Siebentes Kapitel
Das ganze Abdera teilt sich in zwo Parteien
Die Sache kommt vor Rat

[331] In dieser Gärung befanden sich die Sachen, als auf einmal die Namen Schatten und Esel in Abdera gehört, und in kurzem durchgängig dazu gebraucht wurden, die beiden Parteien zu bezeichnen. Man hat über den wahren Ursprung dieser Übernamen ganz zuverlässige Nachricht. Vermutlich, weil doch Parteien nicht lange ohne Namen bestehen können, hatten die Anhänger des Zahnarztes Struthion unter dem Pöbel den Anfang gemacht, sich selbst, weil sie für sein Recht an des Esels Schatten stritten, die Schatten, und ihre Gegner, weil sie den Schatten gleichsam zum Esel selbst machen wollten, aus Spott und Verachtung, die Esel zu nennen. Da nun die Anhänger des Erzpriesters diese Benennung nicht verhindern konnten, so hatten sie, wie es zu gehen pflegt, sich unvermerkt daran gewöhnt, sie, wiewohl bloß anfänglich zum Scherz, zu gebrauchen; nur mit dem Unterschiede, daß sie den Spieß umdrehten, und das Verächtliche mit dem Schatten, und das Ehrenvolle mit dem Esel verknüpften. Wenn es ja eins von beiden sein soll, sagten sie, so wird jeder braver Kerl doch immer lieber ein wirklicher leibhafter Esel mit all seinem Zubehör, als der bloße Schatten von einem Esel sein wollen.

Wie es auch damit zugegangen sein mag, genug, in wenig Tagen war ganz Abdera in diese zwo Parteien geteilt; und so wie sie nun einen Namen hatten, nahm auch der Eifer auf beiden Seiten so schnell und heftig zu, daß es gar nicht mehr erlaubt war, neutral zu bleiben. Bist du ein Schatten oder ein Esel, war immer die erste Frage, die die gemeinen Bürger an einander taten, wenn sie sich auf der Straße oder in der Schenke antrafen; und wenn ein Schatten just das Unglück hatte, an einem solchen Ort der einzige seines gleichen unter einer Anzahl Eseln zu sein, so blieb ihm, wofern er sich nicht gleich mit der Flucht rettete, nichts übrig, als entweder auf der Stelle zu apostasieren, oder sich mit tüchtigen Stößen zur Türe hinaus werfen zu lassen.

Die Unordnungen, die hieraus entstehen mußten, kann man sich ohne unser Zutun vorstellen. Die Verbitterung ging in kurzem[331] so weit, daß ein Schatten sich lieber vor Hunger zum wirklichen stygischen Schatten abgezehrt, als einem Bäcker von der Gegenpartei für einen Dreier Brot abgekauft hätte.

Auch die Weiber nahmen, wie leicht zu erachten, Partei, und gewiß nicht mit der wenigsten Hitze. Denn das erste Blut, das aus Gelegenheit dieses seltsamen Bürgerkriegs vergossen wurde, kam von den Nägeln zwoer Hökerweiber her, die einander auf öffentlichem Markte in die Physionomie geraten waren. Man bemerkte indessen, daß bei weitem der größte Teil der Abderitinnen sich für den Erzpriester erklärte; und wo in einem Hause der Mann ein Schatten war, da konnte man sich darauf verlassen, die Frau war eine Eselin, und gemeiniglich eine so hitzige und unbändige Eselin, als man sich eine denken kann. Unter einer Menge teils heilloser teils lächerlicher Folgen dieses Parteigeists, der in die Abderitinnen fuhr, war keine der geringsten, daß mancher Liebeshandel dadurch auf einmal abgebrochen wurde, weil der eigensinnige Seladon lieber seine Ansprüche als seine Partei aufgeben wollte; so wie hingegen auch mancher, der sich schon Jahre lang vergebens um die Gunst einer Schönen beworben, und ihre Antipathie gegen ihn durch nichts, was jemals von einem unglücklichen Liebhaber versucht worden, hatte überwinden können, itzt auf einmal keines andern Titels bedurfte, um glücklich zu werden, als seine Dame zu überzeugen, daß er – ein Esel sei.

Inzwischen wurde die Präjudicialfrage, ob die von Klägern eingewandte Abberufung an den großen Rat statt finde oder nicht, vor den Senat gebracht. Wiewohl dies das erstemal war, daß es über die Eselssache bei diesem ehrwürdigen Collegio zur Sprache kam: so zeigte sich doch bald, daß jedermann schon seine Partei genommen hatte. Der Archon Onolaus war der einzige, der in Verlegenheit zu sein schien, wie er der Sache einen leidlichen Anstrich geben könnte. Denn man bemerkte, daß er viel leiser als gewöhnlich sprach, und am Schluß seines Vortrags in die merkwürdigen und ominosen Worte ausbrach: er besorge sehr, der Eselsschatten, über welchen itzt mit so vieler Hitze gestritten werde, möchte den Ruhm der Republik auf viele Jahrhunderte verfinstern. Seine Meinung war, man würde am besten tun, die eingelegte Appellation als unstatthaft abzuweisen,[332] den Spruch des Stadtgerichts (bis auf den Punkt der Kosten, die gegen einander aufgehoben werden könnten) zu bestätigen, und beiden Parteien ein ewiges Stillschweigen aufzulegen. Indessen setzte er doch hinzu: wofern die Majora davor hielten, daß die Gesetze von Abdera nicht zureichend wären, einen so geringfügigen Handel auszumachen, so müsse er sich gefallen lassen, daß der große Rat den Ausspruch darüber tue; jedoch wollte er darauf angetragen haben, vorher im Archiv nachsuchen zu lassen, ob sich nicht etwa schon in ältern Zeiten dergleichen ungewöhnliche Fälle ereignet, und wie man sich dabei benommen habe.

Diese Mäßigung des Archon – die ihm von der unparteiischrichtenden Nachwelt einstimmig als ein Beweis von wahrer Regentenweisheit zum Verdienst angerechnet werden wird wurde damals, da der Parteigeist alle Augen verblendet hatte, als Schwachheit und phlegmatische Gleichgültigkeit ausgelegt. Verschiedene Senatoren von der Partei des Erzpriesters ließen sich weitläuftig und mit großem Eifer vernehmen: Man könne nichts geringfügig nennen, was die Rechte und Freiheiten der Abderiten betreffe; wo kein Gesetz sei, finde auch kein gerichtliches Verfahren statt; und das erste Beispiel, wo den Richtern gestattet würde, einen Handel nach einer willkürlichen Billigkeit zu entscheiden, würde das Ende der Freiheit von Abdera sein. Wenn der Streit auch noch was geringeres beträfe, so komme es nicht auf die Frage an, wie viel oder wenig er wert sei, sondern welche von den Parteien Recht habe; und da kein Gesetz vorhanden sei, welches in vorliegendem Fall entscheide, ob des Esels Schatten stillschweigend in der Miete begriffen sei oder nicht: so könne sich weder das Untergericht noch der Senat selbst ohne die offenbarste Tyrannie anmaßen, dem Abmieter etwas zuzusprechen, woran der Vermieter wenigstens eben so viel Recht habe, oder vielmehr ein ungleich besseres, da aus der Natur ihres Contracts keineswegs notwendig folge, daß die Meinung des letztern gewesen, jenem auch den Schatten seines Esels zu vermieten u.s.w. Einer von diesen Herren ging so weit, daß er in der Hitze heraus fuhr: er sei jederzeit ein eifriger Patriot gewesen; und eh er zugeben würde, daß einer seiner Mitbürger sich anmaßen sollte, nur den Schatten einer tauben Nuß[333] dem andern willkürlich abzusprechen, eh wollt' er ganz Abdera in Feuer und Flammen sehen.

Itzt verlor der Zunftmeister Pfrieme alle Geduld. Das Feuer, sagte er, womit man die ganze Stadt mit solcher Verwegenheit bedrohe, sollte mit demjenigen angezündet werden, der sich zu reden unterstehe. »Ich bin kein studierter Mann, fuhr er fort; aber, bei allen Göttern, ich lasse mir Mäusedreck nicht für Pfeffer verkaufen! Man muß den Verstand verloren haben, um einem gesunden Menschen weis machen zu wollen, daß es ein eignes Gesetz brauche, wenn die Frage ist, ob sich einer auf eines Esels Schatten setzen dürfe, wenn er mit barem Geld das Recht erkauft hat, auf dem Esel selbst zu sitzen. Überhaupt ist es Schande und Spott, daß so viel ernsthafte gescheute Männer sich den Kopf über einen Handel zerbrechen, den jedes Kind auf der Stelle entschieden haben würde. Wenn ist denn jemals in der Welt erhört worden, daß Schatten unter die Dinge gehören, die man einander vermietet?«

Herr Zunftmeister, fiel der Ratsherr Buphranor ein, Ihr schlagt Euch selbst auf den Mund, wenn Ihr das behauptet. Denn wenn des Esels Schatten nicht vermietet werden konnte, so ist klar, daß er nicht vermietet worden ist; denn a non posse ad non esse valet consequentia. Der Zahnarzt kann also, nach Eurem eignen Grundsatz, kein Recht an den Schatten haben, und das Urtel ist an sich null und nichtig.

Der Zunftmeister stutzte; und weil ihm nicht gleich einfiel, was sich auf dieses feine Argument antworten ließe, so fing er desto lauter an zu schreien, und rief Himmel und Erde zu Zeugen an, daß er eher seinen grauen Bart Haar vor Haar ausraufen, als sich noch in seinen alten Tagen zum Esel machen lassen wollte. Die Herren von seiner Partei unterstützten ihn aus allen Kräften: allein sie wurden überstimmt; und alles, was sie endlich mit Beihülfe des Archon und des Ratsherrn, der immer leise auftrat, erhalten konnten, war: daß die Sache einsweilen in statu quo bleiben sollte, bis man im Archiv nachgesehen hätte, ob sich kein Präjudicium fände, wodurch dieser Handel ohne größre Weitläuftigkeiten entschieden werden könnte.[334]

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 2, München 1964 ff., S. 331-335.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geschichte der Abderiten
C. M. Wielands sämtliche Werke: Band XX. Geschichte der Abderiten, Teil 2
C. M. Wielands sämtliche Werke: Band XIX. Geschichte der Abderiten, Teil 1
Geschichte Der Abderiten (1-2)
Geschichte Der Abderiten
Geschichte Der Abderiten (2)

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon