II

[92] Veronikas Vater, aufgeschreckt aus einer jahrelangen Versunkenheit in Schmerz um den Tod seiner Frau, dem Anblick verlorenen Glücks beständig ergeben und nur zuweilen der Ursache seines Verlustes gepeinigt sich erinnernd: Veronikas Vater sprach sich schuldig einer sträflichen Gleichgültigkeit, einer unverzeihlichen Selbstsucht, mit der er das Leben des Kindes sich überlassen hatte. Er schämte sich. Und weil es ihn drängte, Versäumtes nachzuholen, so viel und rasch es möglich war, wurde Veronika, noch ehe Krankheit und Fieber sie ganz verlassen hatten, sorgsam verpackt im Wagen, schlafend beinah, hinweggebracht in das große Haus der Stadt, von winterlichem Aufenthalt ihr bekannt.

Die Reise bekam trotz aller Vorsicht ihr schlecht. Er habe, so rasch es ging, von einem Ort sie entfernen wollen, der ihr so sehr ein Ort des Grauens geworden war, begründete der Vater dem Arzt das Wagnis der Fahrt. Nun kehrte die Gewalt des Fiebers verdoppelt wieder; das Haus verwandelte sich in jenes verlaßne andere; der Garten drängte sich um seine Mauern. Der große Ventilator über der Tür schwang leise sausend, Veronika vernahm ihn als den Wind, durch das Gelaub geliebter Bäume streichend.[92]

Das Wasser, von der Schwester aus der Karaffe ins Glas gegossen, plätscherte wie die kleinen Wellen des Sees, ein Meer von Gerüchen stieg auf, in dem sie die Richtung verlor. Sie stöhnte »Gianni« – er mußte einen Strauß gepflückt haben aus allen Blumen des Gartens, mit dem er sie nun irreführte. Aber nun war es Beppo, sie ging an seiner Hand auf die grasbewachsene Stelle zu, wo er liegen mußte, sie fürchtete sich, sie zog an seiner Hand, die Hand löste sich vom Gelenk. »Was soll ich mit der Hand machen?« dachte Veronika entsetzt. Aber da lag Beppo im Gras, mit seinen beiden Händen. »Beppo,« sagte Veronika, »warum sprichst Du nicht?« Aber dann hörte sie das Sausen wieder, es war Beppos Stimme, sie sprach aus einem Baum: »ich rede doch,« sagte die Stimme, »fortwährend rede ich, rede ich,« und der Baum schwang seinen Wipfel hin und her. Veronika versuchte sich festzuhalten, die Zweige bewegten sich zu stark, sie rutschte aus, es wurde schwarz. Sie fiel und fiel. Sie fiel immerzu, bodenlos abwärts und dann schlug sie die Augen auf. Sie sah in das angstvoll auf sie herabgeneigte Gesicht ihres Vaters.


Seit dieser Krankheit waren sie mit einander vertraut. Es war ein Vertrauen, dem Worte und Gebärden fehlten. Aber es war bindend für sie inmitten anderer Menschen, unter denen sie als Fremdlinge sich bewegten: der Vater, hager, groß und schweigsam, an seine Trauer hingegeben. Das Kind, stumm wie er, mit seinen Zügen; einer verlorenen Welt nachtrauernd auch es, wenn schon allein durch eine sonderbare Scheu gehemmt, von ihr zu sprechen, nach ihr zurück verlangend. So gingen sie durch die[93] Jahre: beziehungslos inmitten von Beziehungen, die weit nach vielen Richtungen sich erstreckten. Veronika blieb den Büchern zugewandt auch dann, als schon ihr Wissen ungewöhnlich, ihre Kenntnisse außerordentlich waren. Sie machten Reisen miteinander, sie waren Gäste dreier Kontinente: allein den Umkreis jenes gebirgigen Hanges über dem kleinen See vermieden sie nach einer stummen Vereinbarung.

Und doch war er ihr Ziel, war Ziel ihrer gemeinsamen Liebhabereien, Ziel ihrer Wege, Ziel wegloser Gänge über Geröll und Moor: Bemühungen um die besondere Flora der Gegend, in der sie sich aufhielten. Sie gruben seltene Pflanzen aus, bestimmten sie, Veronika machte sich Notizen. Sie erörterten ihre Lebensbedingungen: Klima, Bodenbeschaffenheit, Bestrahlung und was noch sonst in Frage kam. War dann ein Zustand festgestellt, umrissen, so schwiegen sie. Denn es war allein die Möglichkeit einer Einbürgerung, einer Ansiedelung des neuen Gewächses in dem verlassenen Hang des Gartens, die sie damit erwogen hatten.


An einem Morgen saßen sie in Funchal, wo sie den Winter verlebt hatten, hoch überm Strand, wo ein Fischer im Boot sich mit dem Segel beschäftigte. Er war groß und geschmeidig, seine Haut zwischen den Fetzen der Kleidung von einer makellosen bronzenen Bräune. Sein Gesicht, dunkler noch unterm Schatten des schwarzen und stark gekrausten Haares, üppig und kühn zugleich. Er sang, während er stand und arbeitete. Veronika sah ihm zu. Ihr Vater neigte den Kopf seitlich über den Schatten, mit[94] dem sein Körper den weißen Sand verdunkelte: gekrümmte Linie des Rückens, die er mit dem Finger lächelnd verfolgte. »Ich werde alt, Veronika,« sagte er. Sie hatte den Blick gesenkt, so reichte sie ihm die Hand. Sie standen auf. »Wir wollen heim,« sagte Veronika leise; aber sie waren schon auf dem Weg.

Sie gingen nach vier Tagen mittags in Genua an Land. Der Chauffeur aus Florenz wartete mit dem Wagen. Kurz vor Mitternacht kamen sie an: der Garten empfing sie schweigend, von Mondlicht beglänzt.

Veronika feierte noch in der Nacht das Fest ihrer Wiederkehr. Sie ging die alten, lang entbehrten Wege, sie legte ihre Hände an die rissige Rinde uralter Stämme. »Da bin ich wieder. Ich bin wieder da,« sagte sie vor sich hin. Der Schrecken der Vergangenheit verlor sich, wurde unbegreiflich: sie fand mit Rührung die Stelle, wo Beppo verschieden war. Alles war enger geworden, nah aneinander gerückt, dem Kind mit vielen Schritten mühsam einst erreichbar; dichter aber stand rings Gebüsch und Schatten, tiefer stiegen die Wurzeln zur Tiefe, höher trieben die Wipfel zur Höhe, es schien Veronika, als habe der Garten, was er für ihr erwachsenes Auge an Fläche verloren, nun in die Tiefe zugenommen, anschwellend gegen Erde und Himmel, wie er es tat.

Sie stand am See und sah auf sein dunkelglänzendes Wasser. Ihr Schatten durchschnitt es, schmal und gerade, an den Konturen verschwimmend aufgelöst. Ihr fiel die Handbewegung ihres Vaters ein, mit der er die gebeugte Linie seines Rückens im Sand von Funchal gezeichnet hatte. Wind und Regen würden sie wohl inzwischen verwaschen[95] haben. Veronika hob langsam die Arme, die Hände flach überm Kopf zusammengelegt wie ein Schwimmer, zum Sprunge sich anschickend. Aber es geschah nur um ihren Schatten wachsen zu sehen, sich strecken zu sehen, Besitz ergreifend, vordringend weit, mit seinem Ende kaum mehr recht erkennbar in einer dunklen verschwimmenden Ferne, unendlich damit für diese Stunde, für eine Stunde dieser Nacht.

Der nächste Morgen brachte die Begegnung mit Gianni, der Nachfolger des Großvaters in der Pflege des Gartens geworden war. Er war beschäftigt, die Erde eines Beetes umzuwerfen, hielt inne, als er Geräusch von Schritten vernahm, aus seiner gebückten Stellung sich aufrichtend, den einen Fuß noch auf die Kante seines Spatens gestemmt. So sah er Veronika an. Ihr schien, als überliefe ein Schein von Röte sein braunes Gesicht.

»Da bin ich wieder, Gianni,« sagte sie, lächelnd. Denn ihr fiel ein, daß es dieselben Worte waren, mit denen sie sich in der Nacht den Bäumen genähert hatte. Gianni lächelte auch, sein starkes und schimmerndes Gebiß entblößend. Aber es war nicht mehr jener Blick von Heiterkeit wie einst im Lächeln des Knaben. Veronika betrachtete nachdenklich sein Gesicht. Die Üppigkeit der Züge war aufgezehrt, die Haut schloß streng um einen kühn geformten Schädel. Daß er die Augen vor der Sonne zukniff, hatte sie tief mit einem Geäder von Fältchen umgeben. Zwei harte Linien zogen von der Nase zu den Mundwinkeln hinab. Er war kein Bruder jenes Fischers mehr mit seinem schmelzenden Lied.

»Wie sehr erwachsen Du nun bist,« sagte sie nach einer[96] Pause. Er lächelte wieder; mit Stolz wies er zur Seite. Im Schatten des Gesträuchs saß eine junge Frau, Kind noch in ihrem hübschen, argwöhnisch der Begegnung zugewendeten Gesicht; mit einer prallen Brust. Zwei kleine Kinder spielten ihr zur Seite und als sie unter Veronikas Blick sich dann erhob, wie wenn sich dieses Lager nun nicht länger für sie schickte, ward sichtbar ihr gesegneter, in einem schweren Gang dahingetragner Leib.


Der Sommer wuchs ins Unermeßliche. Es war Veronika, die seit jener Flucht die heiße Jahreszeit in einem gemäßigteren Klima zugebracht hatte, als lodere der Garten auf unter dem Hauch von Glut, den täglich neu der Himmel atmete. Von einer Flamme des Lebens ergriffen krümmte sich der Zweig, rollte sich Blatt um Blatt, blätterte auf: Blüte um Blüte erglühte, blendete, verging in Glanz. Nichts war, das dieser Flamme widerstand: der älteste Stumpf noch bot ihr Nahrung, brach auf und stand verklärt.

Gianni leistete eine gewaltige Arbeit. Wenn Veronika am Morgen in den Garten kam, der funkelnd lag unter der frühen Sonne, ganz übertaut von einem erquickenden Regen – Gianni hatte ihn aus einem mächtigen Schlauch versprüht. Abends sah sie den Strahl, wie er zum Himmel fuhr, zischend, als ob er verdampfe unter der Glut der Luft; dann fiel er schwer, in satten Tropfen trommelnd auf die gespannte Fläche der Blätter nieder oder zur Erde, die ihn aufsog mit einem gierigen Murmeln. Und Gianni schritt über ihren Boden hin, beladen mit dem[97] lebenspendenden Quell des Wassers, gleich einem bukolischen Gott, die süße Trunkenheit, den Büffelschlauch auf seiner Schulter tragend.

Hier und dort fand Veronika Erinnerungen an ihre Reisen wieder: hob fremd-bekannt in dieser Welt der Kindheit ein neues Gewächs sich empor, von seinem Standort einst entführt, in feuchtes Moos verpackt hierher gesandt (mit einer genauen Beschreibung seiner Lebensnotwendigkeiten versehen). Vieles mochte den Wechsel nicht überstanden haben, war eingegangen, zerfallen in dieser fremden, ihm tödlichen Erde; aber doch lebte genug, lebte üppig, gedieh und hatte durch Schößling und Samen sich schon als ein Volk für die Zukunft behauptet.

Denn wie die Erde so hatten ihre Geschöpfe jenen Befehl zur Fruchtbarkeit vernommen, der ihnen gebot, sich zu mehren. Veronika erinnerte sich in diesem Sommer der biblischen Worte. Nichts war in diesem Überfluß ringsum Geschenk, nichts zwecklose Schönheit, die es schien, untertan war alles allein jenem großen Gesetz. »Die Blüte ist das Geschlecht der Pflanze,« sagte Veronika vor sich hin – sie wußte nicht, ob der Satz einem Lehrbuch entstammte oder in ihr entstanden war, während sie ihn sprach, über den weißen, rosa geäderten Blütenbüschel eines Rhododendronstrauches gebeugt.

Geschlecht war ringsum aufgetan, in einer unermeßlichen Pracht. Gnädig war die Natur ihren Geschöpfen, hilfreich mit allem, was sie besaß. Sie gab dem Schoß der Blume das Weiß des Schnees, der über den unerforschlichen Gletschern des Himalaya lagert. Sie gab ihm die verblassende Röte des abendlichen Himmels, vor dem die[98] Sonne gesunken ist. Sie lieh ihm das nächtliche Blau, das zarte Violett eines grauenden Morgens. Sie schenkte ihm das verschwimmende Geäder eines von Wolken beschatteten Meeres. Sie erfand jede Form; jede Form des Geöffneten des zur Empfängnis Bereiten, Krug, Teller, Gefäß jeder Art bis zu der lippenbehüteten Höhlung des Mundes. Und sie erfüllte dieses Gefäß mit einem tausendfältigen Wohlgeruch: sie rief die unersättlich Trunkenen, rief Hummel, Biene und Schmetterling, daß mit der Sorge um ihre Nahrung sich Wollust und Befruchtung der Pflanze verknüpfe. Vergessen war Veronika jenes Getier, das einst, Entsetzen ihrer Kindheit, gemordet hatte, prassend und vergiftend. Beschwingt und anmutvoll sank hier des Schmetterlings geflügelte Blüte über die flügellose Schwester nieder. Zwischen wollüstig nach gebenden Lippen zwängte die Biene sich ins Blüten innere, ein goldener Pfeil des Kusses. Inmitten des weit und bebend sich breitenden Blütenkelches schwankte die Hummel, gelb und staubbeladen, zögernd aus der Umarmung entlassen. Wo sie versagten, Hummel, Biene und Schmetterling oder die tausendfach-anderen kleinen (und weniger begehrten) Vermittler, wo eine Pflanze blühte in unscheinbarer Farbe, klein und übersehen deshalb: war noch der Wind, dieser mit allen Düften geschwängerte, samenträchtige Atem, der über sie strich, und dem sie sich zitternd ergaben.

Veronika litt unter diesem Wind, zuweilen war ihr seine Schwüle unerträglich. Ihre Nächte waren ohne Schlaf oder von Träumen erfüllt, die sie gehetzt erwachen ließen. Meist waren sie ungreifbar, verloren mit der entschwundenen[99] Nacht; ein einziger blieb, kehrte zurück, viele Nächte hindurch, kam noch nach Jahren wieder, häufig, seltener dann, doch ohne je von seinem Grauen zu verlieren: Veronika lag festgebunden am Fuße einer steil und völlig eben ansteigenden Fläche Sandes, Wüstensandes vielleicht, denn er war von einem starken Gelb. Man hätte diese Fläche als Abhang eines Berges betrachten können, wäre sie nicht so völlig eben, nach beiden Seiten grenzenlos gewesen. Oben – aber sie stieg zu dieser Höhe hunderte von Metern an – schloß sie, dem Scheitel einer Straße ähnlich, gerade gegen den Himmel ab. Und dort erschien, ein winziger Punkt erst, anwachsend dann gigantenhaft mit der Bewegung, langsam zunächst, durch die Bewegung dann ins Rasende gesteigert, erschien ein zylindrischer Körper, eine ungeheure steinerne Walze. Veronika erinnerte sich solcher Walzen, wie sie langsam und knirschend über frisch beschotterte Straßen stampften.

Die Walze hier war ungeheuer groß – aber nur ihrem Durchmesser nach; die Breite betrug nicht mehr als etwa die Länge von Veronikas Körper – Möglichkeit genug, auf dieser weiten Fläche an ihm vorbei zu rasen, links oder rechts – Veronika bewegte qualvoll den Kopf, der unentrinnbar festgehalten war wie ihre Glieder. Aber die Walze raste mit einer sekündlich sich steigenden Schnelligkeit auf sie zu – ihre Richtung war unverkennbar, nicht rechts, nicht links, Mitte war sie, entsetzliche, zermalmende Mitte. »Ich will...« dachte Veronika. »Was will ich?« Aber sie fand es nicht, ihre Glieder erstarrten, Schweiß umgab sie, ein eisiges Gewässer. Der Schatten,[100] den die Walze vor sich her schoß, fiel über sie. Sie fühlte: »Jetzt...«

Nichts war geschehen. Die steinere Lawine hatte sich gehoben, nicht viel, soweit nur, daß sie den erstarrten Körper nicht berührte. Sie hatte einen kleinen Sprung gemacht, einem unerklärlichen Anstoß folgend – ein Wunder, dachte Veronika, welch ein Wunder, ich lebe! Und sie versuchte den Kopf zu heben. Aber dort, wo die steil ansteigende Ebene, dem Scheitel einer Straße ähnlich, vor dem Himmel stand, erschien ein winziger Punkt, anwachsend dann gigantenhaft mit der Bewegung; langsam zunächst, durch die Bewegung dann ins Rasende gesteigert, erschien ein zylinderischer Körper, eine ungeheure steinerne Walze...

Veronika erlitt in dieser Nacht an hundert Male vergeblich den gleichen, niemals tödlichen Tod. Sie fühlte die Angst in ihren Haaren aufsteigen, die steif wurden wie Röhren. Ihr schien, als ob sie, sich auflösend, durch diese Röhren sich verströme und als ob gleichzeitig ein Fremdes in sie eindringe, wechselströmend. Sie stöhnte. Sie war sich fremd, sie hatte alle Herrschaft über sich selbst verloren. Sie dachte, in Bruchstücken zwischen Entsetzen, Tod und neuem Entsetzen: »es ist nichts. Es ist eine Folter. Ich schäme mich meiner Angst. Wie oft habe ich nun erlebt, daß ich lebe?« Aber sie war ohnmächtig gegen die Angst: sie erstarrte von neuem im Grauen. Sie dachte: diese Schande der Hoffnung – aber sie war ohnmächtig gegen den erlösten Schrei ihres Körpers in jenem einzigen Augenblick zwischen Rettung und neuer Gefahr. Sie sagte: »ich will nicht mehr« und schloß die Augen.[101] Aber die ungeheure Macht, die sie hielt, sie wehrlos machte gegen sich selbst, hob ihr die Lider empor. Der Morgen fand sie, schweißgebadet, erschöpft von einer ungeheuern Anstrengung und wie versteint in der Erinnerung.

Etwas Beschämendes war mit dieser Erinnerung verknüpft. Veronika lehnte sich dagegen auf, indem sie keinerlei Rücksicht auf ihren ermatteten Körper nahm. Sie zwang ihn zur Arbeit, härterer Arbeit, als er zu leisten gewöhnt war. Sie besprach mit Gianni die Tagesarbeit; ein täglich wachsendes Maß. Sie nahm sich dessen an, was Gianni nicht bewältigt hatte; in langsam härter werdenden Händen führte sie Hacke und Spaten.

Den Vater hielt vom Tag der Rückkehr an, Erinnerung befangen, wie der erneute Ausbruch einer lange schleichenden Krankheit. Er begrüßte sie mit Genugtuung, wie etwas, darauf er unfreiwillig Verzicht geleistet hatte. Er schloß sich in seinem Zimmer ein; Veronika traf ihn mit Regelmäßigkeit nur bei den Mahlzeiten. Ihm gegenübersitzend beobachtete sie, wie die Lehne seines Stuhles ihm überm Kopf emporwuchs – um Millimeterbreite von Tag zu Tag. Einmal – in einer Zeit von absehbarer Länge – würde man sie bis auf den Sitz hinunter sehen können. Niemand war dann noch da, auf diesem Stuhl zu sitzen. Veronika senkte den Kopf. Ein Schluchzen in der Kehle hob ihn wieder empor. Eine Träne fiel in den Suppenteller hinab.

»Die Suppe ist genügend gesalzen, Veronika,« sagte der Vater mit einem Lächeln, obgleich er erschrocken war. Er richtete sich auf; die hohe Lehne verschwand noch einmal[102] hinter seinem Kopf. Er sah ihr junges, von Kummer mattes Gesicht mit bläulichen Schatten um Nase und Mund; nie hatte er so wie in diesem Augenblick es sich verwandt gefühlt, er sah es an wie einen Spiegel: die hohe Wölbung der Stirn, die seine war, die gleiche Schläfe, dort wie hier das Gesicht verschmälernd und in die Tiefe zusammendrängend, Nase und Schnitt der Augen, die Linie des Mundes – dies alles bin ich, dachte er. Ein Teil von mir, fortwachsend in die Zeit, in der ich nicht mehr bin.

Von diesem Tage an gewann er noch einmal die Haltung seiner guten und glücklichen Jahre. Briefe gingen hinaus und riefen Gäste. Sie kamen und brachten Lärm und Geräusch, Bewegung und spurloses Entgleiten gefüllter und dennoch leerer Tage. Auf der Terrasse, die in den Garten hinaustrat, hingen am Abend Lampions wie leuchtende Blüten; schwebte Mozarts nächtliche Serenade und wiegte schluchzend das Saxophon Tanzende in einem zerstörten Rhythmus. Veronika schritt unter ihnen, das braune Gesicht nach oben gewendet, die Lider geschlossen. »Musik,« dachte sie, »Nackte Musik, uranfänglicher Laut, Seufzer der Erde. Dies hier sind Katzen, als Kind rief Gianni mich so. Nun ist es der Chor der Frösche unten am See; Monotonie unaufhörlich sich weiter zeugend. Dies ist der Föhn, der stöhnt – oder war ich es, die stöhnte? Es ist schön, zu stöhnen: Es ist schön, da zu sein. Alles ist da. Alles ist grenzenlos. – Du weißt doch,« denkt sie und spricht den Körper an, dessen Arm sie umschlungen hält. »Das ist jetzt eine Welle, eine weiche Welle, Du kennst sie vom Schwimmen. Mein Haar[103] ist genau so weich,« und sie biegt ihren Kopf seitwärts zu seinem Arm. Die Musik hat sich auf einen Weg des Grauens gewandt. »Dies ist die Angst,« denkt Veronika. »Dies ist unser aller Angst. Ich sah eine kleine weiße Maus von einer Schlange gefressen werden. Ich habe mich oft gefürchtet. Alle Geschöpfe fürchten sich. Nun sind wir gerettet. Du weißt, es schluchzt dann so tief in der Kehle.«

Der fremde Körper antwortete ihr. »Ja,« sagt er, »alles, alles. Wir haben es oft erlebt. Es gibt keine Geheimnisse zwischen uns. Wir wollen keine Geheimnisse zwischen uns haben.« Und er atmet Veronikas Atem entgegen.

Dann setzt die Musik ab. Die Paare lösen sich von einander. Veronika streicht sich das Haar aus der erhitzten Stirn. Sie sieht ihren Partner an, der sich verneigt. Er ist erst am Morgen angekommen – sie hat noch kaum drei Worte mit ihm gesprochen. Er hat ein leeres Gesicht, das sie sich vorzustellen vergeblich bemüht ist, während sie das geeiste Getränk durstig durch ihre Kehle rinnen läßt.


Am Vormittag begegnen im Garten sich Paare, heben lächelnd Hände zum Gruß und gehen zwischen Blumen und Bäumen aneinander vorüber. Veronika, auf einem zögernden Weg zu Gianni, den sie seit Tagen nicht gesehen hatte, begegnete einmal dem jungen Professor der Philosophie, der mit einem unentschlossenen Gesicht sie erwartet zu haben schien. Sie gingen miteinander weiter – Veronika bog den Weg weit ab von jener Seite, wo sie Gianni vermutete. Der junge Professor suchte nach einem Gespräch. Es war nicht sehr einfach für ihn, so sehr[104] das Wort zu seiner Verfügung stand. Sie sahen sich an. Veronika trug wieder ein weißes Kleid, matter schimmernd als das des Abends, wo er, abseits, von einem Oleander halb verdeckt, sie angesehen hatte. Es lag eine große und kindliche Bewunderung in seinem Blick. Veronika nahm ihn auf. »Es ist ein guter Mensch,« dachte sie zusammenhanglos und sagte: »Sie haben nicht getanzt, gestern abend -«

Er verneinte. Er tanze diese modernen Tänze nicht. Es sei kein Werturteil. Er verstehe sie nicht. Und er sprach von seiner Liebe für die alte Musik; die dann mit Bach zuletzt in einem reinsten und höchsten Gipfel ausklinge. Sein etwas zartes Gesicht entzündete sich. »Zuviel Persönliches im Größten, das später kam. Was ist der Mensch?« Er zuckte die Achseln. »Gefäß der Erkenntnis, göttlich begabt, da er das Gesetz der Zahl, das Gesetz der Harmonie in sich aufzunehmen gewürdigt war.« »Auch die Systeme, gewiß, wenngleich schon eine Ordnung geringerer Art, schwebend nicht wie Musik oder Mathematik, ein Gebäude irdischen Maßes, durch die Logik gefügt. Aber ein Tempel doch immerhin.« So sprach er denn also von seinem Beruf. Veronika unterdrückte ein leichtes Erstaunen. Er sprach lebhaft, beinahe heftig. Es schien, als verteidige er irgend etwas, als fühle er sich angegriffen von etwas Gegensätzlichem, während er die (Lücke in der Handschrift)


Die Blicke, die Veronika trafen, waren nun zuweilen mit einem geheimen Vorwurf beladen. Veronika spürte eine Anwandlung von Übermut. Sie standen eben vor einem[105] Pfirsichspalier; ein Pfirsich, verführerisch wie Evas Apfel, hing ihr zur Hand. Veronika brach ihn ab. »Hier ist Gianni nicht nachgekommen,« dachte sie belustigt, »nun haben wir auch die Schlange schon auf dem Hals.« Denn eine üppige Winde hielt mit ihren dichten Ranken den Pfirsichstamm umwunden; ihre große, einem grünen und spitzen Vipernkopf ähnelnde Knospe schwankte im Lufthauch. Veronika wollte den Pfirsich eben mit einem Scherzwort ihrem Begleiter reichen, da sah sie in sein entrücktes Gesicht. Er hatte nichts von ihrem Stehenbleiben bemerkt, das Geflüster der Schlange war seinem Ohr verrauscht. Sein Blick enthielt keinen Vorwurf mehr. »Nun ist er wieder zuhause,« dachte Veronika. Sie ließ die Hand mit dem Pfirsich sinken. Sie gingen zurück. In den nächsten Tagen wartete der Professor vergebens. Veronika ging mit dem jungen Mann spazieren, mit dem sie am Abend seiner Ankunft getanzt hatte; er hatte ein leeres Gesicht, das sie vergeblich sich vorzustellen bemüht war, sobald sie ihn verabschiedet hatte. Sie ging solange mit ihm spazieren, bis der Professor abreiste; er hatte wieder ein vorwurfsvolles, im Augenblick des Abschieds sogar unglückliches Gesicht. »Der gerettete Adam« hatte Veronika ihn bei sich benannt – aber dann war ihrer Meinung nach genug getan. Und sie blieb unsichtbar solange, bis der junge und hoffnungsvolle Kavalier vom Tag begriffen hatte, daß sein Tag zu Ende war.

Nach einem Jahr las sie in Zeitschriften und Zeitungen ein Buch angezeigt; der junge Professor hatte einen ungeheuren Erfolg. Dann sah sie nocheinmal sein Bild, mit dem eines jungen Mädchens zusammen, das seine Braut[106] war. Veronika betrachtete lange das Gesicht, ein kindlich weiches und sich bescheidendes Gesicht; sie fand, daß alles gut in Ordnung war.

Ein Jahr, das nächste und andere gingen ihr hin. Einmal war unter den Gästen des Sommers einer, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Gianni hatte; er war Südländer, tief gebräunt, sein schwarzes glänzendes Haar war stark gewellt, seine Gestalt geschmeidig, schmal wie ein Pfeil. Sein Gesicht üppig und kühn zugleich – »wie schön,« dachte Veronika, als sie es sah. Etwas störte dann, wie sie es aufmerksamer betrachtete, irgendwo blieben Gegensätze, unausgeglichen, aber es gelang ihr nicht sie zu nennen. Schließlich vergaß sie es auch, darüber nachzudenken.


(Ende der Handschrift)


Quelle:
Maria Luise Weissmann: Gesammelte Dichtungen, Pasing 1932, S. 92-107.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Als einen humoristischen Autoren beschreibt sich E.T.A. Hoffmann in Verteidigung seines von den Zensurbehörden beschlagnahmten Manuskriptes, der »die Gebilde des wirklichen Lebens nur in der Abstraction des Humors wie in einem Spiegel auffassend reflectirt«. Es nützt nichts, die Episode um den Geheimen Hofrat Knarrpanti, in dem sich der preußische Polizeidirektor von Kamptz erkannt haben will, fällt der Zensur zum Opfer und erscheint erst 90 Jahre später. Das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren, der Jurist Hoffmann ist zu dieser Zeit Mitglied des Oberappellationssenates am Berliner Kammergericht, erlebt er nicht mehr. Er stirbt kurz nach Erscheinen der zensierten Fassung seines »Märchens in sieben Abenteuern«.

128 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon