30.
Lais an Aristipp.

[226] Ich bin nun einmal, wie es scheint, dazu geboren, lieber Aristipp, eine sonderbare Rolle in der Welt zu spielen, und am Ende ist es auch so übel nicht, in seiner Art einzig zu seyn: aber daß ich in Gefahr kommen könnte, von den Söhnen des Hippokrates in das Register ihrer Heilmittel gesetzt und als ein unfehlbares Specificum gegen die Nympholepsie verschrieben zu werden, das hättest du dir wohl nie einfallen lassen?

Im Grunde bin ich mit aller meiner eingebildeten Ueberlegenheit doch nur eine gutherzige Thörin, die ihr nur bei ihrer Großmuth zu fassen braucht, um alles was ihr wollt aus ihr zu machen. Das Unangenehmste dabei ist indessen die leidige Berühmtheit, die ich mir durch die bloße Gutartigkeit meiner Natur zuziehe; eine Tugend, welche unsre edeln Korinthischen Matronen sich schlechterdings nicht zu erklären wüßten, wenn sie ihr nicht die einzige Unterlage gäben, die ihnen (vermuthlich aus eigener Erfahrung) bekannt ist. Wirklich hat das seltsame Abenteuer, das mir in diesen Tagen zustieß, ein solches Aufsehen in dieser volkreichen und geschäftevollen Stadt erregt, daß in allen Gesellschaften, auf allen Marktplätzen und unter allen Hallen von nichts anderm, als von der Wundercur, die ich an einem edeln Aspendier verrichtet haben soll, geplaudert wird; aber wie, und mit welchen Beiwerken und Verzierungen, kannst du dir vorstellen. Daß eine Person, die sich einer beinahe zwölfjährigen Freundschaft mit dem weisen[227] Aristipp zu rühmen hat, das alles nicht voraussehen konnte! – Freilich! – Aber was zu thun? Die Thorheit, wofern es eine war, ist nun einmal begangen, und ich bin es so überdrüssig, überall wo ich mich blicken lasse, schon auf dreihundert Schritte weit, alle Zeigefinger und Spitznasen nach mir hingelüftet zu sehen, daß mich dieses Uebermaß von Celebrität (unter uns gesagt) ein paar Monate eher als gewöhnlich nach Aegina treiben wird. Doch es ist hohe Zeit, dir durch eine offenherzige Erzählung aus dem Wunder zu helfen, worin ich deine Einbildungskraft schon zu lange schweben lasse.

Du erinnerst dich ohne Zweifel der Venus von Skopas, welcher ich in der ersten Blüthe meiner Jugend zum Urbild dienen mußte. Skopas hatte mit meiner Bewilligung das Modell dieser Bildsäule behalten, aber (wie es zu gehen pflegt) durch die Zusage, keine Nachbilder davon zu machen, nicht so streng gebunden zu seyn vermeint, daß er sich nicht erlaubt hätte, deren mehrere zu verfertigen und als Ideale seiner eigenen Erfindung zu verhandeln. Zufälligerweise kam eines dieser Bilder nach Aspendus, einer ansehnlichen Stadt in Pamphylien (die du vielleicht auf deinen Wanderungen gesehen hast) und gerieth dort in die Hände eines reichen Mannes, der es unter andern von ihm gesammelten Kunstwerken in einer Halle seines Hauses aufstellte. Chariton, der einzige Sohn dieses Mannes, ein Jüngling von siebzehn Jahren, und der letzte Sprößling eines alten um Aspendus wohl verdienten Hauses, hatte das seltsame Unglück, in eine heftige Leidenschaft für die marmorne Göttin zu fallen. Trotz aller Gewalt, womit der junge Mensch diese lächerliche Liebe zu bekämpfen strebte, nahm[228] sie von Tag zu Tag zu; und er verfiel nach und nach in eine Schwermuth, welche durch die Unmöglichkeit, seine Sehnsucht nach Gegenliebe jemals befriedigt zu sehen, zuletzt in gänzlichem Wahnsinn und unheilbarer Tollheit endigte. Der hartnäckige aber sehr natürliche Eigensinn des verschämten Jünglings, die Ursache seiner Krankheit schlechterdings niemand entdecken zu wollen, hatte ohne Zweifel nicht wenig beigetragen, daß es so weit mit ihm kam. Man ward nur desto aufmerksamer auf ihn, sein trauriges Geheimniß wurde ihm abgelauscht, und die gefährliche Bildsäule auf die Seite gebracht, in Hoffnung daß eine so widersinnige Leidenschaft, wenn sie durch das Anschauen und Betasten ihres Gegenstandes nicht länger genährt würde, nach und nach von selbst erlöschen müßte. Aber gerade dieses Mittel vollendete das Unglück, und die Raserei des armen Chariton stieg endlich auf den höchsten Grad. Jahrelang war die Kunst aller Arzneymänner in Pamfylien, Lycien und Karien an ihm zu Schanden geworden, als endlich ein zufällig nach Aspendus verirrter Arzt von Kos111 sich bewegen ließ, den letzten Versuch an ihm zu machen, und auf den Einfall gerieth, ob nicht vielleicht ein lebendes Urbild der fatalen Bildsäule vorhanden seyn möchte, zu welchem der unglückliche Jüngling durch die Gewalt einer geheimen Sympathie unwiderstehlich hingezogen würde. Denn man fand es unbegreiflich, daß ein bloßes Phantasiewerk des Künstlers eine so heftige Leidenschaft hätte bewirken können. Wiewohl nun die vermuthete Sympathie im Grunde nicht begreiflicher war, so ruhte doch der alte Charidemus (so nennt sich der Vater des Unglücklichen) nicht, bis er den Aufenthalt des Skopas entdeckt[229] und ihm die Eröffnung abgedrungen hatte, daß die Venus, die so viel Unheil in dem Gehirne seines Sohnes anrichtete, ein getreues Nachbild der schönen Lais zu Korinth sey, deren Ruf von Sardes aus durch ganz Asien erschollen war. Sogleich ist des Vaters Entschluß gefaßt; er miethet ein Schiff, läßt den Kranken und den Arzt an Bord bringen, und segelt mit dem ersten günstigen Winde der Pelopsinsel zu. Man hatte ihm schon in Rhodus, wo er unterwegs anlandete, nicht verhalten, daß er zu Korinth größere Schwierigkeiten finden würde als er sich einzubilden schien. Man schilderte ihm in der Schönen, auf deren Hülfe er so sichre Rechnung machte, eine eben so stolze als reiche Hetäre, deren Thür von der edelsten Jugend der ganzen Hellas vergeblich belagert werde; es wäre, sagte man, eben so leicht, den Wind in einem Fischernetze zu fangen, als ihr die kleinste Gunsterweisung mit allem Golde des Paktols abzukaufen. Aber der Aspendier, dem es seinen einzigen Sohn galt, ließ sich nicht abschrecken; kurz, er langte zu Ende des verwichnen Anthesterions112 glücklich im Kenchräischen Hafen an. Stelle dir vor, Aristipp, wie ich überrascht wurde, als auf einmal ein unbekannter Fremder von ziemlich ehrwürdigem Ansehen vor mir erschien, mir unter vielen Entschuldigungen entdeckte wer er sey, und um Erlaubniß bat mir ein Anliegen zu eröffnen, von dessen Erfolg die Erhaltung seines einzigen Sohnes abhange. Aber als er mir nun vollends den kläglichen Fall selbst vortrug, und mich kniefällig bei allen Göttern beschwor, ihm meine Hülfe in dieser äußersten Noth nicht zu versagen – kannst du mich tadeln, daß ich mir Gewalt anthun mußte, um dem treuherzigen Aspendier,[230] der Thränen ungeachtet, die über seine eingefallenen Wangen herabrollten, nicht gerade ins Gesicht zu lachen? Ich raffte indessen doch in der Eile so viel Ernsthaftigkeit zusammen als nöthig war, das Lachen noch zu rechter Zeit in ein holdes Lächeln zu verschmelzen, womit ich meiner Antwort bloß das Herbliche benehmen zu wollen schien. Was für eine Hülfe, sagte ich, kannst du dir in einem so seltsamen Falle von mir versprechen? Ich verstehe mich nicht auf die Heilkunst; und besäße ich auch alle Kenntnisse eines Melampus113, Machaon und Podalirius, so wäre noch immer die Frage, ob sie hinreichten das Wunder zu thun, das du von mir erwartest. – O gewiß, rief er, vermagst du mehr als Melampus, Machaon und Podalirius, ja als Chiron und Aesculap und der Wundarzt der Götter Päeon selbst. – Unbegreiflich! versetzte ich mit einer so unschuldigen Miene, daß ihm alles was er noch sagen wollte, aus Verwunderung oder Verlegenheit, in der Kehle stecken blieb. Der Arzt, den er mitgebracht hatte (ein sehr verständiger Mann, wie sich's in der Folge zeigte) eilte seinem Patron zu Hülfe, entschuldigte sehr ehrerbietig ihre Freiheit mich so unangekündigt zu überfallen mit der Besorgniß abgewiesen zu werden, und schränkte sich auf die bloße Bitte ein, daß ich ihm die Gunst erweisen möchte, zu einer mir gelegenen Stunde anzuhören, was er mir im Namen seines Patrons vorzutragen hätte. Bei dergleichen Anlässen pflegt meine Gutherzigkeit, oder wie du es sonst nennen willst, der Ueberlegung gewöhnlich einige Schritte zuvorzueilen. Ich ersuchte also die Fremden, wofern sie nichts Besseres zu versäumen hätten, sich sogleich eine Wohnung in meinem Hause[231] gefallen zu lassen, welches, wie du weißt, Raum und Bequemlichkeit genug hat, um zur Noth einen Persischen Satrapen zu beherbergen; und mein Erbieten wurde, nachdem sie sich so viel, als die Aspendische Urbanität erforderte, gesträubt hatten, mit dankbarem Entzücken angenommen.

Sobald meine Gäste von dem angewiesenen Flügel des Hauses Besitz genommen hatten und gehörig bewirthet worden waren, ließ der Arzt (der sich Praxagoras nennt, und ein Anverwandter und Schüler des berühmten Hippokrates ist) sich erkundigen, ob es mir jetzt gelegen wäre ihm ein geheimes Gehör zu verwilligen. Er wurde sogleich in mein Cabinet geführt, und, wiewohl er ein gesetzter und schon etwas bejahrter Mann ist, schien er doch, da er sich allein mit mir sah, in einige Verwirrung zu gerathen, wußte sich aber sehr bald mit einer Bescheidenheit und guten Art herauszuziehen, die ein sehr günstiges Vorurtheil für ihn erweckten. Ich läugne nicht, fing er an, daß wir mit einer Art von Plan und Erwartung hierher gekommen sind; aber es bedurfte auch nichts als deinen ersten Anblick, um zu sehen daß von allem dem nicht mehr die Rede seyn könne. Alles, warum ich dich also im Namen des unglücklichen Vaters zu bitten wage, ist, daß es mir erlaubt werde, dich durch eine ausführliche Darstellung unsers in seiner Art vielleicht einzigen Falles in den Stand zu setzen, den Grad des Mitleidens selbst zu bestimmen, den, wie ich nicht zweifle, die Güte deines Herzens uns nicht versagen wird.

Auf diesen hinterlistigen Eingang machte er mir nun, nachdem ich ihn mit aller geziemenden Holdseligkeit dazu aufgemuntert[232] hatte, eine umständliche und (lache nicht, Aristipp) wirklich rührende Erzählung von der ganzen Geschichte der seltsamen Krankheit des jungen Charitons, wovon ich, da es mir nicht um einen Angriff auf deine Mildherzigkeit zu thun ist, zu dem, was ich dir von ihrem Ursprung und Fortgang bereits berichtet habe, nur so viel hinzu thun will, als des Zusammenhangs wegen nöthig zu seyn scheint.

Nach mancherlei vergeblichen Versuchen, welche von verschiedenen Aerzten und Quacksalbern an dem zerrütteten Jüngling gemacht worden, war es endlich demjenigen, unter dessen Aufsicht er sich gegenwärtig befindet, gelungen, die Raserei, die ihm nur selten Ruhe ließ, zu einer stillern Art von Wahnsinn herabzustimmen: so daß man wieder zu hoffen anfing, er könnte durch eine behutsame und schonende Behandlung vielleicht wiederherzustellen seyn. Seine Phantasie wurde zwar noch immer von einer einzigen Vorstellung tyrannisch beherrscht; aber sie nahm unvermerkt einen weniger unordentlichen Gang, und bestrebte sich eine Art von scheinbarem Zusammenhang in ihre Fieberträume zu bringen. Das gewöhnlichste war jetzt, daß er die Bildsäule, die all dieß Unheil angerichtet hatte, mit einer wirklichen Person verwechselte, und in den hellern Augenblicken, die jetzt öfter als sonst kamen und länger dauerten, sich fest in den Kopf setzte, seine Geliebte sey ihm von einem feindseligen Dämon oder boshaften Zauberer geraubt, und durch magische Künste in ein Marmorbild verwandelt worden. Auf diesen Wahn hatte nun Praxagoras, nachdem einige andere Versuche, denselben zum Vortheil des Kranken zu benutzen, fehlgeschlagen, zuletzt den Plan gebaut,[233] bei dessen Ausführung ich Unschuldige (wie es scheint) die Hauptrolle spielen sollte. Er wußte unvermerkt die Einbildung in ihm zu erwecken, es lebe auf einer unbewohnten Insel des Griechischen Meeres eine mächtige und wohlthätige Nymphe und Zaubrerin, durch deren Beistand er wieder zum Besitz seiner Geliebten gelangen könne. In dieser Hoffnung hatte sich der arme Chariton ziemlich ruhig zu Schiffe bringen lassen; während der ganzen Reise war er meistens still und in sich selbst gekehrt geblieben, und nun, da er in dem Palast der magischen Nymphe angekommen zu seyn glaubte, schien er mit Ungeduld und argwöhnischem Mißtrauen, welche alle Augenblicke einen stürmischen Ausbruch besorgen ließen, des Erfolgs, worauf man ihn vertröstet hatte, gewärtig zu seyn.

Praxagoras beschloß seine Erzählung mit der nochmaligen Erklärung: daß sie alles, was in diesem so weit außer dem gewöhnlichen Wege liegenden Vorfall zu thun seyn möchte, meiner Weisheit und Großmuth unbedingt überließen. Die Weisheit war hier zu viel, wirst du denken; wenigstens mußte ich mich durch ein so feines Compliment aufgefordert fühlen, diese Weisheit nun auch zu behaupten, die man mir so uneigennützig geliehen hatte. Ich antwortete also nach einer kleinen Pause: wiewohl weder ich, noch mein Bild, noch der Bildhauer Skopas, von irgend einem Gerichtshof in der Welt für dieses ohne Zuthun unsers Willens veranlaßte Unglück verantwortlich gemacht, und zu irgend einer Art von Vergütung desselben verurtheilt werden könnten, so fühlte ich mich doch aus Menschlichkeit geneigt, und gewissermaßen sogar verpflichtet, alles, was billigerweise von mir erwartet werden[234] könnte, zum Troste des bedauernswürdigen Vaters beizutragen. Durch einen glücklichen Zufall (fuhr ich fort) befindet sich die Bildsäule, die wir nöthig haben werden, eben hier in diesem Hause, da sie sonst in einem Gartensaale meines Landguts zu Aegina zu stehen pflegt. Wie meinst du, wenn wir einen Versuch machten, was ihr unverhoffter Anblick – Aber beinahe hätte ich vergessen, daß ihr eine Zaubrerin mit ins Spiel gezogen habt, deren Erscheinung uns jetzt unentbehrlich ist, da der Kranke alle seine Hoffnung auf ihren Beistand baut. Auch diese ist gefunden. Es leben etliche junge Korinthierinnen unter meiner Aufsicht, von welchen eine ganz das ist, was wir nöthig haben; ein schönes Mädchen, von prächtiger Gestalt, und reichlich mit jedem heroischen Reiz begabt, der sie zur Darstellung einer Medea oder Circe geschickt machen kann. Ich werde sie, weil Gefahr im Verzug ist, ungesäumt in der Rolle, die sie zu spielen hat, unterrichten, und sie in einem so blendenden Costume vor unserm Nympholepten erscheinen lassen, daß wir unsre gute Absicht schwerlich verfehlen werden.

Praxagoras konnte nicht Worte genug finden, mir für meine edelmüthige Herablassung zu danken, und nachdem wir alles auf jeden Fall Nöthige verabredet hatten, wurde sofort Hand ans Werk gelegt. Einer der größten Säle des Hauses wurde zur Scene unsers Drama's eingerichtet, und eine Stunde der Nacht zur Aufführung angesetzt. Für den Vater und deine närrische Freundin wurde ein Platz abgesondert, wo sie, ohne selbst gesehen zu werden, alles wahrnehmen konnten. Die Stunde kam. Bleich und abgezehrt wankte der arme Chariton von seinem Arzt geführt heran; seine Gesichtsbildung[235] schien mir ziemlich unbedeutend, aber nicht unedel, und durch die stille Schwermuth, die um seine lockichte Stirne hing, sogar ansprechend. Er schien beim Eintritt in den Saal über die Scene, die ihm in einer künstlichen Beleuchtung entgegen schimmerte, mehr erstaunt als erschrocken zu seyn. Euphorion, in einem prächtigen Anzug, einen funkelnden Gürtel um den Busen, eine kleine Strahlenkrone auf dem Haupte, und von reichgeschmückten Nymphen umringt, auf einem erhöhten Thron sitzend, war das erste was ihm in die Augen fiel. Er blieb plötzlich stehen, schaute bald mit fragenden Blicken auf die schöne Zaubrerin, bald mit suchenden im Saal herum, wie im Zweifel ob er seinen Augen glauben dürfe, und als ob er sich nach etwas umsehe, das hier vorhanden seyn müsse. Tritt näher, Chariton, und sey ohne Furcht, sprach sie: ich habe dich in meinen Schutz genommen; der Räuber deiner Geliebten ist entwaffnet, ich gebe sie dir wieder. Siehe! – Mit diesem Worte that sich ein Vorhang auf, der die Bildsäule bisher verdeckt hatte, und vermittelst eines andern, der plötzlich und ohne Geräusch herabfiel, schwand die Zaubrerin mit ihren Nymphen aus seinen Augen. Soll ich dir gestehen, Aristipp, daß die Bewegungen, wodurch sich die Gefühle des bestürzten Jünglings bei Erblickung dieses Bildes ausdrückten, meiner Eitelkeit wirklich ein schmeichelhaftes Schauspiel gaben? Er blieb eine Weile wie in den Boden gewurzelt stehen, sah sich schüchtern und lauschend um, als ob er beobachtet zu werden fürchte, trat dann näher hinzu, und stutzte wieder zurück. Ein langer tiefer Seufzer schien ihm endlich Luft zu machen; zweifelhaft und nachsinnend[236] betrachtete er das geliebte Bild, schien es auf einmal zu erkennen, und stürzte freudetrunken mit ausgebreiteten Armen auf dasselbe hin. Bist du es wirklich? hab' ich dich endlich wieder? rief er aus, und umklammerte die frostige Geliebte, als ob er mit ihr zusammenwachsen wollte. – »Aber warum bist du so stumm? so kalt? so unempfindlich? – Fühlst du denn meine glühenden Küsse nicht? – Ach! sie haben mich betrogen! Du bist noch Marmor! Deine schönen Augen sind ohne Licht, kein Herz schlägt in diesem lieblichen Busen! Sie haben mich betrogen die Grausamen – aber es wird ihnen nichts helfen! Ich fühl' es, auch im Marmor liebst du mich – diese todte Hand hat mich berührt – dein Arm windet sich eiskalt um meine erstarrende Hüfte – o Dank, ihr Götter! ich werde zu Marmor mit ihr!«

Es war hohe Zeit daß Praxagoras sichtbar ward, um einem Rückfall in seine vorige Tollheit noch zuvorzukommen. Wir haben dich nicht betrogen, lieber Chariton, rief er ihm zu: noch eine kleine Geduld und du wirst glücklich seyn! – Der Jüngling stutzte, da er den Arzt, den er schon lange als seinen einzigen Freund anzusehen gewohnt war, mit offnen Armen auf ihn zu eilen sah, und schien in einigen Augenblicken wieder zu sich selbst zu kommen. Sey gutes Muths, fuhr Praxagoras fort, indem er einen Arm um ihn schlang, und ihn unvermerkt von der Bildsäule entfernte; ein so schweres Werk, wie die Entzauberung deiner Geliebten ist, kann nicht in einem Augenblick zu Stande kommen; genug daß die mächtige Alphesiböa, deine Beschützerin, mit Eifer daran arbeitet, und zur einzigen Bedingung des glücklichen Erfolges macht,[237] daß du dich noch eine kurze Zeit geduldest. – Durch diese und dergleichen Zureden ließ sich der junge Mensch nach und nach besänftigen; und so brachte ihn der Arzt mit guter Art wieder auf sein eigenes Zimmer, wo die Nacht zwar ohne Schlaf, aber doch unter ziemlich ruhigem Phantasiren vorüberging.

Die Frage war nun, in einer abermaligen Rücksprache zwischen dem Arzt und der weisen Lais, wie die mächtige Zaubrerin Alphesiböa in den Stand gesetzt werden könne, Wort zu halten. Daß die Bildsäule belebt werden müsse, wenn Chariton von seinem Wahnsinn gründlich geheilt werden sollte, schien beiden etwas Ausgemachtes. Der Arzt gestand, daß anfangs große Fehler in der Behandlung des Kranken begangen worden. Damals, meinte er, wäre durch ein paar geschickte Kunstgriffe leicht zu helfen gewesen. Aber nun, da es einmal so weit mit ihm gekommen – Was nun zu thun? – Ein dritter hätte eben dieselbe Antwort auf diese Frage in beiden Gesichtern lesen können. Es gab jetzt nur Einen Weg die Statue zu beleben, nur Eine Person die das Wunder verrichten konnte; ihr Name lag beiden auf der Zunge; aber er gehörte unter die unaussprechlichen Worte. Wer durfte der weisen Lais ansinnen, sich selbst zum Opfer der albernsten aller albernen Grillen des unartigen Bastards des Porus und der Penia114 darzustellen? Und wie war zu hoffen, daß sie sich aus bloßer Menschlichkeit von freien Stücken zu einer so zweideutigen Heldenthat entschließen würde? Beide sahen einander mit einverstandenen Blicken an und schwiegen. Endlich lösete deine schnellbesonnene Freundin den Knoten mit[238] einem raschen Hieb – und wer sonst hätte es thun können, wenn sie es nicht that? Auf irgend eine Art muß die Sache zu einem Ausgang gebracht werden, sagte sie. Sey du ruhig, Praxagoras; bereite deinen Kranken mit der guten Art, die dir eigen ist, zu einer glücklichen Begebenheit vor, und mich laß für das Uebrige sorgen.

Mein erster Gedanke, als der Arzt sich wegbegeben hatte, war – rathe, was? mein scharfsinniger Herr! – Du wirst rathen: eine meiner Nymphen, etwa die schöne Zaubrerin selbst (die mir wirklich an Größe und Gestalt ziemlich ähnlich ist) in einem nur vom Monde schwach beleuchteten Zimmer unterzuschieben? – In der That hast du meinen ersten Gedanken errathen; aber – δευτεραι φροντιδες115 – du weißt ja? – Oder könntest du dir im Ernst einbilden, deine Freundin Lais, bekanntermaßen eine Art von Philosoph und von allem, was Vorurtheil und Leidenschaft heißt, freier als Sokrates und Plato selbst, sollte, wenn auch das Wunderbare keinen Reiz für sie hätte, nicht wenigstens so viel Neugier haben, dem Spiele der Natur bei einer so außerordentlichen und schwerlich jemals wiederkommenden Gelegenheit in der Nähe zuzusehen? – Aber freilich! – Man muß gestehen – du hast Recht, Aristipp! – Die schöne Alphesiböa würde sich vielleicht ohne großen Zwang gefallen lassen – Wir wollen sehen.


Die Entzauberung ist glücklich zu Stande gekommen, mein Freund. Die freundliche Göttin, die sich in alten Zeiten[239] eines Cyprischen Bildners116 in einem ähnlichen Fall erbarmte, war so gefällig das Wunder zum zweitenmale zu verrichten. Erwarte keinen umständlichen Bericht. Genug, das Marmorbild erwarmte, athmete, lebte auf, bekam eine Seele unter den Küssen des Glücklichen; und die Besorgniß, daß er vor lauter Entzücken über ihre wiedergekehrte Seele die seinige in ihren Armen ausathmen möchte, war das Einzige, was der Göttin den Trost, ein so seltsames Abenteuer zu einem fröhlichen Ausgang gebracht zu haben, beinahe verkümmert hätte. Glücklicherweise fiel der neue Pygmalion bei Zeiten in einen tiefen zehnstündigen Schlaf, und beim Erwachen fand ihn der Arzt (der schon ein paar Stunden, vor seinem Bette sitzend, an der Länge seines Schlummers, der frischen Farbe seiner Wangen und dem weichen ruhigen Schlag seines Pulses sich ergötzt hatte) wie in ein neues Leben geboren. Er schien wieder in vollem Besitz seines Verstandes, so viel er dessen je gehabt haben mochte, und erinnerte sich des Vergangenen nur überhaupt, wie eines schweren Traumes, dessen Umstände so übel zusammenhingen, daß er Mühe hatte sich das Ganze klar zu machen. Aber, sagte er, wenn auch das ein Traum war, was mir diese Nacht begegnete, so wünschte ich mir wohl, ewig wie Endymion zu schlafen, um ewig so zu träumen. – Zu größerer Sicherheit zapfte ihm Praxagoras noch etliche Unzen Blut ab, mit dem Vorbehalt, ihn nach und nach durch gute Nahrung und edeln Wein wieder so viel zu stärken, als ihm dienlich seyn möchte. Nicht wenig trugen vermuthlich zu Befestigung seiner Genesung auch die Grazien und Nymphen meines Hauses bei, welche (wie du bezeugen kannst) durch[240] Schönheit, Talente, gefälliges Wesen und ungezwungene Sittsamkeit so ausgezeichnet sind, daß keine Gesellschaft für sie zu gut und die ihrige für niemand zu schlecht ist. Der junge Aspendier gefiel sich so wohl unter ihnen, daß er unvermerkt selbst immer liebenswürdiger ward.

Zwey Tage nach seiner Wiederherstellung gab uns seine erste Zusammenkunft mit mir ein Schauspiel, das eines Beobachters wie du werth gewesen wäre. Ich hatte mich, um mit der Bildsäule des Skopas so wenig als möglich gemein zu haben, äußerst matronenmäßig angezogen; überdieß schien ich merklich größer und stämmiger und wenigstens zwanzig Jahre älter zu seyn, als das Ebenbild meines sechzehnten Jahres. Dem ungeachtet stutzte Chariton bei meinem Anblick, und eine mit Mühe zurückgehaltene Ausrufung blieb zwischen seinen Lippen stecken. Doch schien er seinen Augen nicht zu trauen, und mit dem Gefühl zu kämpfen, welches ihm sagte, daß er mich anderswo gesehen habe. Es war nicht mehr als billig, daß ich ihm die Mühe, dieß Gefühl durch Reflexion zu übertäuben, auf alle Weise erleichterte, und den Zauber meiner weltberühmten Reize durch den Anstand und Ernst einer Dame, welche schon neun Olympiaden überlebt hat, so viel nöthig seyn möchte, zu entkräften suchte. Dieß wirkte zusehends, und in kurzem sagte mir seine ehrerbietige Zurückhaltung, daß er die Ueberraschung des ersten Anblicks bloß einer zufälligen Aehnlichkeit beimesse. Die Richtigkeit dieser Vermuthung und die Vollständigkeit der Genesung des jungen Aspendiers bestätigte sich, sobald sich dieser mit seinem Vertrauten wieder allein befand. Kannst du dir vorstellen, sagte[241] er zum Arzt, daß mir beim ersten Anblick der Frau dieses Hauses beinahe etwas Albernes begegnet wäre? – Ich bemerkte wohl, erwiederte Praxagoras, daß du von einem Augenblick zum andern die Farbe verändertest. – Wirklich, fuhr jener fort, sieht sie in einer gewissen Entfernung der Bildsäule meines fatalen Traumes so ähnlich, daß ich beinahe die Besonnenheit darüber verloren hätte. – Dergleichen Aehnlichkeiten kommen häufig vor, versetzte der Arzt, und fallen immer zuerst in die Augen; aber bei genauerer Ansicht zeigt sich gemeiniglich eine so große Verschiedenheit, daß man sich wundert, sie nicht sogleich wahrgenommen zu haben. – So ging mir's auch, sagte Chariton; es dauerte nicht lange, so kam ich mir selbst mit meiner Einbildung lächerlich vor; hoffentlich hat die schöne Lais nichts davon gemerkt. – Wenigstens ist zu glauben, versetzte Praxagoras, daß sie sich deine Verwirrung bloß aus dem Eindruck erklärt hat, den sie gewöhnlich auf jeden, den sie zum erstenmal anredet, zu machen pflegt. – In der That, sagte der Jüngling, hab' ich nie so viel Majestät mit so viel Anmuth gepaart gesehen. – »Ich auch nicht, Chariton, wiewohl meine Augen dreißig Jahre älter sind als die deinigen.«

Mit Einem Wort, Aristipp, die Cur ist glücklich vollendet; und da man nicht weiß, oder aus gebührender Bescheidenheit nicht wissen will, welcher Mittelsperson das Wunder zuzuschreiben ist, so tragen die Götter (denen wir Sterblichen so häufig durch Dank oder Undank gleich viel Unrecht thun) unverdienter Weise den Dank allein davon.

Meine Gäste haben sich ohne Mühe bereden lassen, so viele[242] Tage bei mir zu verweilen, als Praxagoras zu Befestigung der Gesundheit seines Pfleglings für nöthig hielt. Der Alte, der ein mächtiger Kunstliebhaber ist, brachte seine meiste Zeit in der Werkstatt meines Freundes Euphranor zu, von dessen vielfachen Talenten er ganz bezaubert ist. Noch mehr ist es der Sohn von den Talenten der reizenden Euphorion, die sich ihm in kurzem so unentbehrlich zu machen gewußt hat, daß sie ihn mit Bewilligung des Vaters nach Aspendus begleiten wird. Sie ist zwar eine Waise und ohne Vermögen; aber sie stammt in gerader Linie von einem Schwestersohn des Tyrannen Kypselus117 ab, und ich werde dafür sorgen, daß sie nicht mit leeren Händen in das Haus des edeln Aspendiers einziehen soll.

Sie sind nun wieder abgereist, und wenige Stunden, nachdem sie den Hafen von Kenchreä118 verlassen hatten, wurde mir im Namen des Alten zu seinem Andenken eine schwere, zierlich gearbeitete goldne Schale, und, zum Austheilen unter meine jungen Freundinnen, verschiedene Stücke der schönsten Persischen und Phönicischen Zeuge zugestellt.

Meine Abreise nach Aegina ist auf einen der letzten Tage des Elaphebolions119 festgesetzt. Außer einem Theil meiner Hausgenossen werde ich niemand mit mir nehmen als meinen Günstling unter den hiesigen Künstlern, Euphranor, welchen ich mit dir in Bekanntschaft zu bringen ungeduldig bin. Ich bin gewiß du wirst ihn lieb gewinnen, und den Vorzug billig finden, den ich ihm vor seinen Mitbürgern gebe.

Unter den Vergnügungen, die ich in meiner kleinen Zauberinsel mit dir zu theilen hoffe, ist keine der geringsten, daß[243] wir Platons Symposion zusammenlesen werden. Ich gestehe, daß die hohe Schönheit seines Geistes, und der Reichthum von Erfindungskraft und Witz, den er in diesem Drama von einer ganz neuen Art, mit der stolzen Freigebigkeit eines Krösus, der sich der Unerschöpflichkeit seiner Quellen bewußt ist, so üppig verschwendet hat, mich beim ersten Durchlesen dermaßen hinriß, daß ich es mehr verschlungen als gelesen habe. Wenn es ihm mit seiner Schwärmerei Ernst ist (woran ich fast zweifle), so ist er der liebenswürdigste Schwärmer, den ich mir denken kann; und ich würde hinzusetzen, auch der gefährlichste, für mich wenigstens, wofern seine Physiognomie wirklich so schön und geistvoll ist, als sein Neffe Speusippus sie mir angepriesen hat.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 226-244.
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