Die Nordsee.

[44] Beim Anblick der Nordsee fühle ich theetrinkendes, civilisirtes Geschöpf, daß ich noch einige Blutstropfen meiner normännischen Ahnen in mir rinnen habe. Ich kam vom königlichen Antikencabinet, mir war so klassisch ruhig zu Muth, ich hatte die schönsten griechischen Idealformen vor Augen, ich ging nach Schevelingen, ich sah die See, die brandende, brausende Nordsee und verweht waren meine griechischen Ideale und ich fühlte mich im Kern meines Wesens ganz ein anderer Mensch als ein Grieche. Der Athem der See fuhr mir durch die Brust, ihre Wellen brachen sich an meinem Herzen, wie an ihrem Ufer.

Woher dieser Zauber? Der Süden kennt ihn nicht, der Franzose fühlt ihn nicht, der Grieche ahnte ihn nicht. Ueber seiner ionischen See, seinem Mittelmeer schwebt epische Ruhe – blauer Himmel, blaue Fluth, glückliche Inseln, goldene[45] Aepfel, hesperidische Gärten. Die Nordsee ist lyrisch, leidenschaftlich, voll Klippen, Untiefen, Stürme, Strudel, Gefahren, Abentheuer. Im ionischen Meer sieht der Schiffer von Insel zu Insel den wirthlichen Rauch der Hütten auststeigen, in der Nordsee schweift der Blick über eine unermeßliche wüste Fläche, und Land und Menschen ahnen sich nur in weiter Ferne. Im ionischen Meer ziehen die Schiffe wie stille Schwäne durch die Fluth, in der Nordsee kreisen sie wie Möven mit flatternden Flügeln am Horizont.

In beiden lebt die Seele der Menschen und die Seele des Nordens ist, wie ihre See, wetterwendisch, ungestüm, sehnsüchtig, sich verlierend ins Unermeßliche. Die Nordsee wird nie zum Mittelmeer und der Nordmensch nie ein Grieche trotz Winckelmann und Goethe.

Ich habe die See in allen ihren Zuständen und Beleuchtungen gesehen, bei Auf- und Untergang der Sonne, bei Mond- und Sternenlicht, im hellen Glanz des Mittags, leise athmend, wie im Traum, brüllend wie in der Wuth, gähnend wie ein nordischer Riese, der Langeweile fühlt, mit Schweiß und Schaum bedeckt, als käme sie aus dem Kampf, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, immer anders, immer dieselbe.[46]

Wie oftmals habe ich mich geschaukelt auf ihrem Rücken, als nackter Reiter die weißen Rößlein getummelt. Bald wollten sie mich am Strand absetzen, bald mit mir in die Wasserwüste durchgehen. Kam ich mir doch vor, wie Alexander, der den Bucephalus bändigt.

Alexander und ich – großer Gott!

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Holland in den Jahren 1831 und 1832. Erster und Zweiter Theil, Hamburg 1833, S. 44-47.
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