Vermummte Wahrheit

[234] Kalisto, der die Haut kaum an den Knochen hing,

Die traf ich an, als sie vermummt im Grünen ging.

Ich naht' herzu und, gleich als ob ich sie nicht kennte

Und ihr Gesicht zu sehen brennte:

»Die Sonne möcht' ich sehn, die eine Wolke deckt,«

Sagt' ich, als ich die Hand nach ihrer Maske streckt'. –

»Glaubt Ihr«, versetzte sie, »daß insgemein auch meine

Den Thoren wie den Klugen scheine?« –

Erzürnt durch dieses Wort »Ei, ist Euch nicht bekannt,«

Sprach ich, »ein schlaues Weib, Semiramis genannt?

Sie ließ, als sie noch lebt', auf ihren Leichstein graben:

Wer einen Schatz verlangt zu haben,

Der findet ihn gewiß hier unter diesem Stein.

Ein Fremdling fand sich drauf nach vielen Jahren ein;

Er las und dachte: Geld verachten nur die Narren,

Und fing die Gruft an aufzuscharren.

Es kostet' ihm viel Müh', und oftmals schöpft' er Luft,[235]

Eh' er den Sarg entdeckt' in der verstörten Gruft.

Als aber er zuletzt den Deckel aufgebrochen,

So fand er nichts, als – dürre Knochen.«

Ich schwieg; sie aber sprach: Freund, ich versteh' Euch nicht. –

»Nein?« sagt' ich; »ei, so zieht die Maske vom Gesicht!«

Quelle:
Auserlesene Gedichte von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Daniel Caspar von Lohenstein, Christian Wernike, Friedrich Rudolf Frhr. von Canitz, Christian Weise, Johann von Besser, Heinrich Mühlpforth, Benjamin Neukirch, Johann Michael Moscherosch und Nicolaus Peucker, Leipzig 1838, S. 234-236.
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