10.
Speusippus an Aristipp.

[201] Unsre Freundschaft, lieber Aristipp, ist, gleich edlem Wein, alt genug um Stärke zu haben, und wir kennen beide einander zu gut, als daß du mir zutrauen solltest, ich könnte die scharfe Censur, die du in deinen Anti-Platonischen Briefen[201] an Eurybates über den neuesten Dialog meines Oheims ergehen lassen, von einer schiefen Seite angesehen und beurtheilt haben. Ich habe dir nie zu verheimlichen gesucht, daß mich weniger eine natürliche Uebereinstimmung meiner Sinnesart mit der seinigen, oder Ueberzeugung von der Wahrheit seiner spekulativen Philosophie, als das enge Familienverhältniß, worin ich mit ihm stehe, zum Platoniker gemacht hat. Er hat sich daran gewöhnt, den künftigen Erben seiner Verlassenschaft auch als den Erben seiner Philosophie zu betrachten, und ich kann es nicht über mein Herz gewinnen, ihm einen Wahn zu rauben, an welchem das seinige Wohlgefallen und Beruhigung zu finden scheint. Wenn du ihn aus einem so langen und nahen Umgang kenntest wie ich, würdest du ihn, denke ich, in mehr als Einer Rücksicht, des Opfers würdig halten, welches ich ihm durch diese kleine Heuchelei bringen muß. Im Grunde kann ich mir ihrentwegen keinen Vorwurf machen, und dieß nicht bloß um der Bewegursache willen, sondern weil wirklich die Augenblicke ziemlich häufig bei mir sind, wo ich mich versucht fühle, oder mir wohl gar in vollem Ernst einbilde, das wirklich zu seyn, was ich zu andern Zeiten nur vorstelle. Wenn ich bei ganz kaltem Blute in lauter klaren Vorstellungen lebe, denke ich von der Philosophie meines Oheims nahezu wie du; ich finde sie schwärmerisch, überspannt, meteorisch, unbegreiflich; seine Ideenwelt scheint mir ein gewaltiges Hirngespenst33 und sein Auto-Agathon34 eben so undenkbar als ein unsichtbares Licht oder ein unhörbarer Schall. Aber in andern Stunden, wo mein Gemüth zu den zartesten Gefühlen gestimmt und mein Geist[202] frei genug ist sich mit leichterm Flug über die Dinge um mich her zu erheben, zumal wenn ich den wunderbaren Mann unmittelbar vorher mit der Begeisterung des lebendigsten Glaubens von jenen übersinnlichen Gegeständen reden gehört habe, dann erscheint mir alles ganz anders; ich glaube zu ahnen daß alles wirklich so sey wie er sagt; unvermerkt verwandeln sich meine Ahnungen in Gefühle, und ich finde mich zuletzt wie genöthigt, für Wahrheit zu erkennen, was mir in andern Stimmungen träumerisch, lächerlich und bloßes Spiel einer übergeschnappten Phantasie zu seyn däucht. Warum (sage ich mir dann) sollte ein unsichtbares Licht, ein unhörbarer Schall, nicht unter die möglichen Dinge gehören? Kann nicht beides nur mir und meines gleichen unsichtbar, unhörbar seyn? Kann die Schuld nicht bloß an meiner Zerstreuung durch nähere Gegenstände, oder an der Schwäche und Stumpfheit meiner Organe liegen? Scheint nicht dem, der aus einer finstern Höhle auf einmal in die Mittagssonne tritt, das blendende Licht dichte Finsterniß? Oeffnet sich nicht, wenn alles weit um uns her in tiefer nächtlicher Stille ruht, unser lauschendes Ohr den leisesten Tönen, die uns unter dem dumpfen Getöse des Tages, selbst bei aller Anstrengung des Gehörorgans, unhörbar blieben? – Soll ich dir noch mehr bekennen? Diese Schlüsse erhalten keine schwache Verstärkung durch eine Wahrnehmung, die ich oft genug an mir zu machen Gelegenheit habe. Die Philosophie Platons kommt mir nie phantastischer vor, als wenn ich mich in den Wogen des alltäglichen Leben herumtreibe, oder beim fröhlichen Lärm eines großen Gastmahls, im Theater, oder bei den[203] Spielen reizender Sängerinnen und Tänzerinnen, kurz überall, wo entweder Verwicklung in bürgerliche Geschäfte und Verhältnisse, oder befriedigte Sinnlichkeit, den Geist zur Erde herabziehen und einschläfern. Wie hingegen in mir selbst und um mich her alles still ist, und meine Seele, aller Arten irdischer Fesseln ledig, sich in ihrem eigenen Element leicht und ungehindert bewegen kann, erfolgt gerade das Gegentheil; ich erfahre alles, von Wort zu Wort, was Plato von seinen unterirdischen Troglodyten erzählt, wenn sie ans Tageslicht hervor gekommen und aus demselben in ihre Höhle zurückzukehren genöthigt sind. Alles was mir im gewöhnlichen Zustand reell, wichtig und anziehend scheint, dünkt mich dann unbedeutend, schal, wesenlos, Tändelei, Traum und Schatten. Unvermerkt öffnen sich neue geistige Sinne in mir; ich finde mich in Platons Ideenwelt versetzt; kurz, ich bedarf in diesen Augenblicken eben so wenig eines andern Beweises der Wahrheit seiner Philosophie, als einer der etwas vor seinen Augen stehen sieht, einen Beweis verlangt daß es da sey.

Ob nicht in diesem allen viel Täuschung seyn könne, oder wirklich sey, kann ich selbst kaum bezweifeln: denn wie käm' es sonst, daß jene vermeinten Anschauungen keine dauernde Ueberzeugung zurücklassen, und mir zu anderer Zeit wieder als bloße Träume einer über die Schranken unsrer Natur hinaus schwärmenden Phantasie erscheinen? – Und dennoch dünkt mich, die Vernunft selbst nöthige mich zu gestehen, es sey etwas Wahres an dieser übersinnlichen Art zu philosophiren. Dem großen Haufen, d.i. zehnmal Zehntausend gegen Einen, ist es freilich nie eingefallen einen Augenblick[204] zu zweifeln, daß alles, was ihm seine wachenden Sinne zeigen, wirklich so, wie es ihm erscheint, außer ihm vorhanden sey; der Philosoph hingegen findet nichts wunderbarer und unbegreiflicher, als wie etwas (ihn selbst nicht ausgenommen) da seyn könne. Wie läßt sich von einem Dinge sagen, es sey, wenn man nicht einmal einen Augenblick, da es ist, angeben oder festhalten kann? Theile die Zeit zwischen zwei auf einander folgenden Pulsschlägen nur in vier Theile, und sage mir, welcher dieser fliegenden Zeitpunkte ist der, worin irgend ein zu dieser Sinnenwelt gehöriges Ding wirklich da ist? Im Nu, da du sagen willst es ist, ist es schon nicht mehr was es war, oder (was eben dasselbe sagt) ist das Ding, welches war, nicht; aber vor dem vierten Theil eines Pulsschlags, und vor zehntausend derselben, konnte man eben dasselbe gegen sein Daseyn einwenden. Es war, es wird seyn, wäre somit alles was sich von ihm sagen ließe: aber wie kann man von dem, dessen Daseyn in irgend einem Moment ich mir nicht gewiß machen kann, mit Gewißheit sagen es sey gewesen? es werde seyn?


Doch ich will zugeben daß dieß dialektische Spitzfündigkeiten sind, die uns das zweifache Gefühl, daß wir selbst sind und daß etwas außer uns ist, nicht abvernünfteln können. Ganz gewiß kann dieses Gefühl keine Täuschung seyn: nur wird das Unbegreifliche in unserm Seyn durch diese Gewißheit nicht aufgelöst. Wir und alle Dinge um uns her befinden uns in einem unaufhörlichen Schwanken – nicht, wie Plato sagt, zwischen Seyn und Nichtseyn, sondern – zwischen[205] »so seyn« und »anders seyn.« Dieß wäre unmöglich, wenn nicht allem Veränderlichen etwas Festes, Beständiges, Unwandelbares zum Grunde läge, das die wesentliche Form desselben ausmacht. Es gibt aber in dieser uns umgebenden Sinnenwelt nichts als einzelne Dinge, die sich durch alles, was an ihnen veränderlich ist, d.i. durch alles, was an ihnen in die Sinne fällt, von einander unterscheiden, in ihren Grundformen hingegen einander mehr oder weniger ähnlich sind, und nach dieser Aehnlichkeit von dem denkenden Wesen in uns in Gattungen und Arten eingetheilt werden. Gleichwohl sind diese letztern bloße Begriffe, die wir uns von den wesentlichen Formen der Dinge zu machen suchen, und die zu diesen Formen sich nicht anders verhalten als wie die Schatten oder Widerscheine der Körper zu den Körpern selbst. Aber woher kommen uns diese Begriffe? Gewiß nicht von den Dingen der Sinnenwelt selbst, an denen wir nichts, was nicht veränderlich und in einem ewigen Fluß ist, wahrnehmen. Die wesentlichen Formen, wovon sie gleichsam die Schatten sind, müssen also ein von ihnen und von unsrer Vorstellung unabhängiges Daseyn haben, und irgendwo wirklich vorhanden seyn. Dieß sind nun eben diese Ideen, die in Platons Philosophie eine so große Rolle spielen, deren Inbegriff die übersinnliche oder intelligible Welt ausmacht, und denen er (weil wir uns doch alles, was wirklich ist, nicht anders als in einem Orte denken können) überhimmlische Räume zum Aufenthalt anweiset. Sie sind, nach seiner Meinung (die ihm geistige Anschauung ist), unmittelbar von der ersten ewigen Grundursache alles Denkbaren und Wahrhaftexistirenden erzeugt, und waren die[206] Gegenstände, an deren Anschauen unsre Seelen sich weideten, bevor die strenge Anangke sie in diese Sinnenwelt und in sterbliche Leiber zu wandern nöthigte. Sie sind aber auch die Urbilder und Muster, nach welchen untergeordnete Geister aus einem an sich selbst formlosen und durch seine unbeständige Natur aller Form widerstrebenden Stoff die Sinnenwelt bildeten, wiewohl es nicht in ihrer Macht stand, ihnen mehr als den Schein jener ewigen unwandelbaren und in sich vollkommenen Formen zu geben, der gleichwohl alles ist, was an ihnen reell und wesentlich genennt zu werden verdient. Von diesem Schein – welcher (wie die Sonnenbilder im Wasser) gleichsam der Widerschein der mehr besagten Ideen ist, fühlen sich nun die neuangekommenen Seelen, sobald sie sich aus der Betäubung des Sturzes in die Materie erholt haben, aufs lebhafteste angezogen. Die Meisten wähnen, daß die Gegenstände, die ein dunkles Nachgefühl ihres ehmaligen seligen Zustandes in ihnen erwecken, das, was sie scheinen, wirklich seyen; sie überlassen sich also in argloser Unbesonnenheit dem Ungestüm der Begierden, von welchen sie zum Genuß derselben angetrieben werden; und was daraus erfolgt, ist bekannt. Nur sehr Wenige (nämlich, nach Plato, die Philosophen im ächten Sinn des Wortes) sind weise genug, den Schein von der Wahrheit zu unterscheiden, sich aus den Schattenformen, die ihr Verstand in der Sinnenwelt gewahr wird, eine Art von Stufenleiter zu bilden, und so wie sie sich, von Irrthum und Sinnlichkeit gereinigt, über die materiellen Gegenstände erheben, nach und nach in das reine Element der Geister emporzusteigen und zu dem was wirklich ist, zu den[207] ewigen Ideen und dem Auto-Agathon, ihrem Urquell, mit immer weniger geblendeten Geistesaugen aufzuschauen.

Hier hast du, in die möglichste Kürze zusammengezogen, das Platonische System oder Mährchen, wenn du willst, welches – allen meinen nur zu häufigen Verirrungen und Untertauchungen in den reizenden Schlamm der Sinnenwelt zu Trotz – so viel Anziehendes für mich hat, daß ich, wofern es wirklich nur ein Mährchen seyn sollte, mich wenigstens des Wunsches, daß es wahr seyn möchte, und in meinen besten Augenblicken des Glaubens, daß es wahr sey, nicht entbrechen kann. Ehrlich zu reden, ich kenne kein anderes, woran ich mich fester halten könnte, wenn mich die närrischen Zweifel über Seyn und Nichtseyn anwandeln, die bei meines gleichen sich nicht immer mit dem Sokratischen was weiß ich? oder dem Aristippischen was kümmert's mich? abfertigen lassen wollen. Verzeih, Lieber, wenn ich deine Gleichgültigkeit über diese Dinge auf der unrechten Seite angesehen haben sollte, und lass' dich meinen kleinen Hang zur Schwärmerei (die, wie du weißt, eben nicht immer die Platonische ist) nicht abschrecken mein Freund zu bleiben. Lasthenia grüßt dich und empfiehlt sich dem Andenken ihrer Musarion. Du wirst es hoffentlich als ein ganz unzweideutiges Zeichen ihrer zur Reife gediehenen Sophrosyne ansehen, daß deine Antiplatonischen Briefe eine lebhafte und beinahe warme Vertheidigerin an ihr gegen diejenigen gefunden, die ich weiß nicht welche Spuren eines alten Grolls und einer übel verhehlten Eifersucht darin ausgeschnuppert haben wollen. Denn im Grund ist sie noch immer eine so eifrige Platonikerin als damals,[208] da sie zu Aegina mit dem kleinen unbeflügelten Amor am Busen von dir überrascht wurde.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 24, Leipzig 1839, S. 201-209.
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