2. Ein Muster von alten Ertz-Complimenten

[144] 1.

Maedgen, hat sie sich geschminckt,

Weil die Rosen-rothen Straalen

Den beliebten Schein bemahlen,

Der auß ihren Wangen blinckt?

Ist sie von Natur so schöne?

Nein, ach nein, wie mich bedünckt,

Dieses ist ihr bloß Gehöhne,

Mädgen, sie hat sich geschminckt.


2.

Mädgen, hat sie sich geschminckt?

Mein Herr Nachbar der muß eben

Diese Meynung von sich geben,

Sieht sie nicht, wie er mir winckt?

Sol ich die Gedancken sagen,

Die er heimlich an mich bringt?[144]

Gelt, ich sol noch einmahl fragen,

Mädgen, hat sie sich geschminckt?


3.

Mädgen, hat sie sich geschminckt?

Halt, ich will denselben hören,

Welcher ihr zu Lieb und Ehren

Eines auf Gesundheit trinckt,

Der wird sich so viel entbrechen,

Und so fern es ihn bedünckt,

Eben dieses Urtheil sprechen:

Mädgen sie hat sich geschminckt.


4.

Mädgen, hat sie sich geschminckt?

Ach, sie sey doch nicht so schöne,

Weil uns arme Bürger-Söhne

Sonst die Liebe gar umringt:

Und wo ihr die schöne Frage

Irgend in die Nase stinckt,

So verzeih sie, daß ich sage,

Mädgen, sie hat sich geschminckt.

Quelle:
Christian Weise: Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken, Halle a.d.S. 1914, S. 144-145.
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