21.
An Kritobulus.

[167] Mein Aufenthalt in Aegina hat länger gedauert als ich vorhersehen konnte, und meine Abwesenheit von Athen wird sich in eine noch größere Länge ziehen; denn ich bin im Begriff einen Streifzug durch die merkwürdigsten Inseln des Aegeischen und Ionischen Meeres zu thun. Du hast vielleicht schon gehört, daß ich unsern Freund Kleombrotus eingeladen habe, herüber zu kommen und mich auf dieser Reise zu begleiten. Die Luftveränderung wird seiner Gesundheit zuträglich seyn, und die mannichfaltige Menge neuer Gegenstände seiner allzuwirksamen Phantasie eine andere Nahrung und einen weitern Spielraum geben, und sie dadurch verhindern, sich in diejenigen, die ihn zeither einzig beschäftigten, gar zu tief hineinzugraben. Der Kreis, den unser ehrwürdiger Meister um sich her zu sehen gewohnt ist, wird durch unsre Abwesenheit auf einige Zeit – um zwei, die man kaum vermissen wird, vermindert: und wir werden mit einer Menge neuer Ideen und praktischer Kenntnisse schwer beladen zurückkommen, die uns Stoff zum Fragen, und ihm Gelegenheit, unsre Begriffe zu berichtigen, geben werden. Sage ihm, es vergehe kein Tag, da ich mich nicht einer seiner weisen Lehren[167] erinnere, oder von einer seiner Maximen Gebrauch mache – nach meiner Weise, versteht sich; denn an einer ängstlichen schülerhaften Copey würde er selbst kein Wohlgefallen haben. Wenn ich einen Weg zu machen habe, worauf man sich leicht verirren kann, bin ich froh, wenn ich einen kundigen Wegweiser finde; ich gehe neben, auch wohl zuweilen ein wenig vor oder hinter ihm, ohne meine Füße in seine Tritte zu setzen, oder mich der Freiheit zu begeben, dann und wann einen kleinen Umweg zu nehmen, um etwa einer Nachtigall im Gebüsche zuzuhören, mich an einer schönen Ansicht zu ergötzen, oder die Aufschrift an einem verfallenden Denkmal zusammen zu buchstabiren. Es ist mit der Philosophie, denke ich, wie mit den Nasen; das, was eine Nase zur Nase macht, ist bei allen dasselbe, und doch hat jedermann seine eigene.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 167-168.
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