, daß ich mich um Ihre Geschichten bekümmere! Wenn es Ihnen nur nicht noch schlimmer geht als mir! Hätte mich meine Mutter arbeiten lassen, wie ich jetzt arbeite, statt mich jeden freien Nachmittag Schlittschuhlaufen zu schicken, ich hätte heute mein Lebensglück noch vor mir!

HERMANN. Aber – wenn Sie so grenzenlos unglücklich sind und wissen, – daß sie noch glücklich werden können, warum – warum lassen Sie sich denn dann nicht scheiden?

MOLLY. Reden Sie doch um Gottes willen nicht über Dinge, von denen Sie nichts verstehen! Wenn man hingehen will, um sich scheiden zu lassen, dann muß man erst einmal verheiratet sein.

HERMANN. Verzeihen Sie, ich – meinte, Sie wären verheiratet.[458]

MOLLY. Ich will mich hier weiß Gott über niemanden beklagen! Aber um sich zu verheiraten, hat man nun einmal in der ganzen Welt zuerst Papiere nötig. Und das ist ja unter seiner Würde, Papiere zu haben! Da es auf dem Korridor läutet. Von früh bis spät geht es wie in einem Postbureau! Ab nach dem Vorplatz.

HERMANN sich sammelnd. Wie konnte ich mich nur so verplappern!

MOLLY geleitet die Gräfin Werdenfels herein. Wenn Sie hier vielleicht auf meinen Mann warten wollen. Er muß ja wohl gleich kommen. Darf ich die Herrschaften bekannt machen?

ANNA. Danke. Wir kennen uns.

MOLLY. Natürlich! Dann bin ich ja überflüssig.


Ins Wohnzimmer ab.


ANNA läßt sich neben Hermann auf den Schreibtischsessel nieder und legt ihre Hand auf die seinige. Nun erzählen Sie mir einmal offen und ausführlich, mein lieber junger Freund, wozu Sie auf Ihrer Schulbank soviel Geld brauchen.

HERMANN. Das sage ich Ihnen nicht.

ANNA. Ich möchte es aber so gerne wissen!

HERMANN. Das glaube ich Ihnen!

ANNA. Trotzkopf!

HERMANN entzieht ihr seine Hand. Ich lasse mich nicht so behandeln!

ANNA. Wer behandelt Sie denn? Bilden Sie sich doch nichts ein! – Sehen Sie, ich teile die Menschen in zwei große Klassen. Die einen sind hopp- hopp und die andern sind etepetete.

HERMANN. Ich bin Ihrer Ansicht nach natürlich etepetete.

ANNA. Wenn Sie nicht einmal sagen dürfen, wozu Sie all das viele Geld nötig haben ...

HERMANN. Jedenfalls nicht, weil ich etepetete bin!

ANNA. Das habe ich Ihnen doch auf den ersten Blick angesehen: Sie sind hopp-hopp!

HERMANN. Das bin ich auch; sonst bliebe ich gemütlich in München.

ANNA. Aber Sie wollen hinaus in die Welt!

HERMANN. Und Sie möchten gerne wissen, wohin. Nach Paris – nach London.[459]

ANNA. Paris ist heutzutage doch gar nicht mehr Mode!

HERMANN. Ich will auch gar nicht nach Paris.

ANNA. Warum bleiben Sie denn nicht lieber hier in München? – Sie haben einen steinreichen Vater ...

HERMANN. Weil man hier nichts erlebt! – Ich verkomme hier in München, besonders wenn ich noch länger auf der Schulbank sitzen muß. Ein früherer Klassenkamerad schreibt mir aus Afrika, wenn man sich in Afrika unglücklich fühle, dann fühle man sich noch zehnmal glücklicher, als wenn man sich in München glücklich fühle.

ANNA. Ich will Ihnen etwas sagen: Ihr Freund ist etepetete. Gehen Sie nicht nach Afrika. Bleiben Sie lieber hier bei uns in München und erleben Sie etwas.

HERMANN. Aber das ist hier doch gar nicht möglich!

MOLLY läßt den Kriminalkommissar Raspe eintreten. Raspe, anfangs der Zwanziger, in heller Sommertoilette und Strohhut, hat die kindlich-harmlosen Züge eines Guido Renischen Engels. Kurzes blondes Haar, keimender Schnurrbart. Wenn er sich beobachtet fühlt, klemmt er einen blauen Kneifer vor die Augen. Mein Mann wird gleich kommen; wenn Sie einen Augenblick warten wollen. Darf ich Sie vorstellen ...

RASPE. Ich weiß wirklich nicht, gnädige Frau, ob dem Herrn Baron damit gedient wäre, daß Sie mich vorstellen.

MOLLY. Na, dann nicht! – um Gottes willen!


Ins Wohnzimmer ab.


ANNA. Ihre Vorsicht ist übrigens vollkommen überflüssig. Wir kennen uns doch.

RASPE nimmt auf dem Diwan Platz. Hm – ich muß mich erst in meinen Erinnerungen zurechtfinden ...

ANNA. Wenn Sie sich zurechtgefunden haben, dann möchte ich Sie übrigens auch darum bitten, mich nicht vorzustellen.

RASPE. Wie ist es aber möglich, daß ich hier nie ein Wort über Sie gehört habe!

ANNA. Das sind nur Namensunterschiede. Von Ihnen erzählte man mir, Sie hätten zwei Jahre in absoluter Einsamkeit zugebracht.

RASPE. Worauf Sie natürlich nicht durchblicken ließen, daß Sie mich in meiner höchsten Glanzzeit gekannt hatten.[460]

ANNA. Wen hat man nicht alles in seiner Glanzzeit gekannt!

RASPE. Sie haben ganz recht. Mitleid ist Gotteslästerung. – Was konnte ich dafür! Ich war das Opfer des wahnsinnigen Vertrauens geworden, das mir jedermann entgegenbrachte.

ANNA. Jetzt sind Sie aber wieder hopp-hopp?

RASPE. Jetzt verwerte ich das wahnsinnige Vertrauen, das mir jedermann entgegenbringt, zum Wohle meiner Mitmenschen. – Können Sie mir übrigens etwas Näheres über diesen Genußmenschen sagen?

ANNA. Ich bedaure sehr; den hat man mir noch nicht vorgeritten.

RASPE. Das wundert mich außerordentlich. Ein gewisser Herr Scholz, der sich hier in München zum Genußmenschen ausbilden will.

ANNA. Und dazu macht ihn der Marquis von Keith mit einem Kriminalkommissar bekannt?

RASPE. Ein ganz harmloser Mensch. Ich wußte gar nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich führte ihn zu seiner Ausbildung ins Hofbräuhaus. Das liegt hier ja gleich nebenan.


Molly öffnet die Entreetür und läßt den Konsul Casimir eintreten. Er ist ein Mann in der Mitte der Vierziger, etwas vierschrötig, in opulente Eleganz gekleidet; volles Gesicht mit üppigen schwarzen Favorits, starkem Schnurrbart, buschigen Augenbrauen, das Haar sorgfältig in der Mitte gescheitelt.


MOLLY. Mein Mann ist nicht zu Hause. –


Ab.


CASIMIR geht, ohne jemanden zu grüßen, auf Hermann zu. Da ist die Türe! – – In dieser Räuberhöhle muß ich dich aufstöbern!

HERMANN. Du würdest mich hier auch nicht suchen, wenn du nicht für deine Geschäfte fürchtetest!

CASIMIR dringt auf ihn ein. Willst du still sein! – Ich werde dir Beine machen!

HERMANN zieht einen Taschenrevolver. Rühr mich nicht an, Papa! – Rühr mich nicht an! Ich erschieße mich, wenn du mich anrührst!

CASIMIR. – Das bezahlst du mir, wenn du zu Hause bist!

RASPE. Wer läßt sich denn auch wie ein Stück Vieh behandeln![461]

CASIMIR. Beschimpfen lassen soll ich mich hier noch ...!

ANNA tritt ihm entgegen. Bitte, mein Herr, das gibt ein Unglück. Werden Sie erst selbst ruhig. Zu Hermann. Seien Sie vernünftig; gehen Sie mit Ihrem Vater.

HERMANN. Ich habe zu Hause nichts zu suchen. Er merkt es nicht einmal, wenn ich mich sinnlos betrinke, weil ich nicht weiß, wozu ich auf der Welt bin!

ANNA. Dann sagen Sie ruhig, was Sie beabsichtigen; aber drohen Sie Ihrem Vater nicht mit dem Revolver. Geben Sie mir das Ding.

HERMANN. Das könnte mir einfallen!

ANNA. Sie werden es nicht bereuen. Ich gebe ihn Ihnen zurück, wenn Sie ruhig sind. – Halten Sie mich für eine Lügnerin?

HERMANN gibt ihr zögernd den Revolver.

ANNA. Jetzt bitten Sie Ihren Vater um Verzeihung. Wenn Sie einen Funken Ehre im Leibe haben, können Sie von Ihrem Vater nicht erwarten, daß er den ersten Schritt tut.

HERMANN. Ich will aber nicht zugrunde gehen!

ANNA. Erst bitten Sie um Verzeihung. Seien Sie fest überzeugt, daß Ihr Vater dann auch mit sich reden läßt.

HERMANN. – Ich – ich – bitte dich um ...


Er sinkt in die Knie und schluchzt.


ANNA sucht ihn aufzurichten. Schämen Sie sich! Blicken Sie doch Ihrem Vater in die Augen!

CASIMIR. Die Nerven seiner Mutter!

ANNA. Beweisen Sie Ihrem Vater, daß er Vertrauen zu Ihnen haben kann. – Jetzt gehen Sie nach Hause, und wenn Sie ruhig geworden sind, dann setzen Sie Ihrem Vater Ihre Pläne und Wünsche auseinander. –


Sie geleitet ihn hinaus.


CASIMIR zu Raspe. Wer ist diese Dame?

RASPE. Ich sehe sie heute seit zwei Jahren zum erstenmal wieder. Damals war sie Verkäuferin in einem Geschäft in der Perusastraße und hieß Huber, wenn ich mich recht erinnere. Aber wenn Sie etwas Näheres wissen wollen ...

CASIMIR. Ich danke Ihnen. Gehorsamer Diener! Ab.


[462] Molly kommt aus dem Wohnzimmer, um das Frühstücksgeschirr hinauszutragen.


RASPE. Entschuldigen Sie, gnädige Frau; hatte der Herr Baron wirklich die Absicht, vor Tisch noch zurückzukommen?

MOLLY. Ich bitte Sie um Gottes willen, fragen Sie mich nicht nach solchen Lächerlichkeiten!

ANNA kommt vom Vorplatz zurück, zu Molly. Darf ich Ihnen nicht vielleicht etwas abnehmen?

MOLLY. Sie fragen mich auch noch, ob Sie mir nicht vielleicht etwas ... Den Präsentierteller wieder auf den Tisch setzend. Räume den Tisch ab, wer will; ich habe nicht daran gesessen! – Ins Wohnzimmer ab.

RASPE. Das haben Sie einfach tadellos gemacht mit dem Jungen.

ANNA setzt sich wieder zum Schreibtisch. Ich beneide ihn um die Equipage, in der ihn sein Alter nach Haus fährt.

RASPE. Sagen Sie mir, was ist denn eigentlich aus diesem Grafen Werdenfels geworden, der damals vor zwei Jahren ein Champagnergelage nach dem andern gab?

ANNA. Ich trage seinen Namen.

RASPE. Das hätte ich mir doch denken können! – Wollen Sie dem Herrn Grafen, bitte, meinen aufrichtigsten Glückwunsch zu seiner Wahl aussprechen?

ANNA. Das ist mir nicht mehr möglich.

RASPE. Sie leben selbstverständlich getrennt?

ANNA. Selbstverständlich, ja. Da Stimmen auf dem Korridor laut werden. Ich erzähle Ihnen das ein anderes Mal.


Von Keith tritt ein mit den Herren Ostermeier, Krenzl und Grandauer, alle drei mehr oder weniger schmerbäuchige triefäugige Münchner Pfahlbürger. Ihnen folgt Sascha.


VON KEITH. Das trifft sich ausgezeichnet, daß ich Sie gleich mit einer unserer ersten Künstlerinnen bekannt machen kann. – Sascha, trag den Kram hinaus!

SASCHA mit dem Frühstücksgeschirr ins Wohnzimmer ab.

VON KEITH vorstellend. Herr Bierbrauereibesitzer Ostermeier, Herr Baumeister Krenzl, Herr Restaurateur Grandauer, die Karyatiden des Feenpalastes – Frau Gräfin Werdenfels.[463] Aber Ihre Zeit ist gemessen, meine Herren; Sie wollen die Pläne sehen. Nimmt die Pläne vom Schreibtisch und entrollt sie auf dem Mitteltisch.

OSTERMEIER. Lassen's Ihnen Zeit, verehrter Freund. Auf fünf Minuten kommt es nicht an.

VON KEITH zu Grandauer. Wollen Sie bitte halten. – Was Sie hier sehen, ist der große Konzertsaal mit entfernbarem Plafond und Oberlicht, so daß er im Sommer als Ausstellungspalast dienen kann. Daneben ein kleinerer Bühnensaal, den ich durch die allermodernste Kunstgattung populär machen werde, wissen Sie, was so halb Tanzboden und halb Totenkammer ist. Das Allermodernste ist immer die billigste und wirksamste Reklame.

OSTERMEIER. Hm – haben's auch auf die Toiletten nicht vergessen?

VON KEITH. Hier sehen Sie die Garderoben- und Toilettenverhältnisse in durchgreifendster Weise gelöst. – Hier, Herr Baumeister, der Frontaufriß: Auffahrt, Giebelfeld und Karyatiden.

KRENZL. I mecht denn aber fein net mit von dena Karyatiden sein!

VON KEITH. Das ist doch ein Scherz von mir, mein verehrter Herr!

KRENZL. Was saget denn mei Alte, wann i mi da heroben wollt als Karyatiden aushauen lassen, nachher noch gar an eim Feenpalast!

GRANDAUER. Wissens, mir als Restaratär is halt d' Hauptsach bei dera G'schicht, daß i Platz hab.

VON KEITH. Für die Restaurationslokalitäten, mein lieber Herr Grandauer, ist das ganze Erdgeschoß vorgesehen.

GRANDAUER. Zum Essen und Trinken megen d' Leit halt net so eingepfercht sein als wie beim Kunstgenuß.

VON KEITH. Für den Nachmittagskaffee, lieber Herr Grandauer, haben Sie hier eine Terrasse im ersten Stock mit großartiger Aussicht auf die Isaranlagen.

OSTERMEIER. I mecht Sie halt nur noch bitten, verehrter Freund, daß Sie uns Ihre Eröffnungsbilanz sehen lassen.

VON KEITH ein Schriftstück produzierend. Viertausend Anteilscheine à Fünftausend, macht rund zwanzig Millionen Mark. – Ich gehe von der Bedingung aus, meine Herren,[464] daß jeder von uns vierzig Vorzugsaktien zeichnet und schlankweg einzahlt. Die Rentabilitätsberechnung, sehen Sie, ist ganz außergewöhnlich niedrig gestellt.

KRENZL. Es fragt sich jetzt halt nur noch, ob der Magistrat die Bedürfnisfrag bejaht.

VON KEITH. Deshalb wollen wir außer den Aktien eine Anzahl Genußscheine ausgeben und der Stadt einen Teil davon zu wohltätigen Zwecken zur Verfügung stellen. – Für die Vorstandsmitglieder sind zehn Prozent Tantiemen vom Reingewinn vor Abzug der Abschreibungen und Reserven vorgesehen.

OSTERMEIER. Alles was recht ist. Mehr kann man nicht verlangen.

VON KEITH. Den Börsenmarkt muß man etwas bearbeiten. Ich fahre deshalb morgen nach Paris. Heute in vierzehn Tagen findet unsere Gründungsfeier in meiner Villa an der Briennerstraße statt.


Anna zuckt zusammen.


OSTERMEIER. Wann's bis zu dera Gründungsfeier halt nur auch den Konsul Casimir dazu brächten, daß er mitmacht!

KRENZL. Das wär halt g'scheit. Wann mir den Konsul Casimir haben, nachher sagt der Magistrat eh' zu allem ja.

VON KEITH. Ich hoffe, meine Herren, wir werden schon vor dem Fest eine Generalversammlung einberufen können. Da werden Sie sehen, ob ich Ihre Anregungen in bezug auf den Konsul Casimir zu berücksichtigen weiß.

OSTERMEIER schüttelt ihm die Hand. Dann wünsche ich vergnügte Reise, verehrter Freund. Lassen Sie uns aus Paris etwas hören. Sich gegen Anna verbeugend. Habe die Ehre, mich zu empfehlen; mein Kompliment.

GRANDAUER. Ich empfehle mich; habe die Ehre, guten Nachmittag zu wünschen.

KRENZL. Meine Hochachtung. Servus!


Von Keith geleitet die Herren hinaus.


ANNA nachdem er zurückgekommen. Was in aller Welt fällt dir denn ein, deine Gründungsfeier in meinem Haus zu veranstalten?!

VON KEITH. Ich werde dir in Paris eine Konzerttoilette anfertigen[465] lassen, in der du zum Singen keine Stimme mehr nötig hast. – Zu Raspe. Von Ihnen, Herr Kriminalkommissar, erwarte ich, daß Sie an unserer Gründungsfeier die Gattinnen der drei Karyatiden mit dem ganzen Liebreiz Ihrer Persönlichkeit bezaubern.

RASPE. Die Damen werden sich nicht über mich zu beklagen haben.

VON KEITH ihm Geld gebend. Hier haben Sie dreihundert Mark. Ein Feuerwerk bringe ich aus Paris mit, wie es die Stadt München noch nicht gesehen hat.

RASPE das Geld einsteckend. Das hat er von dem Genußmenschen bekommen.

VON KEITH zu Anna. Ich verwerte jeden Sterblichen seinen Talenten entsprechend und muß meinen näheren Bekannten Herrn Kriminalkommissar Raspe gegenüber etwas Vorsicht anempfehlen.

RASPE. Wenn man, wie Sie, wie vom Galgen geschnitten aussieht, dann ist es keine Kunst, ehrlich durchs Leben zu kommen. Ich wollte sehen, wo Sie mit meinem Engelsgesicht heute steckten!

VON KEITH. Ich hätte mit Ihrem Gesicht eine Prinzessin geheiratet.

ANNA zu Raspe. Wenn mir recht ist, lernte ich Sie doch seinerzeit unter einem französischen Namen kennen.

RASPE. Französische Namen führe ich nicht mehr, seitdem ich ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden bin. – Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen empfehle.


Ab.


ANNA. Ich bin aber doch mit meiner Bedienung nicht darauf eingerichtet, große Soupers zu geben!

VON KEITH ruft. Sascha!

SASCHA kommt aus dem Wartezimmer. Herr Baron?

VON KEITH. Willst du an dem Gartenfest bei meiner Freundin bedienen helfen?

SASCHA. Dös is mir a Freud, Herr Baron.


Ab.


VON KEITH. Darf ich dir heute meinen ältesten Jugendfreund, den Grafen Trautenau, vorstellen?

ANNA. Ich habe mit Grafen kein Glück.

VON KEITH. Das macht nichts. Ich bitte dich nur darum, meine Familienverhältnisse nicht mit ihm zu erörtern. Er ist nämlich wirklich Moralist, von Natur und aus Überzeugung.[466] Er hat mich meiner Häuslichkeit wegen heute schon ins Gebet genommen.

ANNA. Allmächtiger Gott, der will sich doch nicht etwa zum Genußmenschen ausbilden?!

VON KEITH. Das ist Selbstironie! Er lebt, seit ich ihn kenne, in nichts als Aufopferung, ohne zu merken, daß er zwei Seelen in seiner Brust hat.

ANNA. Auch das noch! Ich finde, man hat an einer schon zuviel. – Aber heißt der nicht Scholz?

VON KEITH. Seine eine Seele heißt Ernst Scholz und seine andere Graf Trautenau.

ANNA. Dann bedanke ich mich! Ich will nichts mit Menschen zu tun haben, die mit sich selber nicht im reinen sind.

VON KEITH. Er ist ein Ausbund von Reinheit. Die Welt hat ihm keinerlei Genuß mehr zu bieten, wenn er nicht wieder von unten anfängt.

ANNA. Der Mensch soll doch lieber noch eine Treppe höher steigen!

VON KEITH. Was erregt dich denn so?

ANNA. Daß du mich mit diesem fürchterlichen Ungeheuer verkuppeln willst!

VON KEITH. Er ist lammfromm.

ANNA. Ich danke schön! Ich werde doch das verkörperte Unglück nicht in meinem Boudoir empfangen!

VON KEITH. Du verstehst mich wohl nicht recht. Ich kann sein Vertrauen augenblicklich nicht entbehren und will mich deshalb seiner Mißbilligung nicht aussetzen. Wenn er dich nicht kennenlernt, um so besser für mich, dann habe ich keine Vorwürfe von ihm zu fürchten.

ANNA. Wer will bei dir wissen, wo die Berechnung aufhört!

VON KEITH. Was dachtest du dir denn?

ANNA. Ich glaubte, du wolltest mich bei deinem Freund als Dirne verwerten.

VON KEITH. Das traust du mir zu?!

ANNA. Du sagtest vor einer Minute noch, daß du jeden Sterblichen nach seinen Talenten verwertest. Und daß ich Talent zur Dirne habe, das wird doch wohl niemand in Zweifel ziehen.

VON KEITH Anna in die Arme schließend. Anna – ich fahre morgen nach Paris, nicht um den Börsenmarkt zu bearbeiten[467] oder um Feuerwerk einzukaufen, sondern weil ich frische Luft atmen muß, weil ich mir die Arme ausrecken muß, wenn ich meine überlegene Haltung hier in München nicht verlieren will. Würde ich dich, Anna, mit nach Paris nehmen, wenn du mir nicht mein Alles wärst?! – – Weißt du, Anna, daß keine Nacht vergeht, ohne daß ich dich im Traum mit einem Diadem im Haar vor mir sehe? Wenn es darauf ankommt, für dich einen Stern vom Firmament zu holen, ich schrecke nicht davor zurück, ich finde Mittel und Wege.

ANNA. Verwerte mich doch als Dirne! – Du wirst ja sehen, ob ich dir etwas einbringe!

VON KEITH. Dabei habe ich in diesem Augenblick keinen anderen Gedanken in meinem Kopf, als die Konzerttoilette, die ich dir bei Saint-Hilaire anfertigen lassen werde ...

SASCHA kommt vom Vorplatz herein. Ein Herr Sommersberg möcht' um die Ehr' bitten.

VON KEITH. Laß ihn eintreten. Zu Anna, die Toilette markierend. Eine Silberflut von hellvioletter Seide und Pailletten von den Schultern bis auf die Knöchel, so eng geschnürt und vorn und hinten so tief ausgeschnitten, daß das Kleid nur wie ein glitzerndes Geschmeide auf deinem schlanken Körper erscheint!


Sommersberg ist eingetreten, Ende der Dreißiger, tiefgefurchtes Antlitz, Haar und Bart graumeliert und ungekämmt. Ein dicker Winterüberrock verdeckt seine ärmliche Kleidung, zerrissene Glacéhandschuhe.


SOMMERSBERG. Ich bin der Verfasser der »Lieder eines Glücklichen«. Ich sehe nicht danach aus.

VON KEITH. So habe ich auch schon ausgesehen!

SOMMERSBERG. Ich hätte auch den Mut nicht gefunden, mich an Sie zu wenden, wenn ich nicht tatsächlich seit zwei Tagen beinah nichts gegessen hätte.

VON KEITH. Das ist mir hundertmal passiert. Wie kann ich Ihnen helfen?

SOMMERSBERG. Mit einer Kleinigkeit – für ein Mittagbrot ...

VON KEITH. Zu etwas Besserem tauge ich Ihnen nicht?

SOMMERSBERG. Ich bin Invalide.

VON KEITH. Sie haben aber das halbe Leben noch vor sich![468]

SOMMERSBERG. Ich habe mein Leben daran vergeudet, den hohen Erwartungen, die man in mich setzte, gerecht zu werden.

VON KEITH. Vielleicht finden Sie doch noch eine Strömung, die Sie aufs offene Meer hinausträgt. – Oder zittern Sie um Ihr Leben?

SOMMERSBERG. Ich kann nicht schwimmen; und hier in München erträgt sich die Resignation nicht schwer.

VON KEITH. Kommen Sie doch heute in vierzehn Tagen zu unserer Gründungsfeier in der Briennerstraße. Da können sich Ihnen die nützlichsten Beziehungen erschließen. Gibt ihm Geld. Hier haben Sie hundert Mark. Behalten Sie so viel von dem Geld übrig, daß Sie sich für den Abend einen Gesellschaftsanzug leihen können.

SOMMERSBERG zögernd das Geld nehmend. Ich habe das Gefühl, als betrüge ich Sie ...

VON KEITH. Betrügen Sie sich selbst nicht! Dadurch tun Sie schon ein gutes Werk an dem nächsten armen Teufel, der zu mir kommt.

SOMMERSBERG. Ich danke Ihnen, Herr Baron.


Ab.


VON KEITH. Bitte, gar keine Ursache! Nachdem er die Tür hinter ihm geschlossen, Anna in die Arme schließend. Und jetzt, meine Königin, fahren wir nach Paris![469]

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 452-470.
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