Leiden.

[156] Die erste Frage, die ich bei meinem Besuch in Leiden that, war: »wo habt ihr Schill's Kopf.« Der Leser muß wissen, daß der Kopf des unglücklichen Mannes, schändlich zerhauen, wie er ihn in seiner Todesstunde sinken ließ, von Stralsund durch die holländischen Truppen nach Holland kam, wo er zu Leiden in eine Spiritusflasche gesetzt, unter Mißgeburten aufbewahrt wurde. Auf der Anatomie von Leiden hat er gestanden noch im Jahr 1817, und der König, für den dieser Tollkopf fiel, hatte ihn bis dahin noch nicht abgefordert. Wo habt ihr Schill's Kopf, fragte ich also den Famulus. »Er ist seit einigen Jahren aus der Anatomie verschwunden, man weiß nicht wie, durch wen und wohin; vermuthlich hat ihn Jemand gestohlen.« »Das ist gut,« antwortete ich, »so brauche ich nicht der Dieb zu sein.«

Von der Anatomie in Leiden und gar von[157] dem ungeheuern Naturaliencabinet erwarte man von mir keine Beschreibung. Letzteres ist, wie in Göttingen die Bibliothek, das einzige Residuum von Leidens ehemaligem Ruhm und gelehrter Größe. Gegenwärtig kein eminenter Mann unter allen Professoren. Den Saal des akademischen Gebäudes, dessen Wände von oben bis unten mit den Bildern jener alten Herren behangen sind, habe ich gesehen, wenn auch nicht mit dem heiligen Schauer betreten, wovon Niebuhr einst sprach, als er uns Studenten in Bonn seine Empfindungen beim Eintritt in diesen Saal schilderte. Boerhave achte ich am meisten, er hat ein rothes, rusticoses Gesicht. Scaliger halte ich für den besten Kopf. War es nicht Scaliger, der bei Anwesenheit eines deutschen Kaisers seinen Doctormantel abwarf und, um dem Kaiser vom Kriegstanz der alten Griechen, der Pyrrhichia, einen anschaulichen Begriff zu geben, diesen Tanz mit allen möglichen Feinheiten und Schwenkungen vor den Augen des erstaunten Kaisers aufführte? Ich glaube, ja.

Merkwürdig scheint es mir, daß die Philologie in Aegypten entsprang und in Holland vorzüglich blühte. Eratosthenes war bekanntlich der erste große Pedant, der sich Philolog nannte, Ruhnkenius vielleicht der Letzte, der dieses Namens im alten Sinne würdig war.[158]

Die Holländer – ich will bei dieser Gelegenheit einmal abspringen – haben überhaupt viel Aehnlichkeit mit den alten Aegyptern. Schon das sumpfige Element, das Land, das sie bewohnen, die Luft, die Canäle, Dämme, Schleusen, Trekscheuten, Schein, Nil, die wimmelnde Menschenzahl, in Aegypten auf 800 Quadratmeilen, noch unter den Ptolomäern etwa 20000 Dorfschaften und sieben Millionen Menschen, in Holland, das ist in Nord-, und Südholland auf 100 Quadratmeilen, Dünen, Moor und Seen mitgerechnet, ein 800,000 Menschen. Und diese selbst, die Aegypter hager und olivenfarbig, die Mijnheers in der Regel hager und käsefarbig; die Aegypter gute Mathematiker und Geometer, die Holländer ebenfalls; die Aegypter gute Aerzte, die Holländer ebenfalls; die Aegypter berühmt wegen Verfertigung des Papiers, der Leinwand, des Töpfergeschirrs, die Holländer ebenfalls; die Aegypter äußerst mäßig im Essen, die Holländer ebenfalls. Doch haben sie auch ihre Unähnlichkeiten, und die hauptsächlichste ist, daß der Holländer, so trocken er sein mag, dennoch das Feuchte liebt und viel trinkt, was der Aegypter nicht thut. Der Holländer tunkt seinen Zwieback in Thee, sein Ruder in die See, seinen Geist mitunter in Humor und seinen Pinsel bald in den Theertopf zum[159] Anstreichen eines Schiffes, bald auf die nasse Farbenpalette, um Meisterwerke der Kunst hervorzubringen. Der Aegypter haßte und fürchtete die See und hämmerte und steinhauerte lieber, als er malte.

Hunger ertragen kann der Holländer eben so lange, als der Aegypter oder Jude; deß Zeugniß sind die holländischen Belagerungen im sechzehnten Jahrhundert. Die Belagerung von Leiden ist in dieser und anderer Hinsicht so interessant, daß ich ihr das folgende Capitel allein anweise.

Studenten waren nur sehr Wenige in Leiden zurückgeblieben, sie standen mit denen von Utrecht und Groningen im Grenzlager und machten den dreitägigen Feldzug mit, wobei sie einen ihrer Cameraden verloren. Ich glaube, es sind in den Schlachten von Löwen und Hosselt nicht zehn Mann geblieben. Ein Student hat in dem jährlichen Musenalmanach der Universität Leiden die Begebenheiten und Abenteuer des Studentencorps in diesem Kriege dargestellt; es ist unglaublich, wie wohlfeilen Kaufs die Holländer mit dem Sieg davongingen. Mit tausend holsteinischen Bauern hätte ich es der holländischen Armee ein wenig schwerer gemacht. Die holländischen Schütter wollten sogar einmal nicht vorwärts, bis ihr Anführer ihnen die Fahne vorauftrug und sie auf diese[160] Weise dazu nöthigte. Aufrichtig gestanden, ich glaube, daß die Holländer ganz gute Belagerungstruppen vor und in der Festung sind; als solche haben sie sich auch in Spanien unter Papa Chassée beim Sturm von Saragossa gezeigt, und im Nothfall werden sie dies auch bei etwaniger Belagerung Mastrichts oder der Citadelle von Antwerpen darthun; allein für Marsch-und Schlachttruppen halte ich sie nicht.

Später sah ich die Leidener Studenten auf ihrer Heimkehr zu Leistendam, einem am großen Canal zwischen Delft und Leiden gelegenen freundlichen Dorfe, wo sie übernachteten. Es war ein heitres Volksfest, die Brücken, die Häuser erleuchtet und in der Mitte des Canals, der im wiedergespiegelten Feuer sich mit zu freuen schien, eine Bande Musikanten, die patriotische Lieder aufspielten. Die jungen Leute spazierten theils draußen unter dem Volk umher, theils saßen sie mit ihren Wirthen und deren Familie am Tisch, aßen, zechten, sangen und waren guter Dinge. Die Vorhänge und Gardinen, die sonst immer dicht zugezogen sind, waren den Abend gelüftet und Jeder konnte in die Stube hineinsehen und die innere Wirthschaft nach Herzenslust betrachten. Das fand ich hübsch von den Holländern. Ich verließ dies schöne Fest mit bewegtem Herzen – ich dachte an[161] die Heimkunft unserer deutschen Jünglinge aus dem »heiligen Kriege,« an den Volksjubel, an das Entzücken ihrer Eltern, Geschwister, Bräute, an ihr eigenes Entzücken, ihren Stolz, ihre Hoffnungen – und denselben Tag hatte ich in der Zeitung den Namen des verbannten Follenius gelesen. –

Die Leidener Studenten, die den andern Tag festlich in Leiden einzogen, begleitete ich mit dem Wunsche, den Gebrauch der Waffen nicht zu verlernen1.

Fußnoten

1 Bekanntlich machten sie bisher ihre Uneinigkeiten mit Stöcken aus.


Quelle:
Ludolf Wienbarg: Holland in den Jahren 1831 und 1832. Erster und Zweiter Theil, Hamburg 1833, S. 162.
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