Sechster Auftritt

[40] Klara. Vorige.


KLARA.

O rettet, rettet Euch, Ihr seyd verloren!

MUTTER.

Was hast Du Klara? Sprich, was drohet uns?

KLARA.

Horch – hört Ihr nichts?

MUTTER will ans Fenster.

Getös und wild Geschrei.[40]

KLARA.

Zurück – zurück – sie dürfen Euch nicht sehen.

Man spricht davon sie morden alle Weißen:

hier neben an durchsuchen sie das Haus.

MUTTER.

O großer Gott!

MÄDCHEN.

Was wird mit uns geschehn?

KLARA.

Folgt mir nur schnell, es ist die höchste Zeit

MUTTER.

Wohin?

KLARA.

In mein Gemach

MUTTER.

Nein, dort sind wir nicht sicher.

KLARA.

So hört mich, hört mich nur: In meiner Kammer

entdeckt ich unlängst eine kleine Thüre,

die unter meinem Bett' verborgen war.

Ich hob sie auf, und fand ein groß Gewölb,

in das auch eine kleine Treppe führt.

MUTTER sie unterbrechend.

Das ist die Gruft, die wir so lang gesucht,

die mir der fromme, frühere Besitzer

des Hauses sterbend hat genannt – sie ist's, sie ist's. –

KLARA.

Ich stieg hinab, – mich überfiel ein Grauen,

denn öde war es in dem leeren Raum.

Doch endlich wagt ich es umher zu schauen,

da traute ich dem schwachen Auge kaum;[41]

denn einen Altar sah ich vor mir stehen,

geziert mit des Erlösers holdem Bild.

Da fühlte ich ein sanftes, leises Wehen,

die feuchte Grabes-Luft ward lau und mild.

Ich warf mich betend vor dem Altar hin,

zu dem Erlöser hob sich Herz und Sinn,

und täglich bete ich nun dort im Stillen:

Herr! lass' mich meine Pflichten treu erfüllen.

MUTTER.

Du gute Magd –

KLARA.

Der Ort ward mir so lieb,

ich wollte keinem Menschen ihn entdecken;

doch jezt ist's klar – Gott hat mir ihn gezeigt,

er war mit mir, und er wird mit Euch seyn.

Steigt kühn hinab in jene dunkle Gruft,

dort seyd Ihr sicher, niemand findet Euch,

und täglich kann ich Euch dort Nahrung bringen.

Verzweifelt nicht, das Gute muß gelingen!

Dann führ' ich Euch zum Licht, das Ihr entbehrt,

und danke Gott, daß er mein Fleh'n erhört.

Das, was der Vater Böses euch gethan,

die Tochter liebevoll vergüten kann.

MUTTER.

Komm, sey der gute Engel der uns leitet,

wir siegen wenn die Tugend für uns streitet.

Die Farbe nicht – das Herz bestimmt den Werth.

Wer menschlich fühlt, wer so die Tugend ehrt,

dem schlägt verwandtes Blut in jeder Zone,

dem winkt die Palme zu dem höchsten Lohne.

Kommt, Kinder, kommt – Euch retten ist mir Pflicht,[42]

aus Grabes Nacht entsteigen wir zum Licht.

Dann nehmt die treue Magd als Schwester an

und lohnt so – was sie an uns gethan.

BEIDE MÄDCHEN.

Ja, unsre Schwester, unsre gute Schwester.

KLARA.

Nur fort, nur fort, es ist die höchste Zeit.


Alles durch die Mitte ab.

Es verwandelt sich in Klarens Zimmer, seitwärts ein Ruhebett, nach einer Pause stürzt Klara herein.


Quelle:
Johanna Franul von Weißenthurn: Neueste Schauspiele. Band 9, Berlin 1821, S. 40-43.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon