Fünfter Akt


[653] Szenerie wie im dritten Akt. – Fanny stellt auf Schreibtisch und Kommode einige einfache Blumen zurecht. Es klopft; sie geht zur Tür und öffnet. Gellinghausen tritt ein.


FANNY. Ach, Sie sind es, Herr Gellinghausen.

GELLINGHAUSEN. Ich hörte, Herr Hetmann würde es nicht gern sehen, wenn man ihn an der Anstalt abholt. Deshalb komme ich her, um ihn hier zu seiner Freilassung zu beglückwünschen. – Außerdem komme ich allerdings noch aus einem anderen Grunde.

FANNY wieder mit den Blumen beschäftigt. Ich hoffe nur, Sie werden Hetmann nicht dazu beglückwünschen wollen, daß ihn die Irrenärzte für geistig gesund erklärt haben.

GELLINGHAUSEN. Eine solche Vierschrötigkeit trauen Sie mir doch wohl auch im Ernst nicht zu. Aber es ist doch wohl Grund genug vorhanden, jemanden zu beglückwünschen, der nach vierteljährigem Aufenthalt hinter verschlossenen Türen endlich seine Freiheit wiedererlangt hat. Übrigens führt mich, wie gesagt, noch ein anderer Grund her. Da Sie auf der Redaktion nicht zu sehen waren, ging ich in Ihre Wohnung. Dort sagte man mir, was ich mir ohnehin hätte denken können, Sie erwarteten den Befreiten hier in seiner Behausung. Nun frage ich Sie, Fräulein Fanny, wollen Sie wirklich Ihre schönsten Lebensjahre in den Wirrnissen mit diesem bemitleidenswürdigen Toren aufgehen lassen? – Ich habe Sie seinerzeit in unerhörter Weise beleidigt; aber die Ereignisse haben seitdem einen völlig anderen Menschen aus mir gemacht, und Sie glauben nicht, um wie viel höher ich Sie dabei schätzen und verehren gelernt habe! – Ich bin heute kein reicher Mann mehr. Törichterweise zog ich mein Vermögen gerade in dem Augenblick aus dem Geschäft zurück, wo es plötzlich zu blühen begann. Damals ergab sich natürlich, daß von meinem Geld so gut wie nichts übriggeblieben war.[654] Aber mit meiner Arbeit verdiene ich in der ganzen Welt so viel, daß Sie vor jeder Sorge gesichert wären. Und dabei hätten Sie wenigstens das Bewußtsein, das Ihnen in Ihrem jetzigen Leben fehlt, das Bewußtsein, einen Menschen über alle menschlichen Begriffe hinaus glücklich zu machen.

FANNY. Ich kann Ihnen zu meinem Bedauern nicht anders als mit dem entschiedensten Nein antworten. – Jetzt kommt Hetmann! Sie eilt zur Tür.


Hetmann tritt ein und sieht sich um. Er ist während des ganzen Aktes launig und aufgeräumt.


HETMANN. Noch ganz die alte Herrlichkeit! – Guten Tag, mein Herz! – Guten Tag, Herr Gellinghausen! Er reicht beiden die Hand.

GELLINGHAUSEN seine Hand drückend. Ich danke Ihnen, Herr Hetmann. Ich wollte Ihnen nur meinen Glückwunsch zu Ihrer Befreiung aussprechen. Erlauben Sie mir, daß ich mich gleich empfehle. Ich fühle mich hier doch nicht recht an meinem Platz.

HETMANN. Gewiß; Ihre Geschäfte gehen vor.


Gellinghausen ab.


HETMANN. Und du bist also immer noch das herrliche Weib, auf dessen Stolz ich meine uneinnehmbaren Luftschlösser baute!

FANNY. Ich bin ein schlichtes menschliches Geschöpf wie alle andern. Ich weiß nicht, ob ich Ihr Lob mit Entsetzen anhören soll, oder ob ich es mit Entzücken aufnehmen darf? – Sie sind so unberechenbar, daß mir der Laut auf den Lippen erstirbt, den Ihnen jedes andere Weib in diesem Augenblick Mund auf Mund zuflüstern würde! – Aber haben Sie jetzt nicht erkannt, daß sich die Fesseln, in die wir Menschenkinder geschmiedet sind, nicht zerreißen lassen, ohne daß wir uns der entsetzlichsten Hilflosigkeit preisgeben? – Ich gelte seit Jahr und Tag als Ihre Geliebte. Wie selig wäre ich – ich sage es offen und ohne Scheu – wenn ich mich solchen Glückes rühmen dürfte![655]

HETMANN. Trotz meiner Überzeugungen haben mich eben erst die größten ärztlichen Autoritäten für geistig gesund erklärt. Soll ich den Herren ihren Unverstand nun in Flammenschrift demonstrieren, indem ich dem Unerläßlichsten, worauf ich vor ihnen schwor, einen Faustschlag ins Gesicht gebe?! Meiner scheußlichen, grauenerregenden Mißgestaltung soll ich deine leuchtende Schönheit verkuppeln?! Alles was mich an Erkenntnissen, an Kraft, Elastizität und Zuversicht erfüllt, soll ich im Stich lassen, nur um dich als Weib in den Armen zu halten?! Habe ich noch nicht einmal erreicht, daß ich mir meine eigene Verdammung nicht mehr zumuten zu lassen brauche?!

FANNY. So verfluche ich alles, was du Schönheit nennst, weil ich vor der Mißgestaltung besinnungslos auf den Knien liege! Laß dich aus deinen Himmeln vollends zu mir herab, nachdem du mich aus der Welt, in der andere leben, halb zu dir emporhobst! Unter deinem steinernen Mantel von Selbstlosigkeit schlägt ein Herz, das sich kindlich freuen kann, ein Herz, dem Tränen Wohltat sind! Gib ihm sein Teil, dann bist du vor Hilflosigkeit gesichert! Gib mir, ich umfasse deine Knie darum, gib mir den Anteil, den ich mir an dir verdient habe! Gib mir dein Vertrauen! Laß mich an den Kämpfen teilnehmen, die deine Seele durchtoben! Nimm mich, um über meine Niedrigkeit zu lächeln, dann bist du mein! Gönne mir den Sieg, dir Tränen von der Wange zu trocknen, so kommst du zu mir zurück! Fürchte bei Gott nicht, ich wolle dich aus deinen Himmeln herabziehen! Aber jeder große Mensch hatte zwei Naturen, deren keine ohne die andere sein konnte. Feste erwarte ich ja nicht! Freudentaumel finde ich in deinem Wohl! Gleichviel, ob mein Leben Schrecken sei oder Ruhe, aber von dir muß mein Leben kommen! Von dir muß es kommen! Von dir! Das habe ich um dich verdient! Und kein ander Weib darf sonst daran teilhaben! Sie ist vor ihm in die Knie gesunken.

HETMANN. Steh auf, mein Kind! Ich war mir augenblicklich nicht bewußt, wie tief ich in deiner Schuld stehe! – Modulationen, Variationen, die ich Ton für Ton auswendig[656] weiß wie das Abc. – Sie emporhebend. Steh auf, wenn es dir gelingt, mich lächeln zu machen, um so besser für mich! Dann gehör ich dir mit Leib und Seele! Aber dazu mußt du auch bei mir bleiben! Trotz meiner Häßlichkeit! Hörst du? Immer bei mir bleiben! Sie streichelnd. Du schönes Geschöpf! Da an die Tür gepocht wird. Da kommt schon jemand, um uns zu stören!

FANNY. Laß ihn nicht ein, ich bitte dich!


Es wird stärker gepocht.


HETMANN. Der Mann klopft sehr eindringlich!

FANNY angstvoll. Herein!


Von Brühl tritt ein. Er trägt kurzen Vollbart. In der Hand hält er ein dickes, neugebundenes Buch.


VON BRÜHL. Ich bringe Ihnen das Buch, Herr Hetmann, das ich über Sie geschrieben habe. Es wird dem Buch vielleicht vergönnt sein, Ihnen einige Stunden angenehmer Unterhaltung zu bereiten. Sollte ich es darin überschätzen, dann bitte ich Sie, wenigstens mein ehrliches Wollen nicht zu verkennen.

HETMANN. Sie haben sich verheiratet, Herr von Brühl, wie ich zu meiner großen Freude gehört habe! Überdies sind Sie kürzlich zum Außerordentlichen Professor ernannt worden!

VON BRÜHL. Meine Ernennung zum Professor hat mit den Arbeiten, die mir wirklich am Herzen liegen, wohl nur sehr wenig zu tun. Nachdem beide Platz genommen, das Buch aufschlagend. Ich habe mich in dem Buch in erster Linie an die Gespräche gehalten, die Sie mit den Personen Ihrer Umgebung führen. Von einer eingehenden Besprechung Ihrer Schriften glaubte ich absehen zu müssen. Ich bitte Sie, das nicht mißzuverstehen. Es kam mir im wesentlichen darauf an, der Welt die Gedanken zu erhalten, die Sie selber keiner Aufzeichnung würdigen.

HETMANN. Fürchten Sie denn nicht, Herr von Brühl, sich und der Welt damit einen schlechten Dienst geleistet zu haben?

VON BRÜHL. Ich weiß nicht, Herr Hetmann, wie ich das verstehen soll?[657]

HETMANN. Je gewissenhafter ich das Urteil bei mir überlege, das die ersten ärztlichen Autoritäten vor kurzem über mich abgaben, indem sie mich für geistig vollkommen normal erklärten, um so unerschütterlicher wird die Überzeugung in mir, daß sich die Herren getäuscht haben.

VON BRÜHL. Ich kann Ihnen kaum sagen, wie hoch es mich beglückt, Sie in so göttlicher Laune über den Schimpf, den man Ihnen angetan hat, spotten zu hören!

HETMANN. Dann lösen Sie mir selber das Rätsel! Wie kann ich mich als normaler Mensch seit frühester Kindheit in einem so abgrundtiefen, unüberbrückbaren Gegensatz zur normalen Welt befinden?! – – Mögen mich daher die Professoren beurteilen, wie sie wollen, ich weiß, was ich von mir zu halten habe. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, von heute ab über die normale Welt als über etwas hinwegzusehen, was für mich gar nicht mehr vorhanden ist!

VON BRÜHL. Es ist bedauerlich genug, daß der Hetmannismus voraussichtlich noch Jahrzehnte auf die ernste Anerkennung warten muß, die ihm gebührt.

HETMANN. Sind Sie, Herr von Brühl, denn wirklich schon betört genug, um aufrichtig daran zu glauben, daß zum Beispiel die drei barbarischen Lebensformen, von denen ich sprach, jemals von der Menschheit allgemein als solche beurteilt werden?! – Daß zum Beispiel meine Behauptung: » Die Bewertung der Jungfräulichkeit ist unsittlich«, jemals als der Gedanke eines vernünftigen Menschen angesehen wird?!

VON BRÜHL. Dessen bin ich vollkommen sicher!

HETMANN. Ich nicht! Aber mich kümmert Gott sei Dank keine Anerkennung mehr! Bei meiner jetzigen Selbsterkenntnis muß mir jede Anerkennung, komme sie von wem sie wolle, von vornherein verdächtig sein! Ich weise sie zurück! Ich verfolge von heute ab nur noch das eine Ziel, mir meine Freiheit zu wahren! Meine durch nichts beschränkte Freiheit! Meine unantastbare Freiheit! Sobald ich den Vorzug anerkenne, von irgendeinem Menschen – auch von Ihnen – anerkannt zu werden, setze ich dadurch einen Tyrannen über mich ein, der mich nach[658] Gutdünken in Ungnade fallen lassen kann. Vor dieser Gefahr will ich gesichert sein! – Von Ihrer Aufrichtigkeit, Herr von Brühl, bin ich tief überzeugt. Aber diese Frau Auf Fanny deutend. ist ebenso aufrichtig wie Sie: Sie hat alles bis auf den letzten Buchstaben widerrufen, was sie für ihr ganzes Leben beteuert hatte! Und trotzdem ist sie eines der herrlichsten Menschenkinder, die die Natur geschaffen! Und wenn dies Buch, das Sie hier geschrieben haben, keine Anerkennung findet, wendet sich Ihr Groll dann nicht berechtigterweise gegen mich? Werden Sie mir nicht vorwerfen, daß ich Sie verführt und um den Ertrag Ihres Lebens betrogen habe?! Und trotzdem bleiben Sie einer der vornehmsten Menschen, die mir in dieser Welt begegnet sind! Gehen Sie, wenn Sie ein Ziel erreichen wollen, Ihren eigenen Weg! Gehen Sie nicht meinen Weg! Ich möchte von heute ab meinen Weg gerne allein gehen!

VON BRÜHL sich erhebend. Ich kann Ihnen nicht ausdrücken, Herr Hetmann, wie furchtbar es mich schmerzt, gerade heute einem solchen Mißtrauen bei Ihnen zu begegnen.

HETMANN ihn zur Tür begleitend. Lassen Sie mich doch nur vor allem erst meine Freiheit wiedergewonnen haben! – Dann, Herr von Brühl, werden Sie einen umgänglicheren, vielleicht auch – ich könnte mich beinahe erwürgen, bevor ich das Wort ausspreche – einen dankbareren Menschen in mir finden! – Leben Sie wohl!


Von Brühl ab.


HETMANN in den dunklen Gang hinaussehend. Da ist noch jemand, wenn ich recht sehe. Bitte, treten Sie näher ...


Kommissionsrat Cotrelly tritt in die Tür. Er trägt Zylinder, schwarzen Gehrock, Reithosen, Reitstiefel, rote Handschuhe und hält eine Reitpeitsche in der Hand. In seinem Gesichtsausdruck liegt etwas Altfränkisch-Mephistophelisches.


COTRELLY. Entschuldigen Sie, mein Herr, ich möchte mit dem bekannten Herrn Hetmann sprechen.

HETMANN. Mit wem habe ich die Ehre?[659]

COTRELLY eintretend. Mein Name ist Cotrelly, Kommissionsrat Cotrelly. Ich möchte Sie gern in einer wichtigen Angelegenheit um ein – Selbstgespräch ersuchen.

HETMANN zu Fanny. Darf ich Sie bitten, einen Augenblick bei meiner Hauswirtin drüben eintreten zu wollen. Ich habe leider kein zweites Zimmer zur Verfügung. Er geleitet Fanny über den Korridor hinaus. Zurückkommend. Wollen Sie bitte Platz nehmen.


Beide setzen sich.


COTRELLY. Ich wollte Sie fragen, mein lieber Herr Hetmann, ob Sie geneigt wären, ein Engagement bei mir anzunehmen. Damit über den für Sie wichtigsten Punkt kein Zweifel obwaltet, erlauben Sie mir die Mitteilung, daß ich für Ihr Auftreten jedes erdenkliche Opfer zu bringen bereit bin – natürlich innerhalb der Grenzen der bei uns üblichen Gagen.

HETMANN. Ich habe leider keine Ahnung, um welch eine Art von Engagement es sich handeln könnte.

COTRELLY. Darüber brauchen Sie nicht zu erröten, mein lieber Herr Hetmann! Der Agent Magdeburger hat meine Blicke auf Sie gelenkt. Endlich hat sich Magdeburger dadurch als ein mit Vernunft begabtes Geschöpf gezeigt! Ich bin der Direktor des Zirkus Cotrelly. Dem Namen nach ist Ihnen der Zirkus Cotrelly wohl bekannt.

HETMANN. Ich gestehe zu meiner Beschämung, Herr Direktor, daß ich noch in meinem Leben auf keinem Pferderücken gesessen habe.

COTRELLY. Aber ich bin doch kein Botokude, mein lieber Herr Hetmann! Magdeburger hat mir haarscharf erklärt, womit Sie sich abgeben. Sie wollen, wenn Magdeburger kein hinterlistiger Lügner ist, die – Nachdenklich. die Unberührtheit des – des jungen Weibes als – als Verachtung der Selbstvergötterung – wieder in Mode bringen. Solch eine Spezialität ist für Ihr Auftreten unbedingt notwendig. Aber mit Hoher Schule, Kaskadenreiten und Parterrespringen haben Sie natürlich nichts zu tun.

HETMANN. Als was beabsichtigen Sie mich denn dann zu engagieren?

COTRELLY. Als dummen August.[660]

HETMANN zuckt zusammen wie von einem elektrischen Schlag getroffen, faßt sich aber rasch wieder. Entschuldigen Sie, das ist eine schlechte Gewohnheit von mir. Sprechen Sie bitte weiter.

COTRELLY. Magdeburger, du bist ein Genie! Diese Gewohnheit allein sichert uns jeden Abend einen tobenden Beifallssturm! – Würden Sie das bitte nicht vielleicht gleich noch mal machen?


Hetmann zuckt wieder wie von einem elektrischen Schlag getroffen.


COTRELLY sich die Schenkel klopfend. Ausgezeichnet! Unbezahlbar! Magdeburger, du bekommst Gewinnanteil! Ich forderte von Magdeburger mit der Peitsche in der Hand eine Nummer, mit der sich das Weltwunder, mit dem mir mein Kollege Salamonsky Konkurrenz macht, überbieten läßt. Magdeburger hat drei Tage nachgedacht. Am dritten Tag telefoniert er: Ich hab's! Lassen Sie Karl Hetmann als dummen August auftreten! – Salamonskys Sensation ist nämlich ein Schimpanse, der die C-Dur-Tonleiter singt. Ich bin nicht sehr musikalisch und will mir über die Gesangsleistung kein Urteil herausnehmen. Aber nachdem ich Sie, mein lieber Herr Hetmann, gesehen habe, darf Magdeburger mein legitimer Schwiegersohn werden! Wenn Sie bei uns als dummer August auftreten, haben wir die Schimpansen von ganz Asien und Afrika nicht zu fürchten!

HETMANN. Ich zweifle trotzdem, noch, daß ich mich für die Aufgabe eigne.

COTRELLY. Das beweist den echten Künstler! – Sie kommen einfach in langem Gehrock in die Manege. Alles übrige geschieht durch mein Personal. Der dumme August fällt, wie Sie wissen, über jedes Hindernis, kommt überall gerade im richtigen Moment zu spät, will immer Leuten helfen, die es zehnmal besser verstehen als er, und weiß vor allem nie, weshalb das Publikum über ihn lacht. Aus diesem Grunde dürfen Sie mir auf keine Probe kommen! Salamonskys Schimpanse weiß auch nicht, weshalb das Publikum über ihn lacht, und darin liegt das Großartige seiner Kunst! Dadurch werden[661] ohne die geringste Anstrengung immer wieder neue hauserschütternde Orkane von Beifall entfesselt! – Der Schimpanse erhält, wie ich von Magdeburger höre, vierhundert Mark für jede Vorstellung. Ihnen, mein lieber Herr Hetmann, biete ich fünfhundert, wenn Sie als dummer August auftreten!

HETMANN sich erhebend. Sollte ich aber auch zum dummen August zu dumm sein ...

COTRELLY sich gleichfalls erhebend. Unsinn! Dafür kann man nicht dumm genug sein! Magdeburger lasse ich in Gold fassen! Reicht Hetmann die Hand. Also, Herr Hetmann, fünfhundert Mark pro Abend! – Abgemacht!

HETMANN schlägt ein. Abgemacht!

COTRELLY schüttelt seine Hand. Sie gehören mir! – Ich lasse Ihnen morgen meine Kontrakte zugehen. Sie brauchen nur »Hetmann« darunter zu setzen.


Hetmann begleitet Cotrelly hinaus und kommt hastig zurück.


HETMANN. Jetzt ein Strick! Aber rasch! Zum Einseifen ist keine Zeit mehr!


Er reißt die Schubladen der Kommode auf, findet einen Strick und eilt damit in den Alkoven. Nach einiger Zeit tritt Fanny ein und blickt suchend umher.


FANNY. Wo ist er denn? – Herr Hetmann! – Für sich. Sie sind doch nicht zu zweit fortgegangen! – Sie geht zur Tür zurück und ruft in den Gang hinaus. Herr Hetmann!


Rudolf Launhart tritt ihr in der Tür entgegen.


LAUNHART. Ist Hetmann denn nicht zu Hause?

FANNY. Vor fünf Minuten war er noch hier.

LAUNHART. Es war mir leider nicht möglich, ihn von der Anstalt abzuholen, weil sich meine Frau nicht ganz wohl fühlt.

FANNY. Sind Sie ihm denn nicht begegnet?

LAUNHART. Nein, Ich komme nämlich wegen seines Werkes, das er damals im Gefängnis geschrieben hat. Wissen Sie nicht, wo das liegt? Ich möchte es jetzt gern herausgeben. Er wird doch gleich wieder von sich reden[662] machen. Er hat alle Tische abgesucht und öffnet die Schreibtischschubladen. Wo mag denn das sein?! Hetmann schließt doch bekanntlich nie in seinem Leben was weg! – Zu Fanny. Haben Sie denn gar keine Ahnung, wo er das Manuskript hingelegt hat?

FANNY. Er wird ja jedenfalls gleich kommen, dann gibt er es Ihnen.

LAUNHART. Es hat ihn doch nicht am Ende gar der Teufel geholt! Zieht ein dickes Manuskript aus einer Schublade. Da ist es ja! Liest den Titel. »Hidalla oder Die Moral der Schönheit.« Er blättert darin.


Fanny hat sich unsicheren Schrittes dem Alkoven genähert, tut einen Blick durch die Vorhänge und stößt einen Schrei des Entsetzens aus.


LAUNHART. Sind Sie besessen? Was schreien Sie denn so?

FANNY mit erneutem Aufschrei. Er ... er hat sich ... Sie tritt in den Alkoven.

LAUNHART. Was hat er sich? Eilt zum Alkoven und blickt hinein. – Sie hat ihm die Schlinge schon abgenommen. Kommt rasch nach vorn. Jetzt fliegt der Name Hetmann wie ein Lauffeuer um die Erde.

FANNY stürzt aus dem Alkoven. Helfen Sie, um Gottes willen! Helfen Sie!

LAUNHART tritt ihr entgegen; er spricht das Folgende bis zum Schluß des Aktes möglichst rasch. Hat Ihnen Hetmann nicht eben noch gesagt, daß ich die Herausgabe seines Nachlasses besorgen soll?! Grob. Sie sehen doch selber, daß da nichts zu helfen ist! Mit ihr ringend. Ich lasse Sie nicht von der Stelle, bevor Sie mir antworten! Besinnen Sie sich doch!!

FANNY. Für solche Schurkereien bin ich nicht zu haben!

LAUNHART lacht hell auf und drückt sie mit Gewalt vor sich nieder, so daß sie zusammengekauert vor ihm auf den Knien liegt. O Fanny, Fanny – ein lebender Schurke ist Ihrer Gesundheit zuträglicher als der größte tote Prophet!

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 1969, S. 653-663.
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