43.
An Ebendenselben.

[264] Das neue Palladion unsrer Stadt ist nun fertig, und (wie die Cyrener ein rasches und ungeduldiges Völkchen sind) von der allgemeinen Volksversammlung mit großem Jubel angenommen und eingeführt worden. Dir die innere Organisation unsrer mit Griechenland in keiner Verbindung stehenden Republik bis in ihren kleinsten Aesten und Zweigen darzulegen, möchte dir und mir zu langweilig seyn: ich begnüge mich also, dir nur das Wesentlichste, und auch dieß nur mit den äußersten Linien, vorzuzeichnen.

Die höchste Staatsgewalt ist in einer ziemlich zweckmäßigen[264] Proportion (wie mich däucht) zwischen dem Senat, welcher ausschließlich aus den ältesten und begütertsten Familien genommen wird, und dem Volk, oder vielmehr dem aus dem Mittel desselben erwählten großen Rath, der das Volk vorstellt, vertheilt. Der Senat besteht aus hundert Personen, die ihren Platz in demselben lebenslänglich behalten. Der Vorsitzer, Epistates genannt, ist das Haupt der ganzen Republik; er hat das große Siegel in seiner Verwahrung, und da er für die Ausführung der Beschlüsse des Senats verantwortlich ist, so ist jeder Bürger von Cyrene ohne Ausnahme seinen Befehlen und Aufträgen schleunigen und unverweigerlichen Gehorsam schuldig. Er besitzt aber diese beinahe königliche Gewalt nur dreißig Tage lang, und kann erst in fünf Jahren wieder dazu erwählt werden. Die Senatoren, die nicht unter fünfunddreißig Jahre alt seyn dürfen, sind in drei Classen abgetheilt. Die erste besteht aus zwölf Demarchen oder Polizeimeistern (welche künftig bloß aus den monatlich abgehenden Epistaten genommen werden sollen), deren jeder in einem der zwölf Quartiere, in welche die Stadt abgetheilt ist, für die Erhaltung guter Zucht und Ordnung und öffentlicher sowohl als häuslicher Sicherheit zu sorgen hat. Sie sind zugleich Schiedsrichter in allen unter den Bürgern verfallenden Streitigkeiten, und berechtigt, wenn kein Vergleich statt findet, in erster Instanz abzuurtheilen. Auch kommen sie zweimal in der Woche zusammen, um sich über alles was zur allgemeinen Stadtpolizei gehört, es betreffe nun Abstellung von Mißbräuchen oder Vorschläge zu Verbesserungen, zu berathen. Sie erstatten dem Senat[265] alle Monate Bericht über den Zustand der Stadt und legen ihm ihre Vorschläge zur Entscheidung vor. Die zweite Classe des Senats besteht aus den vierundzwanzig Personen, unter welche die hauptsächlichsten Aemter der Republik vertheilt sind, dem Kanzler und Schatzmeister, und den sämmtlichen Oberaufsehern der öffentlichen Gebäude, Tempel, Gymnasien, Bäder, Brunnen u.s.w., ferner der Feste und religiösen Feierlichkeiten, des Kriegsstaats und Seewesens, der Zeughäuser, der öffentlichen Fruchtböden, des Ackerbaues, der Bergwerke u.s.w. Diese erscheinen gewöhnlich nur alsdann im Senat, wenn sie Vorträge zu thun, Verhaltungsbefehle einzuholen, oder Rechenschaft abzulegen haben. Alle übrigen Senatoren machen das Collegium aus, dem die Verwaltung der bürgerlichen und peinlichen Gerechtigkeit anvertraut ist, und welches wieder in verschiedene Abtheilungen zerfällt. Die Epistaten und Demarchen dienen dem Gemeinwesen umsonst; die zweite und dritte Classe sind auf einen anständigen Gehalt gesetzt. Der Staat besoldet seine Diener aus dem Schatz; die Richter hingegen erhalten ihren Ehrensold aus einer öffentlich verwalteten Casse, in welche alle Geldbußen und die vom Gesetz bestimmten Gerichtsgebühren fließen, welche die unterliegende Partei bezahlen muß, und wovon allein die ärmste Bürgerclasse ausgenommen ist; denn für diese hat unsre Justiz keinen Beutel, aber dafür einen derben Knittel, um die Leute von leichtfertigen Händeln abzuschrecken.

Der Senat versammelt sich gewöhnlich sechsmal in jedem Monat, und außerdem so oft es der Epistat nöthig findet. Er vereinigt unter den verfassungsmäßigen Einschränkungen[266] alle Gewalten in sich. Alle seine Verordnungen haben, insofern sie den schon vorhandenen Gesetzen nicht widerstreiten, Gesetzeskraft; aber diejenigen, die den ganzen Staat betreffen, nur bis zur nächsten Sitzung des großen Rathes, der aus hundert und zweiundneunzig Plebejern besteht, wozu jedes Quartier sechzehn von den Bürgern desselben erwählte Mitglieder hergibt. Dieser muß alle Monate, am ersten Tage nach dem Neumond, von dem Epistaten zusammenberufen werden, um den Verordnungen des Senats, welche die Kraft eines gemeingültigen Gesetzes erhalten sollen, die Bestätigung zu geben oder zu versagen. Diese Bestätigung ist nicht länger als auf fünf Jahre kräftig; nach Verfluß derselben wird das Gesetz einer Revision ausgestellt, durch welche es entweder verworfen oder auf dreißig Jahre festgesetzt wird. Ueber Krieg und Frieden kann nur der große Rath entscheiden. Neue Auflagen können nur mit seiner Bewilligung stattfinden, auch muß ihm von jedem abgehenden Epistaten Bericht über den Zustand der Republik und alle Jahre von dem Schatzamt Rechnung über die Verwaltung der öffentlichen Einkünfte abgelegt werden.

Auf diese Weise glaubten unsre Nomotheten122 zugleich sowohl für die Freiheit und Sicherheit, die der Staat seinen Bürgern zu garantiren schuldig ist, als für die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung, hinlänglich gesorgt zu haben. Aber sie fanden noch eine Gewalt nöthig, um der großen Macht, die dem aristokratischen Senat anvertraut ist, das Gegengewicht zu halten, und dem demokratischen großen Rath jeden Mißbrauch seiner hemmenden Gewalt unmöglich zu machen.[267]

Zu diesem Ende verordneten sie noch ein Collegium von sechs Eparchen, welche, von allen andern unabhängig, zur einen Hälfte vom großen Rath aus den Eupatriden, und zur andern vom Senat aus dem Volk erwählt werden, und keine andere Verrichtung haben, als die Bewahrer der Gesetze und der Verfassung zu seyn, und zu verhindern, daß weder der Senat und die aus dessen Mittel bestellten Magistratspersonen ihre Gewalt über die Schranken der Gesetze ausdehnen, noch der große Rath dem kleinen seine Beistimmung aus unstatthaften Ursachen versagen könne. In beiderlei Fällen haben sie den Räthen und übrigen Staatsbeamten Vorstellungen zu thun, und sind, wofern diese nicht gehört würden, berechtigt, eine von den Prytanen ergangene Verordnung zu suspendiren oder eine vom großen Rath versagte Sanction durch die ihrige zu ersetzen. Die ihnen verliehene Macht geht so weit, daß sie eine jede Magistratsperson und überhaupt jeden Bürger, der etwas gegen die Republik oder ihre Verfassung unternehmen wollte, in Verhaft zu nehmen, und einem besondern Gerichte, das aus den zwölf Demarchen, zwölf durchs Loos erwählten Prytanen, und fünfundzwanzig Plebejern, unter dem Vorsitz des ältesten Eparchen, zusammengesetzt ist, zur Untersuchung und Bestrafung zu übergeben berechtigt sind. Diese Staatsaufseher bleiben nur ein Jahr im Amte, haben den Vorsitz über alle andern obrigkeitlichen Personen, unmittelbar nach dem Epistaten, und werden vom Volk als eben so viele für seine Rechte und für die öffentliche Wohlfahrt wachende Schutzgeister angesehen; sind aber nach ihrem Austritt einer so strengen Verantwortlichkeit unterworfen,[268] daß auf jede Versäumniß ihrer Pflicht die Strafe einer zehnjährigen Landesverweisung steht.

Ich füge diesem kurzen Abriß unsrer neuen Verfassung nur noch dieses hinzu, daß, weil die Cyrenische Priesterschaft sich bei der letzten Revolution durch eine besonders eifrige Vorliebe für die Tyrannie hervorgethan, die Einrichtung getroffen worden ist, daß die jedesmaligen Demarchen zugleich die Oberpriester in ihrem Quartier, und der Epistat als das Oberhaupt des Staats zugleich der Hohepriester desselben ist.

Wie gefällt dir nun unsre Republik in dieser neuen Gestalt, edler Learch? Sie ist mit obrigkeitlichen Personen nicht so überladen wie Athen, und hat, wenn ich ihr nicht zu viel schmeichle, so ziemlich die Miene, ihre zwanzig Jahre so gut wie irgend eine andre auszudauern. Oder meinst du nicht? – Ernsthaft zu reden, es wäre unartig von mir, wenn ich unsern Prometheen die Freude, eine so zierlich gearbeitete Constitution zu Stande gebracht zu haben, und meinen Mitbürgern ihr Vergnügen an derselben durch Mittheilung meiner Gedanken verkümmern wollte. Aber bei dir darf ich die Weissagung wohl ingeheim hinterlegen, daß unsre Staatsmaschine, wie richtig sie auch einige Jahre spielen mag, noch ehe dreißig Jahre in die Welt gekommen sind, wieder ins Stocken gerathen und den Söhnen ihrer Verfertiger wenigstens eben so viel zu schaffen machen werde, als die vorige den Vätern. Alle bürgerliche Gesellschaften haben den unheilbaren Radicalfehler, daß sie, weil sie sich nicht selbst regieren können, von Menschen regiert werden müssen, die – es größtentheils eben so wenig können. Man kann unsre Regierer[269] nicht oft genug daran erinnern, daß bürgerliche Gesetze nur ein sehr unvollkommnes und unzulängliches Surrogat für den Mangel guter Sitten, und jede Regierung, ihre Form sey noch so künstlich ausgesonnen, nur eine schwache Stellvertreterin der Vernunft ist, die in jedem Menschen regieren sollte. Was hieraus unmittelbar folgt, ist, denke ich: man könne nicht ernstlich genug daran arbeiten, die Menschen vernünftig und sittig zu machen. Aber, wie die Machthaber hiervon zu überzeugen, oder vielmehr dahin zu bringen wären, die Wege, die zu diesem Ziele führen, ernstlich einzuschlagen? – dieß ist noch immer das große unaufgelöste Problem! Wie kann man ihnen zumuthen, daß sie mit Ernst und Eifer daran arbeiten sollen, sich selbst überflüssig zu machen?

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 264-270.
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