6. Der ungewissen Liebhaber Nacht-Gedancken

[47] 1.

Ich armes Kind! wie einsamb muß ich leben,

Wie muß ich noch in eitel Hoffnung schweben,

Ich dencke viel, und weiß doch nicht wohin,

Es wundert mich daß ich so lustig bin.


2.

Wo werd ich noch mein Ruheplätzgen finden,[47]

Und welcher Ort wird sich mit mir verbinden,

Ich blicke zwar ins liebste Vatterland;

Doch Gottes Rath ist mir noch unbekannt.


3.

Wo muß wohl itzt das liebe Seelgen liegen,

Das mich einmal im lieben sol vergnügen?

Sie liegt vielleicht in ihrer Sanfften Ruh;

Vnd drückt das Liecht der schönen Augen zu.


4.

Sie wird an mich den Abend nicht gedencken,

Da ich mich muß im Vorrath gleichsamb kräncken,

Vnd wo sie ja den Kopff jetzund zerbricht

So weiß sie doch von meiner Liebe nicht.


5.

Das ist gewiß, die Mädgen so ich kenne,

Vnd die ich schon mit ihrem Namen nenne,

Die sind mir wohl ohn Zweiffel nicht beschert,

Ich habe sie auch nie so weit begehrt.


6.

Es ist noch Zeit, daß ich ein Kind erwähle,

Am Leibe schön und sittsam an der Seele:

Diß ist genung; sonst sey sie arm und reich,

Groß oder klein, es gilt mir alles gleich.


7.

Wiewol ich kan mein Wort nicht von mir geben,

Wer weiß, ob ich mein Glücke werd erleben,

Wie mancher gibt der Eitelkeit valet

Eh er die Spur der süssen Liebe geht.


8.

Es mag drum seyn, ich bin bereit zu allen,

Des Himmels-Schluß sol mir allzeit gefallen,

Ich streite nicht, ich bleibe gern allein

Ich will auch gern der Liebe dienstbar seyn.


9.

Derselbe mag es nach Belieben karten,

Ich wil den Trost in aller Still erwarten,

Schlaf wohl mein Kind, mein unbekanntes Ich,

Schlaf du nur wohl ich wache schon vor dich.

Quelle:
Christian Weise: Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken, Halle a.d.S. 1914, S. 47-48.
Lizenz:
Kategorien: