Dritte Vorlesung.

[22] Indem ich dem deutschen Leben von gestern und heute denjenigen Charakter absprach, der überhaupt nur fähig wäre, sich zur Schönheit zu steigern und zu verklären, wies ich zugleich die Beschuldigung von mir, als ob ich unserer Nation überall Charakterbefähigung und daher Schönheitsbefähigung abzusprechen gedächte. Ich hielt Ihnen den Spiegel des deutschen Mittelalters vor, Sie sahen den nationalen Quell des deutschen Lebens eröffnet, in jugendlicher Freiheit dahinströmend, gewaltige und zugleich schöne Unternehmungen, starke und zugleich kunstreich gebildete Menschen, Künste, die der Reichtum ernährt, kunstreiche Kirchen und öffentliche Gebäude, Ernst im Schaffen, Lust im Spiel, Kriegsübungen, weidliche Ritter, tapfere Bürger, welche das Schwert zu führen verstanden, keusche Weiber, die in Anmut, Zucht und Unschuld aufblühten und daher nach allem auch eine Poesie, welche der Widerschein dieses Lebens war und in der sich alle Strahlen sammelten, die romantische Poesie des Mittelalters.[23]

Mußte nun dies Spiegelbild viel Anziehendes für unsere Phantasie haben, die in der Gegenwart aus Mangel an Nahrung zu verschmachten droht, ja, lag uns die Frage nahe, ob es nicht eben diese romantische Schönheit des Mittelalters sei, dessen Wiederbelebung der Zeit und dem deutschen Volke not tue, so ließen wir uns doch nicht darauf ein, diese Frage eher zu beantworten, als bis eine andere aufgeworfen und beantwortet wäre, nämlich die: trägt die romantische Schönheit des Mittelalters auch in der Tat den Stempel der schönen Humanität an sich, der uns als Ideal vorschwebt, war sie lautre Natur, frei von Künstelei und Überspannung, war sie dem deutschen Geiste so eigentümlich, daß keine spätere Zeit ihre Kraft entfalten kann, ohne sich in diese Form zu schmiegen, muß die neue schönere Zeit, die heranzieht, die als Samenkorn in tausend und aber tausend deutschen Herzen verschlossen liegt, um an irgend einem Frühlingsmorgen neuerwacht ins Leben zu blühen, muß sie haben Barone, Ritter, Knechte, Dome, Pfaffen, galanten Frauendienst, Minnegesang und alle jene Denk- und Lebensformen, wodurch sich das Mittelalter auszeichnete. Und da glaubten wir mit nein antworten zu müssen, und ich denke, alles was jung ist in Deutschland steht auf unserer Seite und lebt der frohen Hoffnung, daß auch ohne Verjüngung mittelaltriger Formen eine Wiedergebärung der Nation, eine poetische Umgestaltung des Lebens, eine Ergießung des heiligen Geistes, eine freie, natürliche, zwanglose Entfaltung alles Göttlichen und Menschlichen in uns möglich sei.[24]

Das Mittelalter hat sich überlebt, sein Geist ist ein Schatten der Geschichte, der auf verwitterten Ruinen einherwandelt. Poesie mag ihn beschwören, mag ihn in romantischem Mondlicht unserm Auge vorüberführen, der helle Tag sieht und kennt ihn nicht mehr. Schon zur Zeit der Reformation gehörte er zu den Abgeschiedenen, die Erfindung des Pulvers, der erste Kanonenschuß, die Entdeckung der griechischen und lateinischen Klassiker, die Endeckung von Amerika hatten ihn in Europa, und hauptsächlich in Deutschland allmählich geschwächt und vernichtet, als Luther auftrat und durch den Erfolg seiner kühnen Worte und Unternehmungen dartat, daß seine älteste Burg und sein festestes Prachtgebäude, die Kirche, nur sein eignes Mausoleum sei.

Meine Herren, man hat es unserm Luther verdacht, und ich kann große Männer dafür anführen, daß er beim Werk der Reformation so wenig auf der einmal gegebenen historischen Basis fortbaute, daß er der Kirche, welche er stiftete, so wenig aus der Nachlassenschaft der alten zertrümmerten aneignete, daß er das ehrwürdige Erbe der Väter zu unbedenklich preisgegeben, die Tradition verworfen, die Zeremonien und Äußerlichkeiten verachtet habe; allein dieser Vorwurf beruht auf Mißverständnis sowohl der Reformation, als überhaupt der geschichtlichen Fortbildung der Menschheit, wie sie uns eben in der Geschichte selbst zutage liegt, wenn wir unsere Augen nicht durch willkürliche Vorurteile blenden. Die Reformatoren waren begreiflicherweise keine Anhänger der historischen[25] Schule, welche gerade in unserer Zeit so viele Häupter und Verfechter findet und deren Prinzip der allmählichen, schrittweisen Entwicklung des Positiven, des Staats, des Rechts usw. zu kleinlichen und engherzigen Ansichten und Irrtümern Veranlassung gibt. Hätte Luther das traditionelle Prinzip zugegeben, so hätte er es nicht wagen dürfen, auch nur einen Stein an Sankt Peter zu rühren, dazu hatte das Gebäude der alten Kirche viel zu viel Konsequenz, als daß ein Einzelner hätte mit Einzelnem willkürlich schalten und walten dürfen. Luther, der schwach anfing, ward durch innere Notwendigkeit auf seinem Wege immer weiter fortgetrieben und sah sich am Ziel seiner Laufbahn durch eine unübersteigliche Kluft von der Kirche des Mittelalters getrennt, nicht etwa, als hätte er ein positiv Lebendiges dem positiv Toten gegenübergestellt – denn was Luther aus der Bibel und der frühsten christlichen Zeit dogmatisch Positives zum Behuf seiner Kirche aufzustellen sich veranlaßt fand, war in ihm selbst allerdings mit gewaltsamen und großartigen Zügen ausgeprägt, zeigte sich aber bald in versteinertem Zustande der Orthodoxie und ohne jugendliche Zeugungskraft – sondern weil er gegen die Unvernunft und gegen die Historie protestierte und Papst, Religion und Kirche seinen lutherischen Kopf entgegensetzte, der denn auch so fest, eisern war, daß er unbeschadet an ihrem Fels anrennen konnte.

Dies Protestieren gegen die Historie, meine Herren, das ist die große Erbschaft, die Luther uns[26] überwacht hat, und wollte Gott, seine Kraft und sein Geist senkte sich auf uns nieder und wir wären imstande, das begonnene Werk der Reformation nach allen Seiten hin würdig zu vollenden. So wie aber die Reformation einseitig stehengeblieben ist, so wie dieselbe sich in aller Hast vermählt hat mit der Einseitigkeit des Verstandes, mit der Prosa des Lebens, hängt die schöne Frucht leider saftlos und traurig am dürren Ast und sehnt sich abzufallen und einer neuen Blüte Platz zu machen. Wehmut ergreift mich, sehe ich den Lorbeerbaum von tausend Wucherpflanzen umschnürt, seiner besten Säfte und Kräfte durch Schmarotzer beraubt, fröstelnd in kalter Luft, absterbend in fremdem Boden, ohne einen Fuß breit vaterländische Erde, im Treibhaus der Unnatur, statt frei und offen dazustehen in Gottes schöner Welt, seine Wurzel befruchtet durch die uralten Quellen der Poesie, seine Blätter dem Säuseln der Liebe und dem Sturm der Leidenschaften preisgegeben, seine Krone dem Himmel, dem Frieden, der Sehnsucht und den Segnungen der himmlischen Sonne, Religion.

Wie sich aber unser nationales Leben in Zukunft gestalten und entfalten wird, soviel scheint gewiß zu sein, daß die Hoffnung der Zukunft einerseits beruhe auf der Jugend, andererseits auf der Wahl desselben Weges, auf dem Luther den ersten Riesenschritt machte und auf dem ihm die Pygmäen der Folgezeit in Stich gelassen haben. Ich meine auf dem Wege des Protestierens, des Protestierens gegen alle Unnatur und Willkür,[27] gegen den Druck des freien Menschengeistes, gegen totes und hohles Formelwesen, Protestieren wider die Ertötung des jugendlichen Geistes auf unsern Schulen, wider das handwerksmäßige Treiben der Wissenschaften auf unsern Universitäten, Protestieren wider den Beamtenschlendrian im Leben, wider die Duldung des Schlechten, weil es herkömmlich und historisch begründet, wider die Reste der Feudalität, wider die ganze feudal-historische Schule, die uns bei lebendigem Leibe aus Kreuz der Geschichte nageln will, und vor allen Dingen protestieren gegen den Geist der Lüge, der tausend Zungen spricht und sich mit tausend Redensarten und Wendungen eingeschlichen hat in alle unsere menschlichen und bürgerlichen Verhältnisse.

Es ist eben zu dieser Zeit, wo der Geist aus veralteten Formen gänzlich herausgewichen ist, die Historie selber zur Lüge geworden und die Behauptung, es müsse sich das Neue aus dem Alten, das tot und abgetan ist, allmählich fortentwickeln, ist eben die abgeschmackteste Lüge, womit der Anbruch des Neuen zurückgehalten werden soll. Es ist wahr, es liegt im Gange der Menschheit, sich in der Dauer gewisser Epochen am Positiven weiterzubilden; allein nicht weniger wahr ist es, daß mit dem Schlusse dieser Epochen die geistige Entwicklung völlig aufhört – das Positive verfault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Brust der Menschheit fallen, zur neuen Entwicklung von Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit haben, um zu blühen, zu wachsen, zu welken und zu vergehen. Betrachte ich die geistige und leibliche[28] Lebendigkeit jugendlicher Völker, z.B. einst der Griechen und unsers eigenen Volks, und vergleiche diese mit den europäischen der Gegenwart, so sehne ich mich unter jenen geschichtlosen Menschen zu leben, die nichts hinter sich sehen, als ihre eigenen Fußstapfen und nichts vor sich als Raum, freien Spielraum für ihre Kraft. Die Menschheit, sagen freilich die feudalen Historiker, ist nicht so übel daran, immerfort bildet und beseelt sie das Alte, den Teil, der sich nicht länger bilden und beseelen läßt, streift sie von sich ab und sie hat daher auf ihrem Wege nichts weiter zu tragen, als sich selbst. – Was nicht ist, bemerken andere, sollte wenigstens so sein: sukzessive Fortentwicklung ist das Gesetz des Lebens, jede Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu revidieren, durch Stehenlassen und Ausmerzen heute und gestern miteinander zu versöhnen. Aber, frage ich, wer schreibt denn die Gesetze des Lebens, Ihr oder die Geschichte. Seht Ihr nicht, daß den fortlaufenden Generationen sich von selbst und trotz aller Gegenmühe spanische Stiefel an die Füße hängen, daß die Ausdünstungen des Lebens sich nach und nach am Busen der Völker versteinern, sich als Krusten um ihre Brust setzen und ihnen das Atemholen schwer machen, daß es für die Völker keine Wohltat, sondern Plage ist, Tausende von Jahren hinter sich her am Schlepptau zu ziehen? Alle Ursagen der Völker bestätigen uns, daß selbst die früheste, schöpfungsjunge Menschheit sich bald, sehr bald ausgelebt und gleichsam abgenutzt habe; bildet es doch ein Hauptstück in den hebräischen, indischen, griechischen Sagen, daß[29] Sündfluten das früh gealterte, seiner eigenen Geschichte verfallene Geschlecht der Menschen wegraffen und vom Erdboden vertilgen? Muß nicht eine neue Jugend die Erde bevölkern, wenn die Elohim, die Götter den Anblick der erbärmlichen sündigen und ausgearteten Söhne des Staubes nicht länger ertragen können? Und in der Geschichte – man werfe nur einen Blick auf die Römer und Griechen zur Zeit des Heilandes: Was hatte die frühere Götter- und Heroenwelt, die Zeit der Aristide und der Katonen ihnen zum Erbteil überlassen? Ihren Leichengeruch. Und dieses weltverjüngende Christentum, das nicht neuen Most in alte Schläuche füllte, dieses Christentum in den Tagen vor Luther? Ausgearteter, als das Judentum je gewesen. Statt Kinder Gottes, wie die Christen sein sollten, nicht einmal Knechte Gottes, was die Juden waren, Knechte des Papstes, der Pfaffen, der Tradition, der Geschichte, die ihren Abfall und Kehricht den Menschen turmhoch auf die Seele geschichtet hatte. Die Anwendung auf unsere Zeit überlasse ich Ihnen selbst. Wir sind krank an unserer Historie und wir werden vielleicht darüber hinsterben, ehe wir uns den Mut fassen, den unheilbaren Sitz unserer Krankheit einzusehen, und uns dem wunderbaren Genius anvertrauen, der verjüngend durch die Welt schreitet. Jedoch steht dem Trübsinnigen, das in dieser Ansicht für uns liegt, der Spruch der Hoffnung gegenüber, daß ein Augenblick alles umgestalten kann, so im Schicksal des einzelnen, als im Schicksal der Völker und Nationen. Was aber der Jugend, als dem[30] Element im Staat, das die neue Geschichte bildet, jedenfalls obliegt, ist der feste Vorsatz, nach Kräften den bezeichneten Weg einzuschlagen, ist der feste Wille, sich immer entschiedener von der Lüge loszusagen, immer deutlicher sich des Gegensatzes zwischen dem Alten und Neuen bewußt zu werden, jung und jugendlich zu leben, das Handwerk fahren zu lassen und die Kunst zu ergreifen, das Unschöne in Wort und Tat an sich und andern nicht zu dulden, ihr Ohr dem Wehen des nahen Geistes nicht zu schließen und, weder gedankenlos und leichtfertig dahinlebend, noch schwermütig brütend, die Blüten des Lebens und der Wissenschaft mit jugendlicher Unschuld und Heiterkeit zu pflücken.

Es muß anders werden, das sollte das Gefühl sein, das sich aller bemächtigte, wir selbst sind dazu berufen, das starke Echo dieses Gefühls. Wieviel dürre Blätter wir dazu aus dem Kranze unseres Lebens herausreißen müssen, wieviel Unschönes wir von uns abtun, wieviel gemeine Prosa wir für ewig in den Schlamm und Schlick der abgestandenen Zeit versenken müssen, welche neue Ansichten der Wissenschaft, der Kunst, der Poesie, der Religion, des Staats, des Lebens wir fassen And zum Eigentum unseres Herzens machen müssen, dies alles muß uns oft und lebhaft beschäftigen und das Befreundete muß sich verbinden mit dem Befreundeten, um sich gegenseitig auszutauschen und zu befestigen.

Jetzt, darauf komme ich zurück, jetzt liegt alles noch, Ansicht, Gefühl, und gar das Leben und Treiben gar zu sehr in roher Unbildung, in[31] Verwirrung, Uneinigkeit und Zwist, und es hält schwer, wenn nicht unmöglich, für den einzelnen, sich leicht und rein hinzustellen und sich aus dem trüben unästhetischen Fahrwasser gemeiner Ansichten immer glücklich herauszuziehen. Schon habe ich mit wenig Worten unserer Schulen, Akademien und Brotstudien als solcher Erwähnung getan, die im schneidendsten Kontraste ständen mit individueller und volkstümlicher Bildung, der Grundbedingung charakteristischer Schönheit und ihres Verstehens und Auffassens. Doch unterliegen nicht geringerem Tadel unsere Ansichten und Studien jener allgemeineren Wissenschaften, welche den Schlußstein unserer höheren Geistesbildung ausmachen sollten, und ich will darunter nur die der Philosophie und der Geschichte mit Namen aufführen, vom Studium und der wissenschaftlichen Aneignung der Religion aber gänzlich schweigen.

Beginnen wir von der Geschichte. Welche unleidliche, leblose Ansicht machen wir uns über dieselbe. Überall, wo wir zurückgehen auf die frühesten Zeiten eines Volkes, ist es leicht zu merken, wie Poesie und Historie ungetrennt von einem Gemüt aufbewahrt und von einem begeisterten Munde verkündet wurde. Beide vereinigen sich darin, das Leben mit allen seinen Äußerungen aufzufassen und darzustellen. Erst eine spätere gelehrte Ansicht mußte sie trennen, welche die Historie auf kritische Wahrheit beschränkt, die epische Poesie aber dem Dichter überläßt. Allein die kritische Wahrheit hat an sich gar keinen Wert, sondern erhält ihn nur in Verbindung mit poetischer;[32] nicht irgendeine äußere Tatsache wollen wir wissen, sondern ihren Zusammenhang mit dem Leben. Was will man von der Geschichte anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche sie darstellt, und muß nicht also unsere jetzige kritische Historie wieder, wenn auch auf einem andern Wege, eins werden mit der Poesie, mit dem Epos der Völker? Denken Sie an das beste Geschichtswerk der neuern Zeit, an unsers Niebuhrs römische Geschichte. Ist nicht eine contradictio in adjecto in diesem Titel, kann jemals durch gelehrte Forschungen etwas, was einmal nicht Geschichte war und ist, zur Geschichte erhoben werden? Lassen Sie uns doch einen Augenblick bedenken, was es heißt: Roms Geschichte soll vor unsern Augen entstehen, sich fortspinnen, mannigfach verknüpfen, in immer größeren Radien anschießen bis zur Vollendung des äußersten und zur gewaltsamen Durchlöcherung und Zerfetzung des ganzen Weltspinnengewebes durch die furchtbaren Stürme des Nordens.

Die ersten Fäden aller Völkergeschichten verlaufen sich in den Morgenhimmel des Mythus, Götter spinnen sie aus ihrem Busen, sie fliegen wie verklärte Genien in einem losen, lieblichen Durcheinander und man sieht es kaum, wo sie ihren leichten Fuß auf den glatten Boden der Geschichte setzen. Dichter und Künstler sind darüber leicht zu trösten; allein Geschichtsforscher und Mythologen wandern verzweifelnd in der poetischen Götterdämmerung umher, vielfach geneckt von den rätselhaften verzauberten Gestalten, die nicht selten mit schelmischer Ironie sich gerade vor sie[33] hinstellen, sich geduldig entkleiden, befühlen und betasten lassen, und dann auf einmal wie der Wind aus ihren Händen entschlüpfen. Doch läßt man sich auf die Länge nicht abschrecken. Man macht sich an das Geschäft, die flüchtigen Wesen, so gut es gehen will, zu klassifizieren, die einen nennt man religiöse, die andern naturhistorische, die dritten völkerhistorische Mythen, die widerspenstigsten Schwärmer läßt man laufen, hartnäckig widerstrebende bringt man auf die Folter und von da zum Geständnis, oder man bindet ihnen so triftige Argumente und eine so schwerfällige Gelehrsamkeit aus Bein, daß sie sich seufzend und abgemattet in ihr Geschick begeben.

Sie wissen, meine Herren, auch die römische Urgeschichte verläuft sich in Götter- und Heroendunkel. Bewunderungswürdig ist es zu sehen, mit welchem Mut, welcher Ausdauer, welcher Vor- und Umsicht unser Niebuhr dies dunkle Gebiet durchirrt hat, mit wie scharfen, unverwandten Blicken er die kümmerlichen Spuren verfolgt hat, die vor den Stadttoren Roms an die Ursitze der italischen Volksstämme leiten, Spuren, die unaufhörlich kreuz und quer von Göttertritten und Schweinepfoten, griechischen Flüchtlingen und säugenden Wölfinnen Heroen und Banditen verwirrt und verwischt werden. Ohne Glauben kommt man ihm nicht nach. Seine Schüler schlagen ein Kreuz, fassen ihn getrost beim Rockzipfel und gehen mit ihm durch dick und dünn, was freilich am Ende nichts schadet, da die Leitung eines ausgezeichneten Mannes, selbst in die Irre, immer belehrend[34] und fruchtreich ist. Allein wir fragen nur, ist das der Weg zur Geschichte, kann selbst in späteren, sogenannten hellen und historischen Zeiten etwas zur Geschichte erhoben werden, was nicht im Ursprung Geschichte war? Dürfen altertümliche Forschungen, wären sie noch so geistreich und scharfsinnig, den großen Namen »Geschichte« an der Stirn führen? Nein, meine Herren, das dürfen sie nicht. Geschichte ist nicht das Resultat gelehrter Forschungen, sie springt nackt und schön wie Aphrodite aus dem Schaum der Wellen, wie Minerva in unmittelbarer Vollendung aus dem Haupte der kreisenden Zeit.

Nehmen Sie an, man könnte es in einer nachträglichen Geschichte zu einer gewissen äußerlichen, ich möchte sagen peinlichen, dem Verhör von hundert durcheinandersprechenden Zeugen abgewitzigten Wahrheit bringen, was wäre diese? Ein totes Residuum von Kräften, die, längst im großen Weltenraum zerstoben und verflogen, kein Zauberspruch zurückbeschwört, Muschel, kalkene Schale auf den Gebirgen, die nur schwache, unsichere Spuren ehemaliger Beseelung erlugen läßt. Aber die Seele? die innere Wahrheit?

Wahrheit, seliger Reinhold, was ist Wahrheit? Ich fühle es, was ich geschichtliche Wahrheit nenne, hat für mich etwas Unmittelbares und Zuversichtliches, etwas, was allen kleinlichen Zweifel niederschlägt, was meinen Geist mit süßem Verständnis in seine Kreise zieht. Ich höre das Fernste aus fernen Zeiten und verstehe es sonder Mühe; ich sehe die wunderbarsten Gestalten und[35] Erscheinungen an mir vorüberziehen und bin mit ihnen vertraut, wie mit alten Bekannten und kann mir ihre Wirklichkeit nicht anders denken, als wie sie mir eben erscheint. Denn so kristallisch klar steht, die Tat, der geschichtliche Heldenleib vor meinen Augen da, daß ich die innerste Seele, die alles belebt und bewegt, die zartesten Adern, die feinsten Gefäße, den ganzen lebendigen Organismus hell und offen vor mir liegen sehe. Ist das nun, wie ichs besser fühle als aussprechen kann, hervorstechender Charakterzug der Geschichte, so sind mir Homers göttliche Gesänge tausendmal geschichtlicher, als die assyrische, ägyptische, persische Historie, ja, Homers Achilles hat in meinen Augen mehr Fleisch und Bein, als Cyrus und der große Alexander. Alexander – welche Verkehrtheit, von einer Geschichte Alexanders zu sprechen. Wissen wir nicht, daß es der einzige große Schmerz des Welteroberers war, keinen würdigen Geschichtschreiber, keinen Homer zu besitzen? Dessenungeachtet haben wir eine Geschichte von ihm? Was man unter Gevattern Geschichte nennt, in der Tat aber so wenig eine, so sehr keine, daß man heutigentags nicht weiß, soll man ihn einen jungen Gott oder einen wahnsinnigen Melech nennen. Wer zeichnet uns das lebendige Alexandergesicht? Plutarch von Chäronea, Quintus Curtius, Schlosser von Heidelberg, oder die allgemeine Welthistorie, so in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten usw. – o über den armen großen Alexander!

Geschichtliche Wahrheit ist lebendige Harmonie zwischen Leib und Seele der Geschichte, zwischen[36] Gedanke und Tat. Wie in Tönen die Seele des Musikers atmet, so atmet die Seele des Helden in der Tat. Den wahren Geschichtschreiber muß das Spiel der Harmonien in unmittelbarer Gegenwärtigkeit ergreifen, im historischen Konzertsaal, unter den schwellenden Tönen, den ringenden, jauchzenden Menschen, da fesselt er mit unnachahmlichem Zauber das Unsichtbare an das Sichtbare, den Geist an die Erscheinung, den Sinn an die Tat. Geschichtliche Wahrheit – mich überfällt ein Grauen, denke ich an den Totentanz, den man Geschichte nennt – geschichtliche Wahrheit, ist sie nicht das Leben, selbst gelebt und angeschaut von einem Genius, schwebend auf den Flügeln seiner Zeit, in ihre Ströme seine Feder senkend, wie ein begeisterter Apostel niederschreibend, was der zur Tat gewordene, der Fleisch gewordene Geist der Zeiten ihm diktiert? Wer schrieb Geschichte, die solches Namens würdig war? Sind es nicht Männer, die gleich Thukydides, Macchiavelli, Segür, der Zeit im Schöße saßen? Geschichte wird einmal nicht geschrieben, sie schreibt sich selber, sie wählt einen ihrer Lieblinge unter den Sterblichen zur Verzeichnung ihrer großen Tatengedanken. Wir haben keine Geschichte Roms, Griechenlands, Italiens, Frankreichs, wir haben keine Weltgeschichte im gewöhnlichen Sinn und Stil, aber die echte Blume der Geschichte, die blühendste Entfaltung der Völkerkraft, blüht und duftet durch alle Jahrhunderte, wenn auch das Volk, dem sie angehört, längst erstarrt, abgestorben, zerstreut oder ausgeartet ist. So haben wir eine[37] Geschichte der Griechen unter Miltiades und Perikles, eine Geschichte der Römer während der Karthagerkriege, eine Geschichte der lombardischen Städte, als Freiheit sie begeisterte, eine Geschichte Frankreichs unter dem siegreichen Kaiser, eine Geschichte Deutschlands – welche die Zukunft geschehen lassen und dann auch schreiben wird. In der Geschichte, hat man gesagt, gibt es großartige Epopöen; allein ich kenne keine andere Geschichte, als die sich von selbst zur großartigen epischen Dichtung gestaltet, Verherrlichung eines Volkes, das sich selbst verherrlicht hat. Traum und Phantasieleben, vegetatives Fortwuchern, Krankengeschichten gehören nicht ins goldene Buch des Lebens. So hat Tazitus, der über die unnatürlichen Krämpfe der römischen Kaiser und die fallende Sucht ihrer Untertanen schrieb, nur einen ärztlichen Bericht, aber keine Geschichte geschrieben. Das Gemälde eines Pesthofes, wo das gelbe Fieber auf hundert verzerrten Gesichtern brennt, ist kein Gemälde, kein Kunstwerk, – und Geschichte, sie ist Kunst, Kunst auf ihrem höchsten Gipfel.

Ich schließe, meine Herren. Möchte Ihnen diese Diatribe über den wahren, ästhetischen Begriff der Geschichte, über ein so wichtiges Studium die Augen öffnen.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 22-38.
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