6.
Aristipp an Hippias.

[12] Ich höre mit vielem Vergnügen, daß du im Begriff bist das unruhige Samos zu verlassen und in die schöne und reiche, den Frieden und die Künste des Friedens liebende Hauptstadt von Ionien zu ziehen, wo du dich in jeder Hinsicht besser befinden wirst; es sey daß du einen würdigen Schauplatz für deine Talente, oder nur einen Ort suchest, wo du, so frei und angenehm als vielleicht an keinem andern in der Welt, einer selbst erwählten Gesellschaft von Freunden, den Musen und deinem Genius leben kannst. Was hätte dich auch länger in Samos zurückhalten sollen? Ueberall, wo die Athener den Meister spielen, ist in die Länge nicht gut wohnen. Ich habe öfters sagen hören, der Athener sey nirgends artig und liebenswürdig als in Athen selbst; ich für meine Person habe gefunden, daß sie allenthalben die liebenswürdigsten aller Menschen sind, sobald sie eine Ursache haben es seyn zu wollen, und die widerwärtigsten, sobald sie jenes für unnöthig halten. Wenn sie dieß zu Athen weniger zu seyn scheinen, so rührt es vielleicht von einer zwiefachen Täuschung her. In den Inseln sind sie die Wenigern an der Zahl, und ihre Unarten fallen daher um so stärker auf, zumal da sie gewohnt sind, sich gegen ihre Colonien, Schutzverwandten und Unterthanen alles zu erlauben. Zu Athen sind eben dieselben Unarten unter die ganze Masse der Bürger vertheilt, also an den einzelnen weniger auffallend, wie man sich im[13] Lande der Buckligen bald gewöhnen würde lauter Höcker zu sehen. Ueberdieß kommt den Athenern zu gut, daß alles, was ein gebildeter Mensch nur immer zu sehen, zu hören und zu genießen verlangen kann, so vollständig und in einem so seltnen Grade von Vollkommenheit in Athen vereiniget ist, daß ein Fremder, der sich auf einmal in den Mittelpunkt alles Großen, Schönen und Angenehmen versetzt glaubt, den Glanz, den das Ganze von sich wirft, auch auf den Einwohnern widerscheinen sieht, und das, was ihm von ihrer häßlichen Seite in die Augen fällt, um so mehr in einem mildernden Lichte betrachtet, je mehr sie sich anfangs beeifern, ihm nur die schöne und gefällige zu zeigen. Du wirst in den ersten Tagen eine große Aehnlichkeit zwischen den Athenern und Milesiern finden; sie dient aber nur, die Verschiedenheit desto auffallender zu machen, welche, meines Bedünkens, ganz zum Vortheil der letztern ist. Doch ich will deinem eignen Urtheil nicht vorgreifen, und bin vielmehr begierig, das meinige dadurch entweder bestätiget oder berichtiget zu sehen.

Vermuthlich ist dir Xenophons Anabasis11 bereits zu Gesichte gekommen, die seit einiger Zeit so viel von sich und ihrem Verfasser zu reden macht; oder sollte es noch nicht geschehen seyn, so wirst du dich zu Milet leicht mit einem Exemplar versehen können, denn die Nachfrage nach diesem Buch ist so stark, daß die Bibliokapelen12 von Athen und Korinth nichts Angelegner's haben, als die Hände aller Geschwindschreiber, die in beiden Städten aufzutreiben sind, mit möglichster Vervielfältigung desselben zu beschäftigen. Ich glaube nicht zu viel von diesem Werke, so beschränkt auch der[14] Gegenstand desselben ist, zu sagen, wenn ich es, in Rücksicht auf die historische Kunst, mit dem berühmten Kanon des Bildhauers Polyklet vergleiche, und behaupte, so müsse jede Geschichte geschrieben seyn, auf deren historische Wahrheit man sich verlassen können soll. Die ganze Erzählung ist wie eine Landschaft im vollen Sonnenlicht; alles liegt hell und offen vor unsern Augen; nichts steht im Schatten, damit etwas anderes desto stärker herausgehoben werde; alles erscheint in seiner eigenen Gestalt und Farbe; nichts vergrößert, nichts verschönert, sondern im Gegentheil jede so häufig sich anbietende Gelegenheit, das Außerordentliche und Wunderbare der Thatsachen durch Colorit und Beleuchtung geltend zu machen, geflissentlich vernachlässigt, und die Begebenheiten mit ihren Ursachen und Folgen, die Handlungen mit ihren Motiven und dem Drange der äußern Umstände so natürlich verbunden, daß das Wunderbarste so begreiflich als das Alltäglichste wird. Ein Maler oder Dichter, von welchem alles dieß gesagt werden könnte, würde schlecht dadurch gelobt seyn: aber was bei diesen Mangel an Genie und Kunst verriethe, ist, nach meinem Begriff, das höchste Lob des Geschichtschreibers. Xenophon hat es allen, die nach ihm kommen werden, schwer, wo nicht unmöglich gemacht, ihn hierin zu übertreffen. Nichts kann ungeschminkter, ja selbst ungeschmückter seyn als die naive Grazie seines Styls; nichts einfacher und anspruchloser als seine Art zu erzählen; nichts kaltblütiger und unparteiischer als seine Charakterschilderungen, die, bei aller Bestimmtheit und Schärfe der Zeichnung, doch so sanft gehalten und beleuchtet sind, daß jeder nachtheilige Zug ihm[15] von der Wahrheit selbst wider Willen abgedrungen scheint. Uebrigens gestehe ich gern, daß alles, was ich der Anabasis hier zum Ruhme nachsage, schlechterdings erforderlich war, da der Verfasser im Grunde selbst der Held des Stücks ist, und also die Einfalt und Bescheidenheit, in welche er alles Große und Ruhmwürdige, was ihn die Wahrheit von Xenophon zu sagen nöthigt, einhüllt, wofern sie ihm nicht natürlich wäre, hätte heucheln müssen, um das Verdächtige und Verhaßte, das der Erzählung unsrer eignen Großthaten anzukleben pflegt, durch den Schleier der Grazien dem Auge der Tadelsucht und Mißgunst zu entziehen.

Was mir dieses Buch so besonders lieb macht, ist die Sokratische Sophrosyne, die es von Anfang bis zu Ende athmet, und die in allem, was Xenophon sich selbst darin denken, reden und handeln läßt, so lebendig dargestellt ist, daß, indem ich lese, unzählige Erinnerungen in mir erwachen, welche seiner an sich schon so anziehenden Erzählung, durch tausend feine Ideenverbindungen und leise Beziehungen auf etwas, so ich ehemals an Sokrates wahrgenommen oder aus seinem Munde gehört, einen Grad von Interesse geben, den sie freilich nur für wenige haben kann. Indessen muß doch dieses in seiner Art einzige Buch auch für Leser, die kein näheres Verhältniß zu Sokrates hatten, immer eines der unterhaltendsten die unsre Sprache aufzuweisen hat bleiben, und ich müßte mich sehr irren, wenn es nicht noch in den spätesten Zeiten das Handbuch und der unzertrennliche Gefährte aller großen Feldherren werden sollte.

In den letzten dreißig bis vierzig Jahren haben sich die[16] Athener zu ihrem größten Schaden einer Menge wild und ohne alle Cultur aus dem Boden hervorgeschossener Heerführer anvertraut, die sich's gar nicht zu Sinne kommen ließen, daß Krieg führen und einem Kriegsheere vorstehen eine Kunst sey, welche viel Wissenschaft voraussetzt und eben so gut gelernt seyn will, wie irgend eine andere. Xenophons Anabasis wird hoffentlich solchen Autoschediasten13 (wie Sokrates sie zu nennen pflegte) die Augen öffnen, und ihnen einleuchtend machen, welch eine seltene Vereinigung großer ungewöhnlicher Naturgaben mit einer Menge erworbener Talente, welche Stärke und Erhabenheit der Seele, Geistesgegenwart, Mäßigung und Gewalt über sich selbst, welch ein behendes, festes in der Nähe und Ferne gleich scharf sehendes Auge, welche Sorge für die mannichfaltigen Bedürfnisse eines Kriegsheeres, welche Aufmerksamkeit auf die kleinsten Umstände, welche Voraussicht aller möglichen Zufälle, welche Fertigkeit die günstigen auf der Stelle zu benutzen, und was widrige geschadet haben, sogleich wieder gut zu machen, welche Geschicklichkeit die unter ihm stehenden Menschen zu prüfen, zu lenken, zu gewinnen, und mit weiser Strenge an einen eben so pünktlichen als willigen Gehorsam zu gewöhnen, mit Einem Worte, wie unendlich viel dazu gehöre, daß ein bloßer Freiwilliger, wie Xenophon war als er dem Cyrus seine Dienste anbot, sich in kurzer Zeit als einen so vollkommenen Feldherrn zeigen könne, wie er sich während dieses beispiellosen Unternehmens erwiesen hat, wo es um nichts Geringeres zu thun war, als ein Heer von zehntausend aus allen Theilen Griechenlands zusammengerafften Kriegern, die nichts als sich selbst und[17] ihre Waffen hatten, aus dem Herzen des feindlichen Landes, durch eine lange Reihe barbarischer feindseliger Völker, über unzugangbare Gebirge und brückenlose Flüsse, einen Weg von mehr als 25000 Stadien in ihr Vaterland zurück zu führen. Uebrigens ist vielleicht der wichtigste Dienst, den er durch dieses Buch der ganzen Hellas geleistet hat, dieser: daß sie sich daraus überzeugen können, wie furchtbar sie den Barbaren durch ihr schwer bewaffnetes Fußvolk und durch ihre Disciplin und Taktik sind, und welch eine leichte Sache, wofern sie nur unter sich selbst einig wären, es seyn würde, mit dreißig bis vierzigtausend Griechen von einem Agesilaus oder Xenophon geführt, sich des ganzen ungeheuern Perserreichs zu bemächtigen. Wenn dieser Rückzug der Zehentausend den Muth ihrer braven Vorfahren nicht in ihnen aufzureizen vermag, dann gebe ich sie gänzlich verloren!

Aber wie meinst du, Hippias, daß die edeln und weisen Athener einem Mitbürger, der ihnen so große Ehre macht, und von dessen Talenten und Charakter sie so große Vortheile ziehen könnten, ihre Achtung bewiesen haben? Sie fanden sich durch seine, ihnen übrigens ganz unnachtheilige Vorliebe zu den Lacedämoniern beleidiget, und haben ihn auf ewig aus Attika hinausgewiesen. O die Kechenäer!

Wenn dir in dem reizenden Milet noch eine leere Stunde übrig bleibt, die du an deinen Freund Aristipp zu verschenken willig bist, so wird mich dein Brief zu Rhodus finden, sofern du ihn an Lykophon, Menalippus Sohn (einen allen Schiffern in diesen Meeren bekannten Namen) zur Bestellung empfehlen willst. L.W.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 12-18.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aristipp und einige seiner Zeitgenossen
Aristipp Und Einige Seiner Zeitgenossen (3)
Sammtliche Werke (34 ); Aristipp Und Einige Seiner Zeitgenossen Bd. 2
Aristipp und einige seiner Zeitgenossen
Werke in zwölf Bänden: Band 4: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen
Werke in zwölf Bänden: Band 4: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon