Zweites Kapitel

[151] Wenn einmal die Liebe so weit ist, dann sorgt das Schicksal gemeiniglich, daß sie nicht auf der Hälfte des Wegs stehenbleibt: ein Zufall mußte sogar den beiderseitigen Vorteil der[151] jungen Personen mit ins Spiel ziehn und sie nötigen, Partie miteinander gegen die Unterdrückung eines Dritten zu machen – ein neues Band, das Herzen fester zusammenzieht!

Der Graf hatte unter seinen vielfältigen Marotten eine von der seltsamsten Art: er wollte seinem Hause gern das Ansehn eines Hofs geben und empfand daher eine besondre Freude, wenn die Kabalen eines Hofs darinne regierten: Ränke, Unterdrückungen, Uneinigkeiten, Verleumdung zierten seine kleine Hofstatt nach seiner Meinung; und er gab sich sogar selbst Mühe, das Feuer der Zwietracht wieder aufzuwecken, wenn es ihm zu niedrig brannte. Deswegen führte man auch in seinem ganzen Hause die eigentliche Hofsprache: wenn der Koch das Küchenmensch geprügelt und bei dem Haushofmeister es dahin gebracht hatte, daß er ihr den Abschied gab, so sagte man allgemein, der Koch hat die Küchenmagd gestürzt. Hatte der Kutscher des braunen Zugs es so einzuleiten gewußt, daß er den Grafen bei der sonntäglichen feierlichen Promenade fuhr, da es einige Zeit her sein Kamerad mit dem perlfarbenen getan hatte, so sagte man: Jakob hat Gürgen untergraben. Wenn der eine Laufer dem Grafen nach dem Spaziergange im Garten die Schuhe abbürsten mußte, da es sonst der andre getan hatte, so berichtete man sich: daß Albert wider Franzen eine Intrige gemacht habe; und durfte der Stallknecht auf ausdrücklichen Befehl, der meistens nur ein Einfall war, nicht mehr die perlfarbenen Wallachen in die Schwemme reiten, so war, nach der allgemeinen Sage, der Stallknecht in Ungnade gefallen.

Zuweilen gingen die Kabalen wirklich ins Große: man plagte und quälte sich so herrlich, als wenn's ein Königreich gegolten hätte, und gewöhnlich war doch nichts als die kleine Glückseligkeit, mit einem Befehle mehr vom Herrn Grafen beehrt zu werden, der Preis, um dessentwillen man sich das Leben sauer machte. Vornehmlich war der Lieblung des Grafen, sein sogenannter Maulesel, der große Hetzhund seines Herrn, der sich ein ordentliches Studium daraus machte, seine Kameraden in unaufhörlichem Streite zu erhalten. Er hatte es darinne so unglaublich weit gebracht, daß[152] ihm seine Absicht nie mißlang: er ging zu dem einen, den er zum Zank ausersehen hatte, und erzählte ihm die aufbringendsten Dinge, die ein andrer von ihm gesagt haben sollte und nie gesagt hatte, daß er vor Zorn kochte: darauf begab er sich zu dem andern und vertraute ihm die nämlichen Beleidigungen an, als wenn sie jener von ihm gesagt hätte; und jeder mußte ihm noch obendrein dafür danken, weil er ihm diese erlognen Nachrichten als Heimlichkeiten entdeckte, wobei er inständigst bat, den Überbringer derselben ja nicht zu verraten: wenn sie nun beide vor Grimm brausten und sprudelten, dann gingen nicht drei Minuten vorbei, so legte er's so geschickt an, daß sie an einem dritten Orte einander treffen mußten; und die menschliche Natur wirkte bei beiden sogleich einen so heilsamen erleichternden Zank, daß ihr Zusammenhetzer im Winkel, wo er sie behorchte, sich vor Freude hätte wälzen mögen. Meistens hatte er auch noch eine andre boshafte Nebenabsicht: nach der Gewohnheit dieser Leute warfen sich die Streitenden jedesmal alle Spitzbübereien und Schelmenstreiche ins Gesicht, die einer vom anderen wußte: sonach erfuhr er auch die skandalose Chronik des ganzen Schlosses, und es kamen durch dieses Mittel zuweilen Gottlosigkeiten an den Tag, die man außerdem nicht anders als mit dem höchsten Grade der Tortur aus ihren Urhebern herausgebracht hätte. Zuweilen, wenn er wußte, daß einer einen Groll auf einen andern hatte, brachte er diesen unter irgendeinem Vorwande in die Nähe bei des erstern Wohnung, oft stellte er ihn ausdrücklich unter das Fenster, um ihm zu beweisen, wie schlecht jener von ihm spreche: dann ging er hinein, leitete das Gespräch auf denjenigen, der unter dem Fenster horchte, lobte oder tadelte ihn, und wenn der Mann, der von seinem Feinde nicht behorcht zu werden glaubte, treuherzig genug war, so stimmte er mit lautem Halse in den Tadel ein: dann nahm der Boshafte die Partie des Horchenden und feuerte den Mann in der Stube durch den Widerspruch zu solcher Erbitterung an, daß der Mann unter dem Fenster seinen Zorn nicht länger halten konnte, sondern hereinbrach und auf der Stelle den[153] Beleidiger mit Worten oder Tätlichkeiten angriff. In diesen Kunstgriffen, die Leute ohne ihren Willen zum Sprechen wider einen Dritten zu reizen, wenn und wie oft es ihm beliebte, bestand sein ganzer Verstand: er war unerschöpflich erfindsam darinne und beständig so neu, daß er oft den Klügsten des Nachmittags wieder betrog, wenn er ihn gleich vormittags schon einmal betrogen hatte. Jedermann floh ihn deswegen, und jedermann mußte ihn suchen, weil er der einzige Kanal war, bei dem Grafen etwas auszuwirken. Alle solche Lustbarkeiten endigten sich damit, daß sie ganz frisch und warm dem Grafen hinterbracht wurden, der zuweilen so herzlich darüber lachte, daß ihm die Augen übergingen. Die Folgen solcher Klatschereien waren aber meistens sehr ernsthaft: einer von den Zankenden, dem der Maulesel übelwollte, wurde seines Dienstes entlassen oder auf einige Zeit aus dem Schlosse gewiesen, oder der Graf kehrte ihm allemal den Rücken, wenn er sich zeigte, oder es widerfuhren ihm andre herzangreifende Kränkungen; und alles geschah in der stolzen Absicht, daß große und öftere Revolutionen im Hause sein sollten, die ihm die höchste Ähnlichkeit eines Hofs zuwege brächten. Daher war auch das Schloß des Grafen von Ohlau ein wahrer Sammelplatz, ein Raritätenkabinett von Lügen und Klatschereien: nicht eine Minute lang stunden zween Menschen auf einem Flecken, so wurde ein drittes zum Schlachtopfer ihres Gesprächs: eine Grube voll Füchse, Wölfe und Tiger war's, die sich alle angrinsten und zerfleischten; und wenn Falschheit, Feindschaft und Verleumdung nötige Ingredienzien eines Hofs sind, so war dies Haus der größte in Europa.

Das große Schwungrad dieser herrlichen Maschine – den Maulesel meine ich – hatte schon gleich anfangs mit Widerwillen die Aufnahme des jungen Herrmanns auf das Schloß angesehen und war zum Teil daran schuld, daß er die Gunst des Grafen nur kurze Zeit genoß: da auch die überspannte Liebe der Gräfin bald wieder schlaff wurde und man den Burschen, abgesondert von der übrigen Hofstatt, zu Schwingern steckte, wo er mit niemanden als seinen Büchern und[154] der Baronesse Ulrike in Gemeinschaft stand und nach dem Beispiel seines Lehrers sonst keine Seele im Hause anredete, so entging er gewissermaßen der Aufmerksamkeit jenes Boshaften: er war nebst seinem Freunde so gut als tot geachtet und keiner von beiden wert, daß man wider ihn maschinierte, weil sie zum Zanken nicht taugten. Itzt aber besann sich der Mann, daß sein eigner Sohn in dem Alter sei, um eine Kreatur des Grafen zu werden und sich durch zeitige Übung zum Nachfolger seines Vaters zu bilden. Er lag also dem Grafen an, oder vielmehr er befahl ihm – denn so klangen alle seine Bitten und hatten auch die nämliche Kraft –, seinen Sohn auf dem Schlosse wie den jungen Herrmann erziehen zu lassen: der Graf sagte ohne Bedenken ja, und den Tag darauf erschien der Bube, das echte Konterfei seines Vaters. Unseren Heinrich wollte er nicht geradezu verdrängen, weil er hoffte, daß sein vielversprechender Sohn bald einen glücklichen Zank bewerkstelligen werde, wo jener als die schwächere Partei notwendig den kürzern ziehen und durch seine Veranstaltung in Ungnaden den Platz ganz räumen müsse.

Schwinger hätte lieber einen leiblichen Sohn des Satans unterrichtet als diesen Buben: allein was sollte er tun? Es war Befehl des Grafen, von dem er sein Glück erwartete. Jakob – so hieß er – wurde also der Stubenkamerad und Mitschüler des armen Heinrichs. Schwinger gab seinem bisherigen Zöglinge heilsame Verhaltensregeln und empfahl ihm vor allen Dingen, Zank zu verhüten, den gefährlichen Nebenbuhler zu meiden, soviel es sich tun ließ, und keine von seinen Beleidigungen der Aufmerksamkeit zu würdigen: er selbst beobachtete eine ähnliche Aufführung gegen ihn, ließ ihn bei seinem Unterrichte gegenwärtig sein, ohne sich um ihn zu bekümmern, ob er etwas lernte oder nicht; er konnte gehn, kommen, achthaben oder nicht, und wegen seiner Aufführung lobte und tadelte er ihn mit keiner Silbe. Der Bube, der nicht den mindesten Trieb zum Fleiße hatte, war mit dieser verächtlichen Behandlung äußerst zufrieden und brachte die Lehrstunden meistens am Fenster mit dem unterhaltenden Spiele zu, daß er Fliegen fing, an Stecknadeln[155] spießte und mit inniger Freude sie zu Tode quälen sah. Deswegen sagte ihm auch einmal Schwinger: »Du bist zum Scharfrichter geboren« – welche Bestimmung er so freudig anerkannte, daß er versicherte, er wolle einem Menschen wohl den Kopf abhauen, wenn er stillhielt. Heinrich kehrte ihm vor Abscheu den Rücken zu und verzog sein ganzes Gesicht in die Miene der Empfindlichkeit: es schauerte ihn.

Noch ging's auf allen Seiten gut: allein der Junge war von der Natur so zum Hasse ausgezeichnet, daß man ihn unmöglich um sich sehen und bloß verachten konnte. Aus seinen lichtgrauen, beinahe grünen Augen lauschte der ausgemachteste Schelm hervor, der niederträchtig sein mußte, weil er zur Bosheit zu dumm war: alle Muskeln des Gesichts bewegten sich unaufhörlich: bald zog sich der Mund in eine schiefe, höhnende Lage, bald rümpfte sich die Nase, bald rissen die Augen, wie große unterirdische Höhlen, auf, und die Augenbraunen fuhren über die Stirn bis an die Haare hinan, bald bleckte er die Zunge, bald fletschte er die Zähne wie ein grimmiger Tiger – und alles vor sich hin, ohne ein Wort zu sprechen! Zum freien Blicke in die Augen ließ er's niemals kommen, sondern wandte sogleich die Augen hinweg, wenn sie ein fremdes Auge traf, und wollte er jemanden anschauen, so geschah's nicht anders als mit einem hämischen Seitenblicke. Nie stand er gerade auf den Fußsohlen, sondern ein Fuß lag gewöhnlich auf der Seite und rieb sich an den Dielen: drei Finger in den eirunden Mund zu stecken und daran zu kauen, beide Ellbogen auf den Tisch zu stützen und den Affenkopf in die Hände zu legen, sich nur mit einer Seite des Leibes auf den Stuhl zu setzen und mit der Schläfe an der Lehne hin und her zu fahren – diese und ähnliche waren seine Lieblingsstellungen. Der Kontrast, wenn dieser Pavian und Heinrich nebeneinander stunden, war so auffallend als zwischen einem Satyr und einem Apollo. Dem jungen Herrmann sprach aus den feurigen, dunkelblauen Augen eine Seele voll edler Größe und starken Gefühls: auf den roten, vollen Wangen blühte Heiterkeit und fröhlicher Mut: der lächelnde kleine Mund kam, auch schweigend, mit Gefälligkeit[156] und Liebe entgegen: die gebogene Nase kündigte Verstand, die hochgewölbte Stirn Tiefsinn und Ernst und die starken, in erhabne Bogen gekrümmten Augenbrauen Würde an: aus allen Punkten des Gesichts redete Offenheit, daß man beim ersten Anblicke in ein Herz zu schauen glaubte. Jede Bewegung seines wohlgebildeten Leibes wurde von einem Reize, einem bezaubernden Reize begleitet: selbst die stolzeste Dame, wenn sie die Pantomime sah, womit seine Lebhaftigkeit alle Reden beseelte, spitzte den Mund zu einem Kusse und würde ihn gewiß auf seine Lippen gedrückt haben, wenn sie nicht die Erinnerung an ihren Stand zurückgezogen hätte. Erblickte man neben diesem Marmorbilde des Phidias den tönernen Jakob, von dem elendesten Töpfer geformt – einen dicken, kugelrunden Kopf mit Schweinsaugen, einer ungeheuern Nase, einem großen verzerrten Munde und hauptsächlich, zur Warnung aller Sterblichen, mit der hämischsten, tückischsten, gelbsüchtigsten Miene und der niederträchtigsten Dummdreistigkeit, so deutlich und leserlich, als ein Dieb, vom Scharfrichter gebrandmalt: sah man diesen krummbeinichten Pagoden dahinschlendern und mit den plumpsten Manieren oder leidenschaftlichem Ungestüm die Arme bewegen: dann wünschte man sich das Recht, ein so mißlungenes Werk zu zerstören, das eine Welt verunstaltete, die solche Geschöpfe hervorbringt, wie eins neben ihm stund.

Die natürliche Antipathie, die zwei so dissonierende Kreaturen voneinander wegstoßen muß, verstattete dem jungen Herrmann schlechterdings nicht, der Ermahnung seines Lehrers ganz getreu zu bleiben: doch wäre er vielleicht wieder in das Gleis der stillen Verachtung zu leiten gewesen, hätte sich nicht Eifersucht darein gemischt. Trotz aller Merkmale der Verwerflichkeit zog der Graf das Geschöpf Heinrichen weit vor: diesen ließ er niemals zu sich kommen und jenen sehr oft zu sich rufen: wenn ihm die Baronesse einen Einfall von Heinrichen erzählte, so schwieg er und tat, als ob er's nicht hörte, oder sprach gleich etwas anders darein: warf Jakob eine Grobheit oder plumpe Höhnerei jemanden[157] an den Hals, so erschallte ein beifallvolles Lachen: sehr oft erzählte er sogar Einfälle, die Heinrich gesagt und die Baronesse bei Tafel vorgebracht hatte, als ob sie von dem struppköpfichten Jakob herrührten. – Es ist ein unseliger Trieb in der menschlichen Natur, der die Menschen gegen die Vortrefflichkeit empört: lieber räuchern sie einem abgeschmackten, geistlosen, unwürdigen Apis, um einen Apoll zu demütigen, weil er den Weihrauch verdient. Auszeichnendes Verdienst ist ein Fehdebrief an die Verachtung, den die Natur ihren Günstlingen auf die Brust hing, der jedesmal richtig beantwortet wird, wo es die Leute nicht der Mühe wert achten zu hassen. Zu diesem Grunde gesellte sich noch ein anderer nicht weniger wichtige: Jakob, weil er keinen Wert in sich selbst fühlte, kannte keinen andern als den Gehorsam eines Hundes, der sich von seinem Herrn zu allem gebrauchen läßt, wenn er ihn nur gut füttert: Heinrich hingegen, voll vom Gefühl seiner Kraft, erwies und foderte Achtung, gehorchte aus Erkenntlichkeit und rang nach keiner Gunst, die er als eine erniedrigende Gnadenbezeugung besitzen sollte: als Belohnung, als Verdienst wollte er sie empfangen. Dieser schmeichelte und ehrte den Grafen, um sich ihm verbindlich zu machen, und der Graf wollte nur aus Schuldigkeit geehrt und geschmeichelt sein: er foderte Respekt als einen Tribut. Eine solche Foderung erfüllte Jakob ungleich besser: er war sich in seinen eignen Augen nicht viel und fand also nicht befremdend, wenn ihn der Graf als gar nichts behandelte.

Heinrich sah vielleicht einen großen Teil hiervon ein: allein welche Menschenseele sollte nicht dessenungeachtet bei einem so offenbaren Unrechte entbrennen und wider den Unwürdigen auflodern, der so ganz ohne Verdienst den Vorzug an sich reißt? – Sooft auch Schwinger seine Ermahnungen zur Gelassenheit wiederholte, so konnte er sich doch nicht enthalten, ihn zuweilen mit bittern Spöttereien und empfindlichen Verächtlichkeiten zu bestrafen: zu seinem Ärger verstand sie der Bube meistenteils nicht, war aber die Dosis so stark, daß er sie notwendig fühlen mußte, so rächte sich der[158] Beleidigte mit einer Plumpheit, und wenn er im darauffolgenden Wortwechsel nicht weiterkonnte, so war seine gewöhnliche Zuflucht, den Streit mit Erdichtungen zum Nachteile des Gegners dem Grafen zu hinterbringen, der nicht selten Heinrichen einen Verweis darüber geben ließ. Eines Tages ging es so weit, daß ihn der Graf, als er ihn von ohngefähr auf der Treppe traf, in Gegenwart seines ganzen Gefolgs und des Anklägers derb ausschalt, weil er diesen die ›Meerkatze des Grafen‹ genannt hatte. Heinrich, über die Vorwürfe und das triumphierende Gelächter seines Gegners aufgebracht, antwortete bitter: »O ich hab ihm noch zuviel Ehre angetan; Ihre Hofsau hätt ich ihn nennen sollen.« – Der Graf vergaß sich in der Hitze so weit, daß er ihm mit hoher Hand auf der Stelle eine Ohrfeige gab.

Wie angewurzelt stand der Beleidigte da und wußte nicht, ob er dem Grafen nachgehen und sich durch stärkre Empfindlichkeiten rächen oder dem Buben, der vor Freude hüpfte, die Kehle zudrücken sollte: itzt ging er, itzt stund er, knirschte mit den Zähnen, schlug sich mit der geballten Faust an die Stirn, daß es laut schallte, seufzte, lehnte den Kopf an die Wand und brach vor Schmerz über seine ohnmächtige Wut in eine Flut von Tränen aus.

Die Baronesse hatte durch eine schmale Eröffnung ihrer Tür den häßlichen Auftritt mit angesehn: schon war sie auf dem Sprunge, sich zu verraten und dazwischenzulaufen, als der Graf ausholte, allein zu ihrem Glück blieb sie mit der Falbala am untersten Riegel hängen, und ehe sie sich losriß, war die Ohrfeige schon empfangen und ihr Onkel fortgegangen. Sie tat einen lebhaften Ruck, daß ein großer Teil der Garnitur an dem Riegel zurückblieb, und eilte auf Heinrichen zu, wie er mit dem Kopfe an der Wand lehnte. Sie legte beide Hände auf seine Schultern, um ihn abzuziehen, tröstete und bat ihn, sie in ihr Zimmer zu begleiten. – »Ich bin allein«, setzte sie hinzu, »Hedwig ist bei der Gräfin.« – »Lassen Sie mich!« rief er mit schmerzhaftem Tone und ging die Treppe hinunter – stund – ging über den Hof – stund wieder – ging in den Garten – ein paar Gänge aufwärts mit untergeschlagenen[159] Händen und gesenktem Haupte, so tief in seinen Schmerz verloren, daß er an Bäume rennte, weder hörte noch empfand. Die Baronesse folgte ihm stillschweigend Schritt vor Schritt sehr nahe auf den Zehen. Er kam an einen Teich: Die Baronesse hatte schon die Hand am Rockzipfel, um ihn aufzuhalten, wenn er im Tiefsinne das Wasser nicht gewahr werden sollte: der Fuß war bereits aufgehoben, um ihn in den Teich zu setzen – die Baronesse zog ihn zurück: ohne sich des Zuges bewußt zu sein, erwachte er, erblickte das Wasser, trat zurück und stund da. Er warf sich in den Sand hin, die Baronesse flüchtete hinter einen nahen Baum. Plötzlich sprang er auf, mit einer Bewegung, als wenn er sich in den Teich stürzen wollte: daß er wirklich die Absicht hatte, ist nicht zu leugnen: aber der Entschluß war nur ein schneller Stoß, eine Verzuckung der Leidenschaft, und er hielt sich schon zurück, als die Baronesse hervorbrach und ihm um den Hals flog. Als wenn er noch immer bereit wäre, seinen Vorsatz auszuführen, packte sie ihn in ihrer Umarmung fest und trieb ihn mit aller Gewalt vom Wasser hinweg.

Der Übergang von Schmerz und Kränkung zur Liebe ist nur ein halber Schritt: die zärtliche Stellung, in welcher er sich mit der Baronesse befand – von ihren Armen festumschlungen und dicht an ihren klopfenden Busen gedrückt, daß ihr Odem sein Gesicht betaute – ihr Mitleid, ihre Vorsorge –, alles drängte in einem Tumulte auf seine Empfindung los und spannte ihre Federn so stark an, daß er sein Gesicht an ihren Busen verbarg und heiße Tränen hineinströmte: beide zerflossen in einer Inbrunst, die auch Ulrikens Augen trübte. Bei der Baronesse erwachte Besonnenheit und Scham zuerst: sie machte ihre Arme los und schob ihn von der Brust hinweg: der Schwung, den Zorn und Wut seiner Seele gegeben hatte, machte ihn dreist: er wiederholte eine Umarmung, die seinen Schmerz so merklich in sanfte, erleichternde Empfindungen verwandelte, und zog Ulriken mit sich unter den Baum hin: der Sturz entdeckte ihm ein Knie, das die Natur nur einmal in solche Form goß, das ihm Neuheit und wallende Imagination in dem Augenblicke mit Reizen belebten, die[160] alle seine Sinne benebelten: er war berauscht, er lechzte vor innerlicher Glut. Ulrike wand sich zum zweiten Male los: beide sahen ins Gras und schwiegen.

»Ach, unmöglich kann ich aus dem Hause gehn«, fing Heinrich an, »ich muß meinen Schimpf tragen – den entsetzlichen Schimpf!«

Die Baronesse. Du? aus dem Hause gehn?

Heinrich. Ja, ich muß: aber ich kann nicht; und wenn ich alle Tage bis aufs Blut gequält würde, ich kann nicht! – Ulrike, wie mach ich's, daß ich mir nicht gram werde, wenn ich bleibe?

Die Baronesse. Rächen muß du dich an dem Lotterbuben! Räche dich, und dann geh! Geh aus dem Hause und –, lieber Heinrich, nimm mich mit dir! Das ganze Schloß ist mir zuwider, daß ich's nicht gern ansehe. Man wird seines Lebens nicht froh darinne: das ist eine ewige Langeweile, ein ewiger Zwang: das Reprimandieren, Korrigieren hat gar kein Ende. Ich muß mich bücken und schmiegen und werde verachtet, weil ich aus Gnade im Hause bin: die geringste Kleinigkeit muß ich mir als eine große Gnade anrechnen lassen und – kurz, ich bin des Lebens satt. Nun soll ich auch noch dem Schandbuben, dem Jakob, aufwarten: noch gestern hat mich der Onkel seinetwegen ausgescholten, daß ich –

Sie verstummte mit Tränen. Heinrich knirschte. »Ja«, sprach er, »rächen wollen wir uns und gehn! – Aber wohin?« setzte er bedenklich hinzu.

Die Baronesse. Wohin uns unsre Füße tragen! Ich kann ja Putz machen, nähen, stricken und tausend andre solche Arbeiten: ich will mich indessen als Kammerjungfer vermieten: – aber es muß weit, weit sein, daß Onkel und Tante nichts von mir erfahren – und wenn du einmal einen Dienst bekommst – möchte er auch noch so klein sein – ach, lieber Heinrich, wenn du das wolltest! –

Sie senkte den Blick und schwieg.

Heinrich. Baronesse –

Die Baronesse. Nenne mich nicht mehr Baronesse! Ich bin dem Namen feind: er klingt viel zu fremd für uns; und ich will's von nun an nicht mehr sein.

[161] Heinrich. Ulrike, hier ist meine Hand! Ich wandre aus: ich suche einen Dienst, der uns ernähren kann; und dann – ach, liebe Ulrike, wenn du das wolltest! –

Stillschweigend zog sie einen kleinen goldenen Ring bedächtlich vom Finger. – »Hast du keinen Ring?« fragte sie leise.

Heinrich. Ja, aber nur einen bleiernen, den mir einmal ein armer Hausierer für ein Almosen geschenkt hat.

Die Baronesse. Schadet nichts! bleiern oder golden!

Sie steckte ihm den ihrigen an den Finger. – »Er paßt«, sprach sie freudig, »als wenn er für deinen Finger gemacht wäre. Gib mir deinen bleiernen dafür!«

Heinrich. Noch heute!

Die Baronesse. Geh, suche einen Dienst! und dann – Heinrich, du hältst Wort?

Heinrich. So gewiß, als ich dir diese Hand gebe! Du wirst Kammerjungfer: und dann – Ulrike, wenn gehn wir?

Die Baronesse. Bald! denn der Onkel ließ neulich ein Wort fallen, daß er mich nach Dresden zu einer alten Anverwandtin tun wollte: da wird vollends ein hübsches Leben angehn! Ich grämte mich zu Tode. – Wir müssen ja eilen!

Heinrich. Die Minute geh ich mit dir, daß ich nicht wieder in das schändliche Haus darf.

Die Baronesse. Komm! wir wollen sehn, ob die Tür offen ist! – Sie gingen wirklich, um auf der Stelle einen Anschlag auszuführen, dessen nur ein unbesonnenes Mädchen im sechzehnten und ein beleidigter Bursche im fünfzehnten Jahre fähig ist: allein zu ihrem Glücke war die Tür verschlossen. Zudem besann sich auch die Baronesse unterwegs, daß sie den bleiernen Ring noch nicht bekommen habe, und drang also in ihren Begleiter, zurückzukehren. Auf dem Rückwege vertraute sie ihm eine andre Entdeckung, die nach ihrer Meinung für ihr künftiges Glück sehr heilsam sein sollte. – »Du weißt vielleicht«, sagte sie, »daß mein Vater sehr viele Schulden hinterlassen hat, und nach seinem Tode haben die Leute, von denen er borgte, alles weggenommen. Nun saß[162] ich ehegestern auf dem Sofa in der Tante Zimmer und stickte an der Weste, die wir dem Onkel machen: er sprach mit der Tante im Nebenzimmer. Ich hörte meinen Namen nennen: gleich warf ich die Arbeit hin und horchte. ›So wäre doch Ulrike‹, sprach der Onkel, ›keine schlechte Partie, wenn wir Friedrichshain‹ – das ist ein Gut von meinem verstorbnen Vater – ›aus dem Konkurse ziehen könnten: es ist offenbar, daß man's nicht dazu hätte nehmen sollen: aber meiner Schwester Mann war nachlässig, und die Advokaten haben das so ineinander verwickelt, daß vielleicht zuletzt weder Gläubiger noch Erben etwas bekommen werden: indessen einmal muß doch die Sache ein Ende nehmen, wenn's auch noch einige Jahre hin dauerte.‹ Weiter konnt ich nichts hören: denn sie gingen ins chinesische Zimmer.« – »Sieh einmal, Heinrich!« rief sie, außer sich vor Freude, »wie reich wir noch werden können! Wenn ich das itzt schon hätte, braucht ich nicht erst Kammerjungfer zu werden. Ich weiß auch gar nicht, was für schändliche Menschen die Advokaten sein müssen, daß sie die Sachen so verwickeln. Sie können das wohl so mit ansehn: sie haben, was sie lieben – ach«, unterbrach sie sich plötzlich, »dort kommt die dicke Hedwig. Ich will zu den Erdbeeren gehen und tun, als wenn ich für den Onkel pflückte. Hurtig! geh, daß sie dich nicht sieht!«

Ein Händedruck und ein freundlicher Blick war der Abschied. Zween Schritte! dann kam sie wieder zurück. »Heinrich«, zischelte sie, »du wirst doch den bleiernen Ring nicht vergessen?« – Er versicherte sie das Gegenteil, und sie flog zu den Erdbeeren und hatte schon eine ziemliche Menge gepflückt, als Fräulein Hedwig ankam. Die Baronesse freute sich über ihre gelungne List und die Leichtgläubigkeit ihrer Gouvernante, die wegen eigenen Herzenskummers die Richtigkeit ihres Vorwands weder bezweifelte noch untersuchte. Sie pflückten beide in Gesellschaft. Die Baronesse beklagte sich, daß sie ihren Ring verloren habe. Die Gouvernante, die sonst bei solchen Gelegenheiten wie ein Löwe aufbrüllte, antwortete nichts als ein gleichgültiges »So?«. – Sie suchten[163] unter den Erdbeersträuchern, fanden ihn nicht und gingen beide fort, ohne sich weiter darüber zu beunruhigen.

Das Projekt der Entfliehung beschäftigte seitdem die Baronesse unaufhörlich. Jeden Morgen legte sie ihr Schlafzeug in ein kleines Paket zusammen und an das unterste Ende des Bettes: ihre diamantnen Ohrgehänge trug sie in der Tasche nebst dem kleinen Geldvorrate, der sich nie sehr hoch bei ihr belief, weil sie aus Gutherzigkeit jedem gab, der etwas brauchte. Etwas weniges Wäsche wurde in einem alten Pavillon im Garten hinter aufgeschütteten Ziegelsteinen verborgen und bei Gelegenheit auch ein Schächtelchen, mit den Instrumenten aller weiblichen Arbeiten angefüllt, welche sie verstund und wodurch sie ihren Unterhalt zu finden hoffte. Ihre Vorsorge ging so weit, daß sie sogar Seide, Goldfaden und andere Materialien zusammenpackte, und je länger sich die Flucht verschob, je mehr fand sich mitzunehmen, daß sie zuletzt einen Maulesel gebraucht hätte, um ihr Gepäcke fortzubringen: überdies mußte sie sehr viele Sachen, wenn nach ihnen gefragt wurde, oft wieder auspacken. Um sich dieser Unbequemlichkeit zu überheben, hielt sie für dienlich, ihre Gerätschaft bloß in der pünktlichsten Ordnung zu erhalten, jedem Stücke den bestimmtesten Platz anzuweisen und es nach jedesmaligem Gebrauch pünktlich wieder dahin zu legen, um erforderlichenfalls in einer Viertelstunde sich reisefertig zu machen. Fräulein Hedwig wunderte sich ungemein, woher ihr plötzlich diese ungewohnte Ordentlichkeit kam, und die Gräfin meinte, daß sie anfinge, die Kinderschuhe auszutreten. Die nahe Aussicht, nach ihren Begriffen aus einem Kerker erlöst zu werden, gab ihr die freudigste Munterkeit: die Hoffnung begeisterte sie so sehr, daß sie auch die langweiligsten Stunden mit Standhaftigkeit ertrug und die lästige Gesellschaft des Grafen ohne den mindesten Verdruß aushielt: sosehr es ihr sonst schwerfiel, das Maß der Anständigkeit zu treffen, das sie nach seinem Verlangen ihren Reden und Handlungen geben sollte, so leicht fiel es ihr itzt. Der Graf fand sie ganz umgeändert und versicherte, daß vielleicht doch noch etwas aus ihr werden[164] könnte. Ihre Geschäftigkeit und ihre Freude war ohne Grenzen: sie ging niemals, sie flog, getragen auf den Schwingen der Hoffnung.

Nicht weniger Anstalten machte auch Heinrich. Er war sogleich nach ihrer Trennung durch Hedwigs Dazwischenkunft ins Haus zurückgegangen und hatte seinen Ring, um keinen Verdacht zu erwecken, an einem Faden um den Hals gehängt; und so trug er ihn beständig unter dem linken Arme auf der bloßen Haut, nicht etwa aus Empfindsamkeit – diesem gekünstelten Hautgout in der Liebe, den er noch nicht kannte! –, sondern weil er ihn auf diese Art am sichersten zu verbergen glaubte. Er ging etlichemal vor dem Zimmer der Baronesse vorbei, um ihr sein bleiernes Gegengeschenk einzuhändigen: sie erschien nicht. Endlich begegneten sie einander: Fräulein Hedwig ging neben der Baronesse, und also war nicht mehr Zeit, als verstohlen zu geben und verstohlen zu nehmen: wie ein Wind war der Ring an ihrem Finger, den sie auch nicht eher verließ, als wenn sie vor dem Graf oder der Gräfin erscheinen mußte, die sie verschiedenemal wegen dieser schlechten Zierde gescholten hatten und ihr drohten, das elende Ding zum Fenster hinauswerfen zu lassen, wenn sie es noch an ihrer Hand blicken ließ.

Heinrich packte nach jener Übergabe seines Liebespfandes nicht etwa Wäsche oder andere ähnliche Bedürfnisse, sondern einen alten Seneka, einen Antonin und ein paar andre seiner Lieblingsbücher zusammen, setzte Feder, Papier und Tinte in Bereitschaft und dachte wie ein wahrer Neuling in der Welt, der voll Berauschung nicht über die augenblickliche Ausführung seines Projekts hinaussieht, mit einem solchen Reisebündel seine Wanderschaft anzutreten. Schwinger bemerkte die Unruhe, die die unaufhörliche Beschäftigung mit einem so wichtigen Anschlage hervorbringen mußte: allein weil er glaubte, daß sie noch von der empfangnen Ohrfeige herrührte, so ermahnte er ihn mit den auserlesensten Sittensprüchen zur Standhaftigkeit und mutigen Ertragung seiner Beleidigung.[165]

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 151-166.
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