Erstes Kapitel

[690] Bei der Ausführung des Komplotts mußte der Pfarr abermals eine Rolle übernehmen, doch ohne daß er es wollte oder wußte. Siegfried gab ihm unbeträchtliche zwanzig Taler, um sie dem hülfsbedürftigen Herrmann zuzustellen: zugleich bezeugte er großes Verlangen, einen Mann von so sonderbaren Schicksalen näher kennenzulernen, und bestimmte Tag und Stunde, wo er ihn in die Pfarrwohnung kommen lassen und nach der Überlieferung des Geldes so lange durch Gespräche aufhalten sollte, bis der hochgebietende Erb-, Lehn- und Gerichtsherr dazu käme. Es geschah: der Pfarr lieferte das längstversprochene kleine Kapital mit Verlegenheit und Entschuldigungen aus, daß es nicht mehr war, und Herrmann nahm es aus dem nämlichen Grunde mit Verlegenheit und Verwunderung an. Die Unterredung entspann sich, und ein Mensch in Not, der sein Herz gegen einen Freund erleichtert, kann ohne Mühe den Faden eines Gesprächs sehr lang spinnen: unbemerkt strichen drei ganze Stunden darüber hin. Plötzlich trat Siegfried mit der stolzen Miene eines neugeschaffnen Gutbesitzers herein: Herrmann erschrak bei einer so verhaßten Erscheinung, daß er fast alle Besonnenheit verlor. Siegfried, als er seine Verwirrung innewurde, bekam doppelten Mut und doppelte Unverschämtheit und fragte ihn wie einen Missetäter über Artikel: Herrmann war ertappt: er konnte und wollte keine Frage verneinen, sondern bekannte mit stolzem Trotze seinen Namen und Abkunft: sie hatten sich beide ehemals zu wohl gekannt, um mit Verleugnen durchzukommen.

»Leider! kennen wir uns!« fing Herrmann an, als ihn Siegfried fragte, ob er ihn noch kennte. »Sollt ich den Vater des Bösewichts nicht kennen, der mich aus der Gunst und dem Schlosse des Grafen Ohlau vertrieb? den großen Intriguenmacher, der meinen Vater ums Brot brachte und sogar das kümmerliche Gnadengeld bestahl, das ihm der Graf aussetzte?[690] Einen Dieb, dem die Natur den Galgen auf die Stirn brannte, erkennt man ja wohl, auch wenn man ihn nie sah.« –

Die unvermutete Dreistigkeit, womit er dies sprach, verursachte Siegfrieden eine Bestürzung, daß er ihn nicht unterbrechen konnte; endlich übermannte sie der Grimm. – »Wißt Ihr, mit wem Ihr sprecht?« fuhr er schäumend heraus.

»Mit Euch!« schrie ihm Herrmann ins Gesicht. »Mit Euch! und das will viel sagen; denn so ein ganzer Schurke wie Ihr wird in Jahrtausenden nicht wieder geboren.«

Der Pfarr, der außer allem Zusammenhange war und nicht begriff, wie ein solcher Dialog daherkam, suchte beide Teile zu besänftigen: vergebens! Siegfried drohte mit Gefängnis: Herrmann spottete seiner. »Unter Eurer Gerichtsbarkeit«, sprach er, »werden wohl nur die ehrlichen Leute ins Gefängnis gebracht: daß sich Euer Gerichtshalter ja nicht einfallen läßt, die Schelmen einzuziehen: wahrhaftig, wenn der Mann nicht selber einer ist, so macht er bei dem Gerichtsherrn den Anfang.«

Siegfried schwoll von Gift und Galle so gewaltig an, daß er den Stock aufhub: der Pfarr warf sich dazwischen. »Lassen Sie ihn!« schrie Herrmann. »Der Sohn hat unter den Spitzruten geblutet; der Vater möcht es gern unter meinen Fäusten tun. Mit dem ersten Schlage sitzen ihm meine Hände an der Kehle: aber erwürgen will ich ihn nicht! das mögen Hände tun, die die Obrigkeit dazu bezahlt.«

Siegfried konnte vor Zorn nicht antworten: der Pfarr befahl Herrmannen ernstlich, sich solcher harten Reden zu enthalten. »O der harten Reden!« rief Herrmann mit knirschender Bitterkeit. »Gegen die Verbrechen dieses Unwürdigen sind es nur leichte Luftblasen: brennend wie Schwefel sollten sie sein, und noch würden sie so ein steinhartes Gewissen nicht brennen: Das hat Schildkrötenschalen, worein es sich versteckt, wenn es ein Vorwurf trifft.«

»Ich bin Euer Gerichtsherr«, stotterte Siegfried. Henrmann. Dafür kann ich nichts und vermutlich der liebe Gott ebensowenig; denn sonst hätt er Euch noch höher steigen[691] lassen als Euern Sohn. Dem Sohne hat er einen würdigen Platz gegeben: nun sollte noch der Vater –

Der Pfarr hielt ihm den Mund zu, aber er machte sich los. »O Sie wissen's nicht«, fuhr er fort, »aus welcher großen Familie unser Gerichtsherr ist! Dem Sohn ist seine Ordenskette angeschmiedet: Cartouche und Lips Tullian sind ihre beiden Ahnherren.«

Siegfried. Was bist denn du? – Ein Mädchenverführer! Mädchendieb! Mädchenschänder! – Wenn du deine Ehrentitel hören willst, so lies einmal diesen Brief. –

Er warf ihm einen Brief auf den Tisch: Herrmann erkannte bei dem ersten Blicke Schwingers Hand, nahm ihn auf und las die Aufschrift, ›an Herrn Siegfried‹, mit einem langen Schwanze von Gütern, die dem Namen gehörten: er öffnete ihn voll Erstaunen und fand folgenden Inhalt.


den 16. Julius.


Hochgeehrtester Herr!

Endlich ist mir's gelungen, dem Unwürdigen, den ich ehmals meinen Herrmann nannte, seine Bubenstücke zu vereiteln. Die Gräfin willigt in alles: sie hat ihren Vetter schon benachrichtigt, daß er die Baronesse erwarten soll, und nun machen Sie Anstalt, wie es Ihnen selbst gut dünkt, um die unschuldige Verführte aus den Klauen ihres verachtungswürdigen Verführers zu reißen und an Ort und Stelle zu liefern, wie ich bereits in meinem letzten Briefe Verabredung mit Ihnen genommen habe! Ich trage die Unkosten und werde sie Ihnen erstatten, sobald Sie mir die Rechnung davon übersenden, im Falle daß der Gräfin Vetter, der Oberste, sich nicht dazu erbietet: fodert er Ihnen nicht freiwillig die Rechnung ab, so erinnern Sie ihn auch nicht von fern daran; und fragt er bloß, wer die Reisekosten bezahlen wird, so nennen Sie die Gräfin. Der guten Dame würde die Erstattung freilich schwer sein, und bewahre mich der Himmel, sie ihr zuzumuten! Doch bitte ich inständigst, es niemanden zu entdecken, daß ich die Kosten übernommen habe: ich möchte auch nicht gern scheinen, dem Hause, das mich ernährt und befördert hat, eine Verbindlichkeit auflegen zu wollen, die es nicht ohne[692] geheime Kränkung öffentlich auf sich ruhen lassen würde. Auch suche ich niemanden auf der Welt durch die kleine Aufopferung zu verbinden, sondern bloß mein Gewissen zu beruhigen: ich will mir den Rest meines Lebens durch das Bewußtsein versüßen, daß ich die Unschuld von der Verführung gerettet, der geschändeten Tugend zur öffentlichen Ehre wieder verholfen – denn leider! kann ich ihre innere nicht wieder herstellen! –, ein betrognes, gutherziges Mädchen vom Elende befreit, vor künftigen Vergehungen verwahrt, in ihren rechtmäßigen Stand wieder eingesetzt und einem Hause, das ohnehin Kummer genug drückt, die Ruhe wieder verschafft habe, zu deren Verbitterung ich unschuldigerweise durch Schwäche, unzeitige Nachsicht, verblendetes Wohlwollen, Kurzsichtigkeit und übel angewandtes Vertrauen so vieles beitrug. Alle Fehler, die ich dabei beging, hat mir meine Betrübnis darüber und der Undank und nagende Spott des Bösewichts genug vergolten, den ich aus einfältiger Blindheit so lange für ein Muster der Rechtschaffenheit und Ehrliebe hielt. Ich kenne ihn nicht mehr und verachte ihn so sehr, daß ich nicht einmal an seiner Bestrafung arbeiten mag. Wenn Sie die Baronesse seinen Händen entrissen haben, so ist der Gräfin und mein Zweck erreicht: bekümmern Sie sich weiter nicht um ihn, sondern überlassen Sie ihn dem Elende, den Qualen des Gewissens und der Verachtung der Menschen! Ich habe der Gräfin die Schandtat verhehlt, die der Ruchlose an der Baronesse verübt hat: wir wollen sie auch der Welt verhehlen, soviel uns möglich ist, um dem künftigen Glücke der guten Ulrike nicht zu schaden: das Geheimnis ihrer Niederkunft soll mit mir ins Grab gehn, und ich bitte Sie bei Ihrer ewigen Wohlfahrt, tun Sie ein Gleiches und beschwören Sie alle, die darum wissen, unserm Beispiele nachzuahmen! Der Verbrecher wird seinen Lohn durch sich selbst finden, so wahr ich einen Gott glaube; und von diesem erwarten Sie den Dank für Ihre Bemühungen zu Ulrikens Rettung, wenn Ihnen der meinige nicht genug ist. Ich bin etc.

Schwinger.
[693]

Betäubt wie von einem plötzlichen Schlage und beinahe sinnlos ließ Herrmann den Brief sinken: Schmerz, Verzweiflung, Verwilderung starrten ihm fürchterlich aus Aug und Mienen hervor. Knirschend sah er empor, die Daumen eingeschlagen, die Fäuste geballt, und drohend mit beiden erhobenen Armen rief er: »O so stürze Erd und Himmel zusammen, wenn das Menschen sind! Ungeheuer, denen Löwenblut in den Adern rollt! Teufelsseelen, aus Unbarmherzigkeit und Wildheit zusammengesetzt! – So denkt, so spricht der Mann, der sich meinen Freund nannte? So läßt sich der gutmütige Schwinger von der Bosheit zu einer Verschwörung wider mich verleiten? Spricht ein Urteil über mich, wie es kaum die unmenschlichste Dummheit, der barbarischste Menschenhaß sprechen könnte? – Noch einmal! Himmel und Erde muß zusammenstürzen und eine solche Brut von Treulosen, Barbaren und Verrätern vernichten! Verräter seid ihr insgesamt an mir! schändliche Verräter, die ihren Lohn durch sich selbst finden müssen, wenn Gerechtigkeit die Welt regiert.«

Er wandte sich zum Pfarr: »Heißt das die menschenfreundliche, wohltätige Lehre ausüben, die Sie predigen sollen, daß Sie einen Freund verraten, der sich in Ihre Arme warf? Ist das die allgemeine Nächstenliebe, das die Nachsichtigkeit gegen Fehler und Schwachheiten, das die Sanftmut gegen den Verirrten, die Sie einprägen sollen, daß Sie ein Geheimnis aufdecken, auf dessen Verheimlichung Sie mir Ihr Wort und diese Rechte gaben? – Verzehren muß sie sich, die treulose Rechte, und jeder Segen, den sie austeilen soll, wie zehnfacher Fluch auf den Gewissenlosen zurückfallen, der sie zum Unterpfande der Falschheit gab! – Gott! das sind Menschen! sprechen Lügen, sooft sie atmen, und handeln wilder, als es ein menschlicher Verstand sich vorzustellen vermag! Überliefern den gefallnen Bruder in die Hände des Bösewichts, den niemand schwarz genug malen kann, und wenn er die Farben aus der Hölle nähme! – Da stehn sie, die beiden Nichtswürdigen, und freuen sich ihrer Tücke: ich mag sie nicht länger anschaun. – Wagt es! führt euren Schelmenstreich[694] aus! Nehmt mir Ulriken! Aber der erste, der eine Hand an sie legt, drückt mir die Kehle zu oder ich ihm.«

Er warf dem Pfarr, ohne etwas weiter zu sagen, die vorgestreckten zwanzig Taler auf den Tisch und ging. Siegfried, sosehr ihn die gemachten Vorwürfe kränkten, freute sich mit satanischem Lächeln über die Uneinigkeit dieser beiden Leute; und der arme Pfarr, der sich vor Überraschung nicht besinnen konnte, wie er zu Meineid und Treulosigkeit gekommen war, ohne es zu wissen noch zu wollen, blieb entfärbt und unbeweglich stehen und vermochte nicht ein Wort zu seiner Verteidigung aufzubringen, ob er sich gleich keiner Bosheit, sondern höchstens nur einer unzeitigen Schwatzhaftigkeit schuldig gemacht hatte. Auch Siegfried verließ ihn, und er war noch immer nicht bei sich.

Herrmann ging nicht gerade zu Ulriken, um sie nicht durch seine Verwilderung zu schrecken: seine Seele war mit zu fürchterlichen Gedanken erfüllt, und nach einer so ausgezeichneten Verräterei zweier Männer, deren Redlichkeit ihm felsenfest zu sein schien, kam ihm alles, was menschlich heißt, zu verhaßt vor, um einen Sterblichen anzublicken: er schloß die Haustür hinter sich zu und setzte sich im Garten in eine Laube. Alles um ihn herum war schwarz wie die Galle, die in ihm kochte: selbst der heitre, blaue Himmel schien ihm mit finstern, pechschwarzen Wolken überzogen: er war seinem eignen Odem gram, so tief verabscheute er die Menschheit.

»Ein Verbrecher?« fing er abgebrochen an. »Ja, ich bin's – und will es doppelt werden. – Sie sollen Ulriken nicht haben, und wenn ich meine eignen Hände mit ihrem Blute färben müßte! Wird eine Übereilung der Schwachheit schon so unbarmherzig gestraft, was soll dann einem Morde geschehen? – Nichts mehr und nichts weniger! Wenn glühende Qualen einmal mein Gewissen martern sollen – Feuer brennt wie Feuer, und Qual martert wie Qual, sie martre für ein oder zwei Verbrechen. – Sie sollen sie nicht haben: eher will ich ihr mit meinen Händen die Adern zerreißen, daß der purpurne Lebensstrom herausquillt, oder – Gott! wie mich[695] schaudert! – Herrmann! Herrmann! was beginnst du? – Wenn sich nun das liebe, sanfte Geschöpf an mich hinge, mit krampfichter Angst die Finger sich in mein Fleisch hineingrüben – wenn dann röchelnd und zuckend ihr schlaffes Haupt sich senkte, das erstarrte Blut aus der Wunde nicht mehr flösse und das Leben mit einem Seufzer entflöhe, und ich, ihr einziger Freund, stünd als ihr Mörder da und ließ die Leiche platzend auf den Boden hinfallen – und ich eilte von ihr, um mich vor Himmel und Menschen zu verbergen, irrte von Ort zu Ort, und immer schwebte das Schwert des Henkers über meinem Nacken – Oh, wer schützt mich vor meinen eignen Gedanken? Wer fesselt meinen Willen, daß er keine Untat beschließt?« –

Nach einer tiefsinnigen Pause fing er wieder an: »Fliehen will ich mit ihr! sie auf meine Arme nehmen wie ein Kleinod, das man aus dem Feuer rettet, und mit ihr fliehen! Weit von den Barbaren, die mich um den Bissen Glückseligkeit beneiden, daß die Liebe eines treuen Mädchens meine Not erleichtert! Nie sei mein Herz der Freundschaft gegen einen Menschen offen: nie fühle mein Herz einen Pulsschlag lang Vertrauen zu einem Menschen: wie ein einsames Gewächs in einer Wüste, das sich auch selbst im größten Sturme nie zu einem andern hinneigt und Schutz sucht, will ich in der menschlichen Gesellschaft sein, will mich in mich selbst verschließen, Mitleid fühlen und helfen, wo ich kann, aber nie Freundschaft, nie Zutrauen. – Wenn Schwinger sich mit einem Bösewichte, den er sonst tödlich haßte, wider mich verbindet; wenn er dem größten Schelm auf der Erde Lohn von Gott verspricht und mir für eine verliebte Vergehung den Lohn eines Bösewichts prophezeit; wenn Schwinger aus schnöder Gefälligkeit gegen einen Grafen alle Vernunft, alles Gefühl verleugnet; wenn mich die Ehrlichkeit selbst verrät und in die Hände der Räuber spielt: was sollen dann die übrigen tun? – Fort! fort mit mir! Ich bin mit Tigern, Ottern und Wölfen umgeben: fort mit dir! ehe sie mich verschlingen.« –

Er sprang hastig auf; und ins Haus hinein! Er suchte Ulriken[696] in der Stube, in der Kammer – fand sie nicht; rief, lief die Treppe hinan, schrie ängstlich ihren Namen, so laut er konnte: Fräulein Hedwig, sein Vater kamen auf das Geschrei, ein jedes aus seinem Kämmerchen herbeigelaufen. »Wo ist Ulrike?« fragte Herrmann zitternd vor Ahndung.

Hedwig. Sie ist Ihnen ja nachgegangen.

Der Vater. Kaum drei oder vier Minuten, nachdem du aus dem Hause warst.

Herrmann. Mir ging sie nach? – Und warum?

Hedwig. Eine Magd rief sie –

Herrmann. Und sie ging mit der Magd?

Hedwig. Allerdings! Die Magd brachte ja Ihren Befehl, daß sie Ihnen nachkommen sollte. Der Pfarr wäre Ihnen begegnet, sagte sie, und ginge mit Ihnen zum Grabe auf den Kirchhof: sie sollte hurtig nachkommen.

Herrmann. Und sie ist noch nicht wieder da? – Sie ist fort! Man hat sie gestohlen! Lauft! sucht! holt sie zurück! Lauft, so weit eure Füße vermögen! -Mit diesem schnaubenden Geschrei eilte er fort auf den Herrnhof: nach jedermanns Berichte, den er nur fragte, war Siegfried schon beinahe vor vier Stunden abgereist. Er eilte in die Pfarrwohnung: niemand ließ sich sehen: der Pfarr und seine Frau versteckten sich vor Furcht, als sie seine Stimme hörten, und sonst war keine Seele im ganzen Hause zu finden. Er erkundigte sich auf dem Herrnhofe, wohin Siegfried gereist wäre; und man antwortete: »Auf sein Gut.« – »Wie weit ist das?« – »Zwo Meilen.« – Er fragte bei allen Mägden auf dem Hofe an, ob eine Ulriken gesehn oder gar gerufen habe: keine wußte etwas von ihr. Nicht einmal den Weg nach Siegfrieds anderm Gute, kaum den rechten Namen desselben konnte man ihm berichten: er stellte bei allen Bauern im Dorfe Nachsuchung und Nachforschung an: alles umsonst! Die Nacht rückte heran: es fand sich wohl jemand, der ihm den Weg nach Siegfrieds Gut beschrieb, aber jedermann war zu müde von der Arbeit, um ihm zum Boten zu dienen, und allein konnte er sich in der Dunkelheit unmöglich[697] finden. Er mußte seine Reise bis in den Morgen darauf versparen, aß, trank und schlief nicht und machte sich mit der ersten Morgenröte auf den Weg. Nach vielfältigem Fragen und Verirren langte er erschöpft an: auch hier umsonst. Der Herr war seit drei Tagen nicht zu Hause und die Frau gestern abend verreist. Nun ließ sich über Ulrikens Schicksal nicht mehr zweifeln: sie war geraubt, entführt und vermutlich für ihren Geliebten auf immer verloren.

Nie beweist die eingeschlummerte Liebe ihre wahre Stärke mehr, als wenn ihr Trennung oder ein ähnlicher Unfall den Tod droht. Herrmanns Gemütsunruhe hatte ihn seit dem Anfange seiner häuslichen Unordnung gleichgültig gegen Ulriken gemacht: sein Herz liebte sie im Grunde nicht weniger als vorher, aber es war in so viele andre Leidenschaften geteilt, daß es zu den vorigen heftigen Ergießungen der Liebe nicht genug Kraft hatte. Itzt mußten alle andre Kümmernisse schweigen: der Schmerz der Liebe überstimmte sie alle. Herrmann betrachtete sich als einen Witwer und brachte vier Wochen in einer dämischen Betrübnis zu, die ihm Überlegung, Tätigkeit und Empfindung für alles außer sich raubte: mancher Tag ging ohne Speise und Trank hin. Endlich drückte die häusliche Not so gewaltig auf die Federn seiner Seele, daß sie ebenso gewaltig emporsprangen: er hatte mit den Seinigen bisher von dem Verkaufe des Ackergerätes und des Viehes gelebt, das der Hunger nicht hinraffte; dies Rettungsmittel war itzt vorbei: der Pfarr hatte ihm zuweilen Kleinigkeiten zufließen lassen; auch diese hörten auf, und Herrmann hätte lieber von der Hand des Todes Trost angenommen als von den Händen eines Mannes, den er als einen Gewissenlosen haßte. Der Hunger sprach aus Hedwigs verfallnem Gesichte: sie foderte mit Tränen Brot und kündigte traurig an, daß sie weder durch Kredit noch für Geld eine einzige Mahlzeit mehr verschaffen könnte: der Vater war so kleinlaut, so schwachmütig geworden, daß ihm keine einzige von seinen auffahrenden Reden mehr entwischte: Beide baten kläglich, daß Herrmann Rat schaffen möchte. Von ihren Vorstellungen gerührt, sprach er zu ihnen: »Seid[698] ruhig, meine Lieben! Ihr sollt heute essen wie Reiche. Dem Unglück kann ich nicht wehren, daß es mich trifft: aber niederschlagen soll es mich fürwahr nicht. Der Schmerz der Seele machte mich unfähig, an die Bedürfnisse des Körpers zu denken. Vergebt mir, daß ich so ein schlechter Hausvater bin!« – Er ging und tat, wozu er sich bisher aus einer falschen Scheu, seine Verlegenheit kundwerden zu lassen – wiewohl sie jedermann wußte, ob er sich es gleich nicht einbildete –, nicht entschließen konnte: er verpfändete sein Gut, empfing von dem Schulzen gegen eine Handschrift eine höchst geringe Summe, um der gegenwärtigen Not zu steuern, und kam mit ihm überein, daß er eine größre in vierzehn Tagen gegen gerichtliche Versichrung erhalten sollte. – »Seht ihr«, sagte er mutig, als er nach Hause kam und das Geld auf den Tisch legte, »seht ihr, daß noch Hülfe für uns in der Welt ist? Verzagen gehört für schwache Seelen und Bösewichter. Hedwig, tischen Sie auf! Wir wollen heute essen wie Reiche: halt ich nicht Wort?« – Geschäftig bereitete Hedwig eine reichlichere Mahlzeit als gewöhnlich, und der Tag, der mit dem äußersten Kummer anfing, endigte sich für alle mit Freude und Erquickung.

Herrmann machte nunmehr das Projekt, von dem aufgebrachten Gelde seinen beiden Hausgenossen das Nötige zurückzulassen, auf das Gut einen Pachter zu setzen und mit dem Reste seiner Barschaft auszuwandern, um das Glück oder Ulriken zu suchen: doch nahm er sich ernstlich vor, seinem Herze Gewalt anzutun, ihre Liebe durch seine Gegenwart nicht von neuem zu befeuern, sondern vielmehr sich von ihr zu entfernen, sobald er wüßte, daß sie sich in günstigen Umständen befände: Wünsche, Begierden, Entwürfe stiegen haufenweise in ihm auf: der neue Plan riß ihn hin: hastig brachte er alle seine Angelegenheiten zustande und quälte sich vor Ungeduld, daß ihm Hindernisse nur einen Tag Aufschub verursachten. Er schloß seinen Pachtkontrakt mit Hitze und also sehr zu seinem Nachteil, wies seinem Vater und der Fräulein Hedwig den Genuß der Pachtgelder zu ihrem Unterhalte und zu Bezahlung der Zinsen an, gab[699] ihnen nebst dem Pachter sein Haus ein, und nichts als die verschobene Auszahlung des Kapitals, das ihm der Schulze versprochen hatte, hielt seine Abreise auf.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 690-700.
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