6.
Fortsetzung des Vorigen.

[96] Wir sind nun ganz nahe bis zu dem Punkt vorgerückt, um dessentwillen vermuthlich diese ganze Unterredung angefangen und durch so vielerlei Mäandrische Umschweife und Aus- und Einbeugungen bis hierher geführt worden; aber so wohlfeil gibt es unser poetisirender Philosoph oder philosophirender Dichter nicht. Er hat sich nun einmal vorgesetzt, uns in diesem dramatischen Dialog zu weisen, daß er sich so[96] gut als irgend ein Tragödienmacher auf die Kunst verstehe, den Punkt, auf welchen wir losgehen, alle Augenblicke bald zu zeigen, bald wieder aus dem Gesichte zu rücken, um uns desto angenehmer zu überraschen, wenn wir das, was er uns so lange durch einen unmerklich wieder in sich selbst zurückkehrenden Umweg suchen ließ, endlich unversehens vor unsrer Nase liegen finden. Unser verkappter Sokrates, der itzt für eine ziemliche Weile die Larve wieder weggeschoben hat und mit seinem eigenen Gesichte spielt, meint: sie hätten ihre Republik so gut angeordnet, daß es nun weiter nichts bedürfe, als daß Adimanth seinen Bruder und Polemarchen und die übrigen Anwesenden aufrufe, ihm mit einer tüchtigen Fackel so lange in derselben herum suchen zu helfen, bis sie die irgendwo in ihr versteckte Gerechtigkeit ausfindig gemacht haben würden. In der That muthet er diesen wackern jungen Männern damit nicht mehr zu, als was sie mit einer mäßigen Anstrengung ihres Menschenverstandes sehr leicht leisten konnten und sollten. Aber dabei hätte der Verfasser des Dialogs seine Rechnung nicht gefunden. Glaukon besteht darauf, daß Sokrates seinem Versprechen gemäß das Beste bei der Sache thun müsse, und dieser schickt sich denn auch um so williger dazu an, da er wirklich in einer ganz eigenen Laune zu seyn scheint, sich mit der Treuherzigkeit der jungen Leute einen dialektischen Spaß zu machen, und sie nach dem Ding, das er in der Hand hat, fein lange überall wo es nicht ist herumstöbern zu lassen. Wohlan also (sagt er) hier zeigt sich mir ein Weg, der uns hoffe ich zu dem, was wir suchen, führen soll. Wenn wir unsre Republik[97] gehörig angeordnet haben, so sollte sie, dächt' ich, durchaus gut seyn. – Nothwendig, antwortet Glaukon. – S. Augenscheinlich ist sie also weise, tapfer, wohlgezüchtet und gerecht? – Gl. Augenscheinlich. – S. Wenn wir nun von diesen Vieren Eins, welches es sey, in ihr finden, so ist das übrige das, was wir nicht gefunden haben; nicht wahr? – Gl. Wie meinst du das? – S. Wenn wir unter vier Dingen, welcher Art sie auch seyn mögen, nur Eines suchen, und (indem wir glücklicherweise zuerst darauf stoßen) es sogleich für das Gesuchte erkennen, so lassen wir's dabei bewenden; haben wir hingegen die drei ersten vorher ausfindig gemacht, so kennen wir eben dadurch auch das, was wir suchen; denn es ist klar, daß es kein anderes seyn kann als das vierte, so noch übrig ist. – Richtig, antwortet Glaukon wie ein unbesonnener Knabe; denn es greift sich doch mit Händen, daß er nur unter der Bedingung, wofern diese vier Dinge uns schon bekannt sind, mit Ja antworten konnte; denn wofern sie es nicht sind, so weiß ich, in dem gegebenen Falle, zwar, daß das noch nicht gefundene, das gesuchte ist; aber wozu kann mir das helfen, wenn ich nicht weiß, was es ist? Glaukon mußte einfältiger seyn als Praxillens Adonis22, wenn er nicht sah, wo Sokrates mit seinem mathematischen Axiom hinaus wollte; daß er es nämlich auf die nur eben seiner Republik nachgerühmten vier charakteristischen Eigenschaften anwenden, und wenn er die drei zuerst genannten in ihr gefunden hätte, versichern würde, daß ihnen nun auch die Gerechtigkeit nicht entgehen könne; wiewohl dieser Umweg im Grunde zu nichts helfen konnte, als sie, ohne alle Noth,[98] eine gute halbe Stunde länger aufzuhalten. Da sich aber seine Zuhörer nun einmal alles von ihm gefallen lassen, so macht sich unser After-Sokrates abermals den für seine Leser ziemlich langweiligen Zeitvertreib, durch eine Menge unnöthiger, zum Theil lächerlicher und kindischer Fragen, und kopfnickender oder platter Antworten des ehrlichen Glaukons, herauszubringen: worin die Weisheit, Mannskraft und Zucht bestehe, in welchen (nebst der Gerechtigkeit) er den unterscheidenden Charakter seiner Republik setzt, und von welchen die erste den Regenten, die zweite den Beschützern vorzüglich beiwohne, die dritte aber (wie er sehr sinnreich und spitzfindig darthut) durch die gebührende Subordination der zwei untern Bürgerclassen unter die oberste, eine mit dem, was man in der Musik Diapasôn (die Octave) nennt, vergleichbare Harmonie des ganzen Staats hervorbringe. Wir hätten also (fährt er nun fort) die drei ersten Formen der Tugend oder der Vollkommenheit, die unsrer Republik eigen seyn soll, gefunden: welches wäre dann die noch übrige? Doch wohl die Gerechtigkeit? Gl. Ja wohl! Sokr. Was haben wir also nun zu thun, lieber Glaukon, als daß wir, nach Jägerweise, einen Kreis um diesen Busch schließen, damit uns die Gerechtigkeit nicht etwa unvermerkt entwische und aus dem Gesicht komme; denn daß sie hier irgendwo stecken muß, hat seine Richtigkeit. Schaue also überall scharf herum, ob du sie vielleicht eher als ich gewahr werden und mir zeigen kannst. Gl. Ja, wenn ich das könnte! Aber so fern sonst nichts nöthig ist als dir zu folgen und zu sehen was du mir zeigst, bin ich dein Mann. Sokr. Nun so komm denn mit, und[99] mögen uns die Götter Glück zu unsrer Jagd verleihen! Gl. Das ist auch mein Gebet. Sokr. Der Ort scheint mir ziemlich steil und so verwachsen und dunkel, daß kaum fortzukommen ist. Wollen's aber doch versuchen! Gl. Das wollen wir! Sokr. Heida! Heida, Glaukon! Mich däucht ich bin auf die Spur gekommen; nun soll sie uns hoffentlich nicht entwischen. Gl. Das ist mir lieb zu hören. Sokr. Ei, ei! was seh' ich? da haben wir ja alle beide einen erzdummen Streich gemacht! Gl. Wie so? Sokr. Sind wir nicht auslachenswerth, daß wir uns so viele Mühe gaben etwas zu suchen, das uns gleich von Anfang an so nahe lag? Wir sahen darüber weg, und suchten in der Ferne, was uns diese ganze Zeit über vor den Füßen herumkollerte. Gl. Wie soll ich das verstehen? Sokr. Ich will sagen, wir reden und hören schon wer weiß wie lange davon, und merkten nicht, daß wir nur mit andern Worten von nichts anderm redeten. Gl. Welche lange Vorrede für einen, dessen Wißbegierde du so sehr erregt hast! Sokr. Nun so höre denn! –

Ich gestehe sehr gern, Eurybates, daß mir die Natur den besondern Sinn versagt hat, der dazu gehört, um an dieser niedrig komischen Vorbereitungsscene zu einer so ernsthaften Untersuchung Geschmack zu finden. Ich erkenne in dieser unzeitig schäkerhaften Hasenjagd, wobei der Leser sich noch allerlei possierliche Gebärdungen und Grimassen hinzu denken muß, höchstens eine verunglückte Nachahmung irgend einer Aristophanischen Possenscene, und allenfalls den Pseudo-Sokrates der Wolken, aber nichts weniger als die fröhliche Laune dieses immer heitern und wohlgemuthen, aber zugleich[100] immer gesetzten und die Würde seines Charakters nie vergessenden Sokrates, mit welchem ich lange genug gelebt habe, um das feine Salz, womit sein Scherz gewürzt zu seyn pflegte, von dem widerlichen Meersalz unterscheiden zu können, worein Plato hier (im Zorn der Grazien, die ihm sonst hold genug zu seyn pflegen) einen so unglücklichen Mißgriff gethan hat.

Und was ist nun das Resultat der Entdeckung, die er itzt auf einmal gemacht haben will, nachdem er uns schon so lange in so weit ausgeholten Kreisen um den Brei herumgeführt hat? Oder vielmehr, wie sieht denn der Vogel aus, den er diese ganze Zeit über in der Hand hatte, und uns in einem Anstoß von jugendlich muthwilliger Spaßhaftigkeit selbst so lange in allen Hecken und Büschen suchen half? – Man erwartet, wie billig, daß er sich endlich entschließen werde die Hand aufzuthun, und dem armen, vor Neugier und Ungeduld beinahe platzenden Glaukon den seltnen Wundervogel vorzuzeigen. Aber nein! Dieser Sokrates sagt und thut nichts wie andre Menschenkinder, und bei ihm wird uns das schale Vergnügen einer immerwährenden Ueberraschung bis zur Uebersättigung zu Theil. Er öffnet zwar die Hand nur eben so weit, daß das Vögelchen mit der Spitze des Schnabels hervorgucken kann, macht sie aber sogleich wieder zu, fängt wieder von neuem zu subtilisiren und chicaniren an, und wozu? – Um durch eine Menge unnöthiger Fragen (womit er den ehrlichen Glaukon und uns um so billiger verschonen konnte, da das alles im Vorhergehenden bereits einige Stunden lang mit der mühseligsten Genauigkeit aufs Reine gebracht worden war) und durch eine lange Reihe von Gleichungen[101] zu unsrer großen Verwunderung endlich heraus zu bringen: die Gerechtigkeit seiner Republik bestehe darin, daß ein jeder einzelner Bürger der drei Classen, aus welchen sie zusammengesetzt ist, schlechterdings nur das Eine, wozu er am meisten Geschick hat und wodurch er dem Ganzen am nützlichsten seyn kann, und sonst nichts anders treibe.

Wenn ich die verschiedenen, zum Theil sehr verschraubten Formeln, in welchen er diesen Satz aufstellt, recht verstehe, so läuft alles darauf hinaus: daß in seiner Republik jeder Mensch und jedes Ding gerade das ist, was es seiner Natur und Bestimmung nach seyn soll; oder um die Sache noch kürzer zu geben: daß jedes das, was es ist, immer ist. Da ein Wort doch weiter nichts als das Zeichen einer Sache, oder vielmehr der Vorstellung die wir von ihr haben, ist, so kann es dem Wort Gerechtigkeit allerdings gleich viel seyn, was Plato damit zu bezeichnen beliebt; aber der Sprache ist dieß nicht gleichgültig; und ich sehe nicht mit welchem Recht ein einzelner Mann, Philosoph oder Schuster, sich anmaßen könne, Worte, denen der Sprachgebrauch eine gewisse Bedeutung gegeben hat, etwas anders heißen zu lassen als sie bisher immer geheißen haben. Was Plato unter verschiedenen Formeln Gerechtigkeit nennt, ist bald die innere Wahrheit und Güte eines Dinges, die ihm eben dadurch, daß es recht ist, oder daß es ist was es seyn soll, zukommt; bald die Ordnung, die daraus entsteht, wenn viele verschiedene mit einander zu einem gewissen Zweck in Verbindung stehende Dinge das, was sie vermöge dieser Verbindung seyn sollen, immer sind; bald die Harmonie, die eine natürliche Wirkung[102] dieser Ordnung ist. Aber fürs erste, wenn sein Geheimniß weiter nichts als das war, so hätte er uns, däucht mich, die Mühe einer so langwierigen und langweiligen Initiation ersparen können; und zweitens wird es, wenigstens außerhalb seiner eigenen Republik, wohl immer bei der gewöhnlichen allenthalben angenommenen Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit verbleiben; und der alte Simonides wird um so mehr Recht behalten, da alle Platonischen Formeln ohne große Mühe sich mit der seinigen in Gleichung setzen lassen. Denn, indem die Obrigkeit in seinem Staat das ist, was sie seyn soll und nichts anders, erhält und gibt sie (wie er beiläufig selbst gesteht) dem Staat und jedem einzelnen Gliede desselben, was sie ihm vermöge ihrer Bestimmung schuldig ist; und eben dasselbe gilt von der Classe der Beschützer oder Soldaten, und von den sämmtlichen Künstlern, Handwerkern, Feldbauern, Kaufleuten, Krämern u.s.w., welche Plato mehr seiner Hypothese zu Gefallen, als aus hinlänglichem Grunde, ohne sich viel um sie zu bekümmern, in die dritte Classe zusammengeworfen hat.


Unser platonisirender Sokratiskus hatte sich anheischig gemacht, am Beispiel einer gerechten Republik im Großen zu zeigen, was Gerechtigkeit in der Seele eines Menschen gleichsam im Kleinen sey. Das erste also, was ihm oblag, war, das Bild eines gerechten, d.i. in sich selbst vollendeten oder vollkommenen Staats zu entwerfen; und dieß ist es, was er[103] bisher nach seiner Weise geleistet hat. Er fand daß ein ächtes Gemeinwesen – dessen Grundgesetz ist, daß jedes Glied desselben ausschließlich ein einziges zum Wohl des ganzen unentbehrliches Geschäft treibe und dazu erzogen werde, – nothwendig aus drei Classen von Bürgern, aus Regenten, Räthen und Aufsehern, aus bewaffneten Beschützern, und aus einer für die Wohnung, Nahrung, Kleidung, Bewaffnung und andere solche Bedürfnisse des Staats und seiner Bürger um Lohn arbeitenden Classe bestehen müsse; und daß auf der Einschränkung eines jeden Bürgers in den Kreis der einzigen Beschäftigung wozu er am besten taugt, und auf der strengsten Unterwürfigkeit unter die Gesetze und die Regierung, die gesunde Beschaffenheit des Staats (die ihm Gerechtigkeit heißt) so wie auf dieser die Erhaltung und der Wohlstand desselben beruhe.

Um nun die Anwendung dieser Erklärung der Gerechtigkeit auf den einzelnen Menschen zu machen, und sich dadurch auch des zweiten Theils seines Versprechens zu entledigen, unternimmt er seinen Zuhörern zu zeigen: daß in der menschlichen Seele eben dieselbe Verfassung stattfinde, wie in seiner Republik; nämlich daß sie, wie diese, aus drei Haupttheilen, oder eigentlich aus drei ihrer Natur nach verschiedenen wiewohl zusammen Ein Ganzes ausmachenden Seelen bestehe23; in deren unterster alle Arten von sinnlicher, eigennütziger, an sich selbst unvernünftiger, zügelloser und unersättlicher Begierden, in der zweiten ein gewisses muthiges, zürnendes, an sich selbst wildes und unbändiges Wesen (Thymos vom Plato genannt), das sich gegen alles, was ihm als schlecht, unedel, ungerecht und ordnungswidrig erscheint, empört und[104] ihm aus allen Kräften entgegenkämpft, in der dritten und höchsten endlich die Vernunft, und ein unaufhörliches Streben nach der Wissenschaft des Wahren und Guten, ihren Sitz haben. Die sämmtlichen Begierden nach Genuß und Besitz körperlicher Gegenstände und allen Arten von sinnlichen Befriedigungen sind ihm in der Seele, was die mechanische um Lohn und Gewinn arbeitende Classe in der Republik; zwar zum Leben eben so unentbehrlich, wie diese, aber sich selbst überlassen, können sie (wie jene, wofern sie nicht durch die beiden obern Classen in der Zucht erhalten würden) als blinde und ihrer Befriedigung alles aufopfernde Triebe nichts als Unheil in der innern Republik des Menschen stiften. Um den Wohlstand derselben befördern zu helfen, müssen sie also der Vernunft unterworfen und von dieser immer unter strenger Zucht gehalten werden. Der bewaffneten Classe oder den Beschützern in Platons Republik entspricht in der inneren Oekonomie des Menschen das (vorgebliche) zornmüthige, streitbare, ruhmbegierige, Wollust und Eigennutz verachtende, nichts fürchtende, und allem Widerstand Trotz bietende Princip Thymos, dessen Bestimmung ist, die Regierung der Vernunft zu unterstützen, ihre Rechte zu schirmen, und den Pöbel der Begierden in gehöriger Ordnung und Unterwürfigkeit zu erhalten; welches aber, um diese Bestimmung nie zu verfehlen, zuvor selbst durch Musik und Gymnastik gebändigt und gezüchtet, die Oberherrschaft der Vernunft, als des natürlichen Regenten dieser Republik im Men schen, immer anerkennen und seinen höchsten Stolz bloß darin suchen muß, in Vollziehung ihres Willens keine Gefahr, kein Ungemach, keinen Schmerz zu scheuen, der[105] Erfüllung dieser Pflicht hingegen jedes Opfer, das sie verlangt, willig darzubringen. So wie nun die Gerechtigkeit in unsrer großen Republik in der gehörigen Einschränkung und Subordination der untersten und mittlern Classe unter der obersten, und in der daraus entspringenden Harmonie und Einheit des Ganzen besteht; so hat es, vermöge der Natur der Sache, eben dieselbe Bewandtniß mit den drei verschiedenen Principien, woraus (nach Plato) die Seele zusammengesetzt ist; und so wäre denn die wahre Antwort auf die Frage, »was die Gerechtigkeit in der Seele, an sich selbst, ohne Rücksicht auf irgend etwas außer ihr, sey?« glücklich gefunden, und unser redseliger Sokrates, der es sich in der That sauer genug werden ließ, die Masche, die er auflösen wollte, so stark er nur konnte zusammen zu schnüren, und mit so vielen neuen, in einander verwickelten Knoten zu verstärken, könnte nun billig für heute von aller weitern Bemühung losgesprochen werden.

Daß unser Mann in der Art, wie er seine vorgeblichen Untersuchungen anstellt, sich selbst auch hier gleich bleibt, versteht sich, und was ich gegen diese Methode bereits erinnert habe, tritt daher auch hier wieder ein. Eigentlich kann man nicht sagen, daß er untersuche; denn er hat das, was er seinen Zuhörern suchen zu helfen vorgibt, immer schon in der Hand, und, bei allem Schein von Gründlichkeit und Subtilität, den er seinen taschenspielerischen Operationen zu geben weiß, bedarf es doch nur einer mäßigen Aufmerksamkeit, um zu merken, daß er uns täuscht, wenn gleich nicht jeder Zuschauer ihm scharf genug auf die Finger sehen kann, um gewahr zu werden wie es damit zugeht. Es würde uns zu weit führen,[106] wenn ich die Wahrheit dieser Behauptung durch eine umständliche Analyse dieses Theils des vierten Buchs darlegen, und unsern Tausendkünstler gleichsam nöthigen wollte, seine Handgriffe, einen nach dem andern, so langsam vor unsern Augen zu machen, daß sie auch dem blödsichtigsten nicht entgehen könnten. Ich will mich also bloß darauf einschränken, seinen Beweis der drei wesentlich verschiedenen Principien, die er in der menschlichen Seele entdeckt haben will, etwas näher zu beleuchten, um zu sehen, ob es wirklich zur Erklärung der mannichfaltigen Erscheinungen in derselben nöthig ist, dreierlei Seelen anzunehmen, oder ob wir uns dazu recht gut mit einer einzigen behelfen können.

Gegen das Axiom, worauf er seinen Beweis stützt, daß eben dasselbe Subject in Widerspruch stehende oder einander aufhebende Dinge unmöglich zugleich und in eben derselben Hinsicht weder thun noch leiden könne, habe ich nichts einzuwenden. Wenn er also zeigen kann, daß diese zugegebene Unmöglichkeit gleichwohl in dem, was wir unsre Seele nennen, täglich als etwas Wirkliches erscheint, so hat er den Handel gewonnen und ich stehe beschämt.

Ich übergehe die Einwendungen, die er sich von einem erdichteten Gegner machen läßt, und die fast zu mühsame Art wie er sie beantwortet; denn ich werde ihm diese Einwürfe nicht machen. Also ohne Weiteres zu dem Beispiele, woran er seinem Glaukon klar machen will, daß es ohne seine Hypothese gar nicht zu erklären sey! Hören wir, wie sich sein Sokrates anschickt, um uns zu diesem verzweifelten Ausweg zu nöthigen.

[107] Sokrates. Rechnest du den Durst nicht unter die Dinge, die das, was sie sind, nicht seyn könnten, wenn nicht ein anderes wäre, dessentwegen sie sind? –

Glaukon (sieht ihn an und verstummt).

Sokrates. Nach was dürstet der Durst?

Glaukon. Ja so! – Nach einem Trunk.

Sokrates. Bezieht sich der Durst auf eine gewisse Art von Getränke? Oder verlangt der Durst, insofern er Durst ist, weder viel noch wenig, weder gut noch schlecht, sondern lediglich nur etwas zu trinken?

Glaukon. So ist es allerdings.

Sokrates. Die Seele des Dürstenden, insofern sie dürstet, will also nichts als trinken; das ist's, wornach sie trachtet und strebt?

Glaukon. Offenbar.

Sokrates. Wenn sie also dürstet, und etwas zieht sie zurück, muß da nicht noch etwas anders in ihr seyn als das, welches dürstet und sie wie ein Thier zum Trinken treibt? Denn nach unserm obigen Grundsatz ist es ja unmöglich, daß eben dasselbe, in Ansehung eben desselben Gegenstandes dieß oder das und zugleich das Gegentheil thue?

Glaukon. Unmöglich.

Sokrates. So wenig als es recht gesprochen wäre, wenn man sagte, daß ein Bogenschütze den Pfeil mit beiden Händen zugleich abstoße und anziehe, sondern die eine Hand zieht an, und die andere stößt ab; nicht so?

Glaukon. Nicht anders.

[108] Sokrates. Müssen wir nicht gestehen, daß es Leute gibt, welche nicht trinken wollen, wiewohl sie durstig sind?

Glaukon. O gewiß, das begegnet alle Tage nicht wenigen.

Sokrates. Wie kann man sich das nun erklären, als wenn man sagt, das Etwas in ihrer Seele, das ihnen zu trinken befiehlt, sey ein Anderes als das, so sie vom Trinken abhält und stärker als jenes ist?

Glaukon. So däucht es mir.

Sokrates. Ist nun das, was uns von dergleichen (sinnlichen Befriedigungen) zurückhält, nicht ein Werk der Ueberlegung und des Urtheils, so wie hingegen das, was zu ihnen anreizt und hinreißt, Leidenschaft und Krankheit ist?

Glaukon. So scheint es.

Sokrates. Haben wir also nicht recht, zwei einander entgegen gesetzte Principien in der Seele anzunehmen, von welchen wir jenes, kraft dessen sie urtheilt und schließt, das vernünftige, und dieses, vermöge dessen sie liebt und hungert und dürstet, und von allen andern Begierden, die zu wollüstiger Anfüllung und Ausleerung reizen, hingerissen wird, das unvernünftige und begierliche nennen?

Glaukon. Wir könnten mit Recht dieser Meinung seyn, sollt' ich denken.

Unser Philosoph fährt nun fort, in dieser kurzweiligen Manier auch das dritte in der Seele, welches er Thymos nennt, zu betrachten und so lange hin und her zu schieben, bis er die Aehnlichkeit dieses vorgeblichen Princips mit der streitbaren Classe in seiner Republik entdeckt, und herausgebracht[109] hat, daß Thymos mit den Begierden häufig in Streit gerathe, und so oft sich diese gegen das regierende vernünftige Princip auflehnen, mit großem Eifer die Partei des letztern nehme, für welches er eine ganz eigene Anmuthung habe u.s.w., wozu denn der gefällige Glaukon immer seine Beistimmung gibt, und sich am Ende gänzlich für die Hypothese der dreifachen Seele oder der drei Seelen in Einer erklärt. Es mag eine ganz bequeme Sache seyn, mit Schülern zu philosophiren, bei welchen man immer Recht behält. An Glaukons Stelle hätte ich mich so leicht nicht von dieser neuen Platonischen Lehre überzeugen lassen, und würde mir die Freiheit genommen haben, folgende Vorstellungen gegen dieselbe zu machen.

»Wie eng auch die unbegreifliche Verbindung unsrer Seele mit ihrem Körper ist, ehrenwerther Sokrates, so kann man doch eben so wenig von der Seele sagen, daß sie hungre oder dürste, als daß sie esse und trinke; auch ist sie eben so unschuldig an dem, was du aus geziemender Urbanität lieben nennst, und was (in dem Sinne, den du diesem Worte hier beilegst) eigentlich bloß den gewaltsamen Zustand bezeichnet, worin Aristophanes den Gemahl der schönen Lysistrata von der Armee zu ihr zurückeilen läßt. Alle Triebe, – welche die Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses des Körpers zum Gegenstand haben, gehören auch dem Körper zu; sie sind nothwendige Folgen seiner Organisation, und werden nur insofern Begierden der Seele, als diese durch das geheime Band, wodurch sie an jenen gefesselt ist, sich genöthigt fühlt.« – Doch, warum sollte ich dir, lieber Eurybates, bei dieser Gelegenheit nicht eine kleine Probe geben,[110] daß ich die Kunst, das Wahre einer Sache durch Frag' und Antwort herauszubringen, unserm gemeinschaftlichen Meister so gut als Plato abgelernt habe? Wenigstens werde ich keine hinterlistige und mit einer vorgefaßten Hypothese in geheimem Einverständniß stehende Frage thun, und keine Antwort geben lassen, als die immer die einzig mögliche ist, die ein vernünftiger Mensch auf die vorgelegte Frage geben kann. Also, unter Anrufung der schönsten aller Göttinnen, der Wahrheit, und ihrer ungeschminkten Grazien – zur Sache!

Aristipp. Mich däucht, lieber Sokrates-Platon, der gute Glaukon hat dir zu schnell gewonnenes Spiel gegeben. Erlaube daß ich eine kleine Weile seine Stelle vertrete und in seinem Namen einige unschuldige Gegenfragen an dich thue.

Sokrates. Frage immer zu.

Aristipp. Gibt es unter allen Körpern in der Welt einen, den deine Seele den ihrigen nennt?

Sokrates. Allerdings.

Aristipp. Thust du dieß nicht, weil deine Seele in einer viel engern, besonderern und unmittelbarern Verbindung mit ihm steht als mit irgend einem andern?

Sokrates. Getroffen!

Aristipp. Belehrt uns nicht die tägliche Erfahrung, daß wir ohne unsern Körper weder sehen noch hören, noch von irgend etwas, das außer uns ist oder zu seyn scheint, ja nicht einmal von uns selbst, die mindeste Kenntniß hätten?

Sokrates. In diesem Leben wenigstens können wir nichts von allem diesem ohne unsern Körper.

Aristipp. Lehrt uns die Erfahrung nicht überdieß,[111] daß wir ohne Hülfe unsers Leibes nichts von allem, was wir zu verrichten und hervorzubringen wünschen, ausführen können? Ingleichem, daß sobald der Leib leidet und in seiner natürlichen Lebensordnung gestört wird, auch die Seele, sie wolle oder nicht, sich zur Mitleidenheit gezogen fühlt, und je größer die Leiden ihres Körpers sind, desto mehr auch in ihren eigenen Verrichtungen, im Denken, und in der Freiheit ihre Gedanken zu gewissen Absichten zu ordnen, unterbrochen und aufgehalten wird?

Sokrates. Ich sehe nicht, wie dieß geläugnet werden könnte.

Aristipp. Ist es also nicht natürlich, daß die Seele in solchen Umständen und Lagen ein Verlangen trägt, ihrem Körper nach Möglichkeit zu Hülfe zu kommen?

Sokrates. Sehr natürlich.

Aristipp. Sollte nun aber nicht eben so natürlich seyn, daß eben dieselbe Seele, die ihrem Leibe wohl will und seine Erhaltung begehrt, auch alles verabscheuen muß, was seinen Wohlstand unterbricht oder ihn gar zu zerstören droht? Oder wie sollt' es möglich seyn, daß die Seele etwas wollte, ohne das Gegentheil nicht zu wollen? Oder daß sie etwas ernstlich und eifrig begehrte, ohne daß sie das, was der Befriedigung dieses Verlangens entgegen steht, aus dem Wege zu räumen suchte?

Sokrates. Es ist klar, daß in dem angenommenen Fall das Nichtwollen im Wollen, das Verabscheuen im Begehren nothwendig enthalten ist.

Aristipp. Lehrt uns die Erfahrung nicht, daß, da[112] unser Leib zur Erhaltung seines Lebens und seiner Kräfte von Zeit zu Zeit Speise und Trank bedarf, die Natur im Bau desselben eine solche Einrichtung getroffen hat, daß wir durch eine gewisse Unbehäglichkeit an dieses Bedürfniß erinnert werden, und daß diese Unbehäglichkeit, je nachdem das Bedürfniß größer und dringender wird, so lange zunimmt, bis es endlich peinvoll und unausstehlich ist?

Sokrates. Wiewohl ich das letztere nicht aus eigener Erfahrung weiß, so zweifle ich doch so wenig daran, daß die unmittelbare Erfahrung mich nicht stärker überzeugen könnte.

Aristipp. Wie nennst du diese Aufforderung der Natur jenen Bedürfnissen unsers Leibes zu Hülfe zu eilen?

Sokrates. Hunger und Durst.

Aristipp. Und das wodurch beiden abgeholfen wird?

Sokrates. Speise und Trank.

Aristipp. Sollten wir also den Hunger und den Durst, als Gefühle, die uns die Natur selbst aufgedrungen hat, nicht mit gutem Fug Naturtriebe nennen können?

Sokrates. Ich sehe nicht was uns daran hindern sollte.

Aristipp. Wenn mich dürstet, regt sich der Trieb zum Trinken zunächst im Leibe, der des Getränks bedarf, oder in der Seele, die weder trinken kann noch dessen für sich selbst nöthig hat?

Sokrates. Nur ein Wahnsinniger könnte das letztere behaupten.

Aristipp. Man kann also, eigentlich zu reden, nicht sagen, die Seele dürste; und Plato hatte ein wenig Unrecht,[113] einen so vernünftigen Mann wie du bist, etwas so Unschickliches sagen zu lassen.

Sokrates. Schlimm genug für mich oder ihn, daß ihm das nur gar zu oft begegnet.

Aristipp. Wenn also, wie die Erfahrung gleichfalls lehrt, dieser körperliche Trieb, welcher unmittelbar aus dem Gefühl des Bedürfnisses entsteht, in der Seele des Dürstenden zur Begierde jenen Trieb zu befriedigen, und zur Verabscheuung des aus der Nichtbefriedigung entstehenden peinlichen Zustandes wird, kommt dieß nicht bloß daher, weil sie an dem Zustande des Leibes, ihres unmittelbaren Gefährten und Gehülfen, Antheil zu nehmen genöthigt ist; und weil sie, auch um ihrer selbst willen, desto lebhafter und ungeduldiger wünschen muß, daß der Dürstende zu trinken bekomme, je dringender sein Bedürfniß, je quälender sein Durst, und je peinlicher folglich ihr selbst die Hemmung ihrer freien Thätigkeit wird, die eine natürliche Folge desselben ist?

Sokrates. Ich sehe nicht, wie ich mir die Sache anders denken könnte.

Aristipp. Wenn nun kein besonderer Grund vorhanden ist, warum der Dürstende sich des Trinkens enthalten soll, so ist auch nichts da, was die Ueberlegung oder die Vernunft verhindern könnte, ihre Einwilligung dazu zu geben; Trieb, Begierde und freier Wille fallen alsdann in einander, und es ist klar, daß wir nicht zwei verschiedene Principien anzunehmen brauchen, um das, was in der Seele dabei vorgeht, begreifen zu können. Laß hingegen irgend einen[114] Grund des Nichttrinkens vorhanden seyn, z.B. daß kein anderes als stinkendes Wasser, oder irgend ein Getränk, dessen Schädlichkeit dem Dürstenden bekannt ist, vorhanden, oder daß noch vorher irgend ein äußerst dringendes Geschäft abzuthun, der Durst hingegen noch erträglich wäre: so würde zwar der mechanische Trieb zum Trinken nichts dadurch von seiner Stärke verlieren, aber die Begierde, durch die Ueberlegung unterdrückt, würde dem Willen nicht zu trinken Platz machen; und dieß auf eben die Weise, wie wir, wenn wir uns mit Ueberlegung, aber aus irriger Meinung zu etwas entschlossen haben, unsern Entschluß ändern, sobald wir den Irrthum gewahr werden, wiewohl es eben dieselbe Vernunft ist, die uns in beiden Fällen bestimmt. Oder sollte es etwa, zu Erklärung dieser so häufig vorkommenden Veränderlichkeit unsrer Meinungen und Entschließungen, einer zweifachen vernünftigen Seele bedürfen, einer die sich irren kann, und einer andern, die sich nie irrt, und welcher jene unterthan zu seyn verbunden ist?

Sokrates. Mich dünkt eine und eben dieselbe Seele sollte hinlänglich seyn, alles was in den besagten Fällen in ihr vorgeht zu bestreiten.

Aristipp. So lange uns also Plato nicht gezeigt haben wird, daß es andere Fälle gebe, wo der Mensch in eben demselben untheilbaren Augenblick, in Ansehung eben desselben Gegenstandes, von der Begierde nach einer gewissen Richtung, und von der Vernunft nach der entgegengesetzten gezogen werde, ist keine Ursache vorhanden, warum wir[115] aus dem was in uns begehrt, und dem was in uns überlegt und wählt, zwei verschiedene Seelen machen sollten.

Sokrates. Aber wie, wenn (um bei unserm bisherigen Beispiele zu bleiben) der Durst endlich auf einen so hohen Grad dringend würde, daß seine Pein unausstehlich wäre, und der Dürstende könnte schlechterdings keines andern Getränkes habhaft werden als eines Bechers voll Schierlingssaft, entstände da nicht der Fall, wo Begierde und Ueberlegung den Menschen zugleich nach zwei entgegen gesetzten Richtungen ziehen würde?

Aristipp. Ich weiß nicht ob jemals ein solcher Fall stattgefunden haben mag; wenigstens werden wir, weil die Erfahrung uns hier verläßt, das, was in diesem unbekannten Falle geschehen müßte, nur aus dem, was uns von der menschlichen Natur überhaupt bekannt ist, oder aus ähnlichen Fällen durch Muthmaßung herausbringen können. Auf alle Fälle ist gewiß, daß eben dieselbe Seele, die dem dringenden Bedürfniß des verlechzenden Körpers um jeden Preis abgeholfen wissen will, den Gifttrank, sobald sie ihn für einen solchen erkennt, insofern er dem Körper die gänzliche Zerstörung droht, verabscheuen muß. Demungeachtet bin ich überzeugt, sobald das Bedürfniß zu trinken aufs äußerste, und folglich die Pein des Durstes auf einen so fürchterlichen Grad gestiegen wäre, daß dem Unglücklichen nich übrig bliebe, als sein Leben an die Erleichterung der gegenwärtigen Qual zu setzen: so würde nicht nur der sinnliche Abscheu von der wüthenden Begierde übertäubt werden, sondern die Vernunft selbst, wenn sie kein anderes Rettungsmittel vorzuschlagen[116] hätte, würde die leichtere und schnellere Todesart der grausamem vorziehen, und der Begierde keinen vergeblichen Widerstand entgegen setzen. –

Aber genug, lieber Eurybates, für eine kleine Probe, welche freilich dreimal so groß hätte ausfallen mögen, wenn ich, nach der Weise meines Vorgängers, jede Frage noch in zwei oder drei dünnere hätte spalten wollen.

In Betreff des sogenannten Thymos, welchen Plato zum dritten – ich weiß nicht was in unsrer Seele macht, muß ich zu dem bereits Gesagten nur noch hinzusetzen, daß alle Schwierigkeiten von selbst wegfallen, sobald bei den Erscheinungen, die er unter dieser Benennung begreift, das, was seinen unmittelbaren Grund in der organischen Beschaffenheit des Leibes hat, von dem was das eigentliche Werk der Seele dabei ist, so genau als möglich unterschieden wird. Ueberhaupt fehlt sehr viel, daß dieses vorgebliche Princip bei allen Menschen gleiche Wirkungen hervorbringe: die Verschiedenheit des Temperaments, der Nervenstärke und Muskelkraft, der von Jugend an gewohnten Lebensweise und anderer Umstände, gibt gar verschiedene Resultate. Der eine zittert vor dem bloßen Anschein einer Gefahr, da ein andrer gar nicht weiß was Furcht ist, und seinen Muth mit der Gefahr steigen fühlt. Dieser ergrimmt über etwas, das jenen kaum aus dem Gleichgewicht rückt. Bei einigen ist hoher Muth mit Sanftheit und Zartgefühl, bei ungleich mehreren mit Rohheit, Härte und Gefühllosigkeit verbunden, u.s.w. Das aber, was ohne Zweifel allen Menschen gemein ist, – der natürliche, mit mehr oder minder lebhaftem Widerstand verbundene Abscheu[117] vor allem, was unsern gegenwärtigen Zustand zu verschlimmern, oder gar unser Wesen selbst zu zerstören droht, – und die Begierde alles, was sich als angenehm, unserm Wesen zuträglich und den Genuß unsers Daseyns verstärkend, kurz, was sich uns unter der freundlichen Gestalt des Schönen und Guten darstellt, an uns und so viel möglich in uns hineinzuziehen, – ich sage jener Abscheu und Widerstand entspringt mit dieser Begierde und Anziehung aus einer und eben derselben Wurzel. Beide bedürfen, um uns in ihren Wirkungen begreiflich zu werden, keines andern Princips, als dessen, worin unser Wesen selbst besteht, dieser sich selbst bewege den Kraft, die sich in dem unaufhörlichen Bestreben äußert, ihr durch den Körper beschränktes, aber innigst mit ihm verwebtes Seyn zu genießen, zu nähren, zu erweitern und zu erhöhen; und die immer eben dieselbe ist, es sey nun daß sie, als Begierde, das was ihr gut scheint an sich zu ziehen, oder, als Abscheu, das wirkliche oder vermeinte Böse zurückzustoßen strebt. Zu Erklärung dieser so nothwendig mit einander verbundenen und unter der Regierung der Vernunft so harmonisch zu einerlei Zweck zusammenwirkenden Bestrebungen eben derselben Kraft, zwei besondere Seelen anzunehmen, dünkt mich eben so unphilosophisch, als wenn man, um sich die verschiedenen Wirkungen der Liebe und des Hasses zu erklären, eine liebende und eine hassende Seele erdichten wollte. Nach Platons Art zu räsonniren würden wir zuletzt jeder besondern Leidenschaft, wiewohl sie alle aus einerlei Quelle entspringen, ihre eigene Seele geben müssen; denn sehen und erfahren wir nicht täglich bei tausend Gelegenheiten, daß eine begehrliche[118] Leidenschaft mit einer andern, öfters sogar mit mehrern zugleich (z.B. der Geiz mit Gewinnsucht, Eitelkeit und Lüsternheit) in offenbaren Widerspruch geräth?

Doch genug und schon zu viel über die zwei untersten Endpunkte des Platonischen Seelen-Dreiecks. Sollte es mit der vernünftigen Seele, welche die oberste Spitze desselben ist, nicht die nämliche Bewandtniß haben? Sollten sich nicht alle Erscheinungen und Wirkungen der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft, des Verstandes und des Willens, der Leidenschaften und der Vernunft, sehr wohl aus einer und eben derselben mit einem organischen Körper vereinigten Seele erklären lassen? Können sie nicht ganz natürlich und ungezwungen als bloße verschiedene Modalitäten oder Zustände eben derselben selbstthätigen Kraft gedacht werden, welche, je nachdem sie von ihrem Körper und andern in sie einwirkenden Dingen außer sich mehr oder minder eingeschränkt wird, und je nachdem sie sich selbst aus verschiedenen Beweggründen und Absichten eine andere Richtung oder Stimmung gibt, oder ihre Kraft höher oder tiefer spannt, sich unter andern Gestalten zeigt und andere Benennungen erhält? Sind wir nicht sogar durch das innigste Selbstbewußtseyn genöthigt, unser Ich in allen seinen Veränderungen, Zuständen und Gestalten, selbst in den ungleichartigsten und unverträglichsten (z.B. im Uebergang aus der Trunkenheit einer heftigen Leidenschaft in den heitern Stand der ruhigen Besonnenheit) für ebendasselbe zu erkennen? Ich möchte wohl sehen, wie uns Plato dieses immerwährende Zusammenfließen seiner drei Seelen in[119] der Einheit des Bewußtseyns, ohne eine ihm und uns bisher unbekannte vierte Seele, begreiflich machen wollte?

Uebrigens bedarf es kaum der Erwähnung, daß ich gegen die allgemeinen, aller ächten Lebensweisheit zum Grunde liegenden Wahrheiten, womit sich das vierte Buch schließt, und gegen die Formel, in welcher Plato seine Theorie über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zusammenfaßt – »daß die Tugend der Seele eben das sey, was Gesundheit, Schönheit und vollkommenes Wohlbefinden dem Leibe,« und gegen die Behauptung – »daß beide Arten von Gesundheit aus einerlei Ursachen entspringen, wenn nämlich jeder Theil, in gehörigem Verhältniß zu den übrigen, nichts als sein ihm eigenthümliches Geschäft verrichte, und im Ganzen die reinste Uebereinstimmung und Ordnung herrsche« – nichts zu erinnern habe. Warum er uns aber zu so sonnenklaren, von niemand, meines Wissens, bestrittenen und, wie er selbst gesteht, so augenscheinlich vor unsern Füßen liegenden Wahrheiten auf solchen Umwegen und durch so viele struppichte Dornhecken geführt hat, bleibt indessen immer eine Frage, die er selbst vielleicht durch den Ausspruch des alten Hesiodus beantwortet glaubt: daß die Götter es nun einmal so in der Art haben, den Sterblichen nichts Gutes ohne große Müh' und Beschwerde zukommen zu lassen.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 24, Leipzig 1839, S. 96-120.
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