XV

Anna Schubart-Heyse. Hornsteins. Hornstein-Heyse-Fest. Wilhelm Hertz. Die Verlobten. Das Münschener Hoftheater; Baron Perfall. Erster Novellenband. Bernhard und Else Kugler. Der Kreig 1870 und das Deutsche Reich. Übersiedelung nach Wien. Rückblick

[207] »Hier wird gefreit und anderswo begraben«; in demselben Juni 1867, in dem mein Vater zur Ruhe ging, führte Paul Heyse ein schönes, junges Münchener Kind, Anna Schubart, als zweite Frau in sein Haus. Nach vierjährigem Witwertum, das von tiefer Trauer um sein verlorenes reiches Eheglück erfüllt war, hatte ihn eine neue, große Liebe wie im Sturm ergriffen; er war eben für seine siebenunddreißig Jahre noch so überjung, wie er es dreißig, vierzig Jahre später für sein »Greisenalter« war und ist. Der Sturm hatte aber das Rechte getan; Frau Anna, trotz ihrer Jugend seinen Kindern von Anbeginn eine gute und geliebte Mutter, ward ihm die richtige, treueste, beglückendste Gefährtin für den langen Weg.

Das Zusammenleben des »Vierblatis« war nun aus, Frau Klara, Hans und ich schlossen uns zu einer »Truppe« zusammen; wir blieben aber in demselben Haus, zu ebener Erde. Es war nun ganz ein Künstlerhaus:[207] unten wir, im zweiten Stock Heyses, im ersten Hornsteins, die Besitzer; alle in guter Freundschaft vereint. Der Freiherr von Hornstein (der Vater von Lenbachs zweiter Frau) war ein interessant wunderlich humorvoller Kopf, in dem sich allerlei Kobolde tummelten, aber auch zarte musikalische Genien ihre lieblich tönenden Flügel schwangen; besonders viele beseelte Lieder hat er komponiert und zu Shakespeares »Wie es euch gefällt« und andern Dichtungen reizende Musik gemacht. Seine schöne Frau, eine Rheinfrankin, hab' ich oft als heitere »Lebensvirtuosin« gepriesen; sie war die liebenswürdige Wirtin einer aus allen Künsten gemischten, geist- und temperamentvollen Geselligkeit. Unvergeßlich ist mir ein Abend oder eine Nacht, zu der sich Hornsteins und Heyses zusammengetan und ihre Stockwerke gleichsam vereinigt hatten: ein Maskenfest, so poetisch, wie ich je eins gesehn. Es war der allgemeine Ehrgeiz geweckt, diesem Fest Geist und Gehalt zu geben; sei es durch die Maske, durch lebendigen Humor oder durch gereimte und ungereimte Dichtung. Ich kam, frech genug, als Ritter Blaubart und hielt eine Rede, in der ich mein »konzessioniertes Heiratsbureau« den Junggesellen anpries. So mancher ehrliche Mann werde durch die Lebenslänglichkeit der Ehe abgeschreckt; mein Bureau vermittele Heiraten nach einer neuen und bewährten Methode: rascher Stoffwechsel; Garantie für nur zweijährige Dauer. Es habe die glänzendsten Erfolge aufzuweisen: »gar mancher Junggeselle, der schon am Rande der Verzweiflung und des Köchinnenpantoffels gestanden, ist jetzt glücklicher Gatte seiner dritten Frau und Vater[208] von vier herzigen Halbgeschwistern. Mehrere unserer geehrten Geschäftsfreunde sind bereits bei der achten glücklichen Ehe angelangt und befinden sich dabei so wohl, daß sie noch die zwanzigste zu erleben hoffen«. Von so wilden oder auch sanfteren Humoren schwirrte viel herum; unvergleichlich und entzückend war aber ein Gespräch in gereimten Versen, das unser junge Poet Wilhelm Hertz und der viel ältere, aber noch behaglich sinnig mitlebende Melchior Meyr, der Verfasser der »Erzählungen aus dem Ries«, miteinander verabredet und gedichtet hatten. Als alles beim festlichen Mahl an den langen Tafeln saß, hatten Hertz und Meyr sich einander gegenübergesetzt; beide in altgriechischer Tracht, beide außerordentlich charaktervoll lebendig, Hertz als der heitere, lebenbejahende Philosoph, Meyer als der verneinende, stoische, sich kasteiende. Das Bezaubernde an der Sache war, daß sie beide bewußt, und doch dichterisch darüberstehend, sich selber spielten, daß der junge Schwab Wilhelm Hertz von Saft, Kraft und Lebenswillen strotzte, der früh gealterte Franke Melchior Meyr mager und hager, sein und kränklich war und von den Resten eines schwachlebigen Idealismus zehrte. Er hatte aber doch Feuer, Grazie und Humor genug, um seine Sache ebenso beredt zu führen wie sein kampffreudiger Gegner; und man konnte keine schönere Komödie sehn, als wie nun beim Mahl, wie von ungefähr, ihr Gespräch begann, sich zum Streit erhöhte, die Angriffe wie schöngeschnitzte Pfeile herüber und hinüber flogen, die Beleidigungen immer gröber, witziger, belustigender wurden; alles so wohlgeformt, daß es das reinste Genießen[209] blieb. Sie spielten beide täuschend gut, als werde jeder dieser Verse vom Augenblick geboren. Es ward denn auch ein stürmischer Ausbruch verwunderter Bewunderung, als der letzte Reim verklang.

Melchior Meyr überlebte diesen Ehrenabend (den 9. Januar 1869) nur um ein paar Jahre, er starb im April 1871. Wilhelm Hertz ward bald nach diesem Maskenfest außerordentlicher, neun Jahre später ordentlicher Professor der deutschen Sprache und Literatur an der technischen Hochschule zu München; dort hat er sein Leben schön und reich gelebt, als Dichter, Forscher, Nach- und Umbildner germanischer und romanischer Dichtungen gleich geschätzt und wert. Er war ein Mensch, den man liebhaben mußte; bis in den Kern gesund, wahr und frisch, seinem Lebenssinn mit Behagen und mit Heroismus getreu, von Humor wie von Poesie durchwärmt.

Ich hatte mittlerweile, den großen Aufgaben noch ausweichend, mein schon in Rom entworfenes Blücherdrama »Die Deutschen in Frankreich« (später »Frieden im Krieg«) 1866 und 1867 geschrieben, dann die ersten Novellen: Heimat, Reseda, die Verschollenen mit neu gewonnenen Kräften vollendet. Ich kehrte zur Bühne zurück und schrieb das zweiaktige Lustspiel »Die Verlobten«; nach einem eigenen Erlebnis, das mir Geibel erzählt hatte: eine plötzliche Ballverlobung, die schon am nächsten Morgen gütlich fröhlich gelöst wurde, warf ich meine Komödie jugendlich übermütig und unreif hin. Sie ward im Wiener Burgtheater angenommen, blieb dann aber ungespielt; im Münchener Hoftheater kam sie (1868) auf die Bretter:[210] mein Bühnenleben begann. Um mich bei dieser ersten Aufführung des dummen Lampenfiebers zu erwehren, das ein so unwürdig nutzloser Kraft- und Zeitraub ist, schrieb ich nachmittags an einem neuen Stück, »Die Vermäluten«, bis die Zeit herankam, zum Theater zu gehn. Ich ging mit Frau Klara und Hans, in heiterem Gespräch; ich setzte mich in die Loge des Intendanten, der mich eingeladen hatte, und fühlte mich noch immer gefeit. Erst als ich den Vorhang emporrauschen hörte, schlug mir plötlich ein Hammer auf die Brust... Nun war aber die Kugel aus dem Lauf, die Darsteller hatten das Wort, und ich blieb mein mit Maß erregter Zuschauer bis zum guten Ende.

Das Ende war gut, der Erfolg war freundlich, weil Frau Dahn-Hausmann die Hauptrolle der Meta mit ihrer reisen Kunst und ihrer erstaunlich langatmigen Jugend entzückend gespielt hatte; hier hieß es mit Recht: sie trug das Stück. Ich kannte sie und ihren Gatten, der ein geringerer Schauspieler, aber ein liebenswürdiger Mensch war, schon lange: aus der fernen Zeit, wo ich als blutjunger Theaterreferent der Süddeutschen Zeitung die kritische Feder schwang. Nun war ich selbst »der Sünde bloß«! – Doch als von Herzen dankbarer Sünder lud ich die holde Meta und ihren Mann zu uns ein, Frau Klara und Hans feierten sie mit mir; und zum ersten Mal sattelte ich das Musenroß zum Dichterdank:


Daß aller Anfang schwer sei, sagt das Sprichwort;

Wahr ist's! Ich hab's an jenem Stück erprobt,

Drin, auf ein allzu flatterhaftes Stichwort,

Ein gutes Mädchen sträflich sich verlobt.[211]

Was hilft's! Ich reiß' es nicht, es reißet mich fort,

Zur heil'gen Bühne hab' ich mich »verlobt«,

Und ohne unvorhergeseh'ne Hemmung

Droht Deutschland eine Dramenüberschwemmung.


Leichtfertig, wißt ihr alle, ist die Jugend

Und baut auf ihr geheimnisvolles Glück!

Und nach dem fernen Ideale suchend,

Lebendig sah es der erstaunte Blick:

Ein Mädchenbild voll reifster Künstlertugend,

Auf starken Armen trug's das leichte Stück,

Und über manche Hemmung, die ich wüßte,

Trug sie es spielend an des Beifalls Küste.


Doch wozu länger metaphorisch reden!

Ein jeder weiß, daß man von Meta spricht.

Noch jung und hold zu sein, wohl reizt es jeden:

Die meta-physischen Mittel hat er nicht;

Nicht diese lichten, goldnen Zauberfäden,

Mit denen ew'ge Jugend uns umflicht,

Nicht diese rätselhafte, schrankenlose,

Zum Backfisch werdende Meta-Morphose!


Es lebe Meta, bis die Zeit verdorrt,

Uns immerdar zu rühren, zu ergötzen!

Es leb' ihr Metus auch – dies schnöde Wort,

Nicht fürchtet es, den Edlen zu verletzen –

Und als Metusalem noch blüh' er fort!

Und um das arme Wort nicht tot zu hetzen:

Zur Zeit der Flocken wie zur Zeit der Rosen

Blüh' dieses Paar glorreicher Zeitenlosen!
[212]

Die hier angekündigte »Dramenüberschwemmung« trat ein: in demselben Jahr 1868 entstanden noch die Lustspiele »Die Vermählten«, »Unerreichbar«, »Die Lebensmüden«, im Jahr 1869 das Schauspiel »Der Graf von Hammerstein«, die Lustspiele »Durch die Zeitung« und »Jugendliebe«; 1870 neben den Lustspielen »Die Wahrheit lügt« und »Die Maler« endlich auch das erste Trauerspiel: »Gracchus der Volkstribun«. Es begann denn auch die Zeit der großen Erfolge, die sich über Deutschland und Österreich verbreiteten; was aber mein Schaffen vor allem förderte und spornte, war die außerordentlich herzliche Gastfreundschaft, die ich in unserm Münchener Hoftheater fand. Baron Karl von Perfall, der 1867 zur Leitung dieses Theaters berufen, dann wirklicher Intendant und zuletzt Generalintendant wurde, wandte meiner Produktion und mir sogleich seine freundschaftliche Neigung zu, die mir ohne jede Trübung bis ans Ende treu blieb. Die schöne Mischung von Kavalier und Künstler, die ihn so anmutig und erfrischend machte, machte ihn auch zu dem Muster eines Intendanten; bureaukratische Ungemütlichkeit war ihm völlig fremd, seine Denkart war so vornehm wie sein Geschmack, und die ihm anvertraute Bühne höher und höher zu heben war nicht nur sein Ehrgeiz, auch inneres Bedürfnis. Ihm versagte auch die nötige Tatkraft nicht; so setzte er es mit unermüdlicher Zähigkeit durch, das Stiefschwesterchen des großen Hoftheaters, das architektonisch reizvolle, aber vom Publikum gemiedene Residenztheater wieder zu Ehren zu bringen und zu dem zu machen, was es sein sollte und konnte: die schönste Ergänzung der oft[213] übergroßen Schwester für intimeres Schauspiel und Spieloper. Er scheute kein Opfer und keinen Verdruß, bis er seine Münchner ins Residenztheater hinein erzog. Sein eigenes Schaffen als Komponist, so fröhlich eifrig er es auch betrieb und so herzlich jeder Erfolg ihn freute, trat dem Intendanten nie in den Weg; er gab jedem Schaffenden gastfrei sein Recht, mochte er nun Verse oder Noten schreiben.

Jeder Intendant, auch der beste, braucht einen tüchtigen Direktor oder Oberregisseur; den hatte Baron Perfall zum Glück des Theaters und der Dichter in Jenke gefunden, einem seinen Kopf von großer Erfahrung und geschmackvollster Künstlerschaft; er spielte nach zuweilen mit. Auch mit Jenke war ich bald gut Freund; er half meine ersten Bühnenschritte leiten, war mit jedem gewünschten guten Rat zur Hand und tat, was er konnte, meine Erstlinge würdig und glücklich aus der Taufe zu heben. Die Darsteller blieben nicht zurück; ich habe von Anfang an auf den »heißen Brettern« fast nur gute Tage gehabt. Wer von den Schauspielern nicht Unmögliches verlangt, wer ihnen die notwendige Freiheit und Unbefangenheit läßt, wer ihren Humor mit Humor erwidert, der wird auf jeder besseren Bühne finden, daß mit ihnen zu leben ist. Von den älteren Mitgliedern waren mir besonders Dahn und seine Frau, Richter, Lang und Christen schätzenswert und angenehm; dazu kamen die jüngeren, Rüthling, Rohde, Häusser, Marie Meyer, die Ramlo und andere. Wohl als stärkstes Talent und bester Kopf war Possart hinzugetreten, der sich mir in meinen letzten Münchener Jahren besonders freundschaftlich anschloß;[214] bis eine Entfremdung zwischen uns eintrat, die aus innersten Ursachen kam und dadurch unüberwindlich ward.

Die liebenswürdigste Neuerung, die Freiherr von Perfall einführte, waren die festlichen Abende, an denen er und die Freifrau die ganze Künstlerschaft in ihren behaglichen Räumen versammelten; Schauspiel und Oper, auch der Ballettmeister und die erste Tänzerin fehlten nicht; desgleichen der Theaterdichter Adolf Wilbrandt nicht. Hier ward ich denn auch mit der Oper befreundet; mit Kindermann, dessen wunderhafter Bariton nach fünfunddreißig ohne jede Schonung und Vorsicht (sein Stolz) versungenen Jahren noch jung und schön war; mit dem Ehepaar Vogl, denen der Oberregisseur des Schauspiels, Jenke, auch Opernrollen höchst segensreich einstudierte; mit der Stehle, der Mallinger, der Deinet, die dann Possart heimführte. Es waren so heitere, urgemütliche Künstlerabende, wie ich sie selten erlebt habe; der Hausherr und die Hausfrau verbreiteten durch alle Räume die zwangloseste Stimmung süddeutscher Geselligkeit, und Tisch- und Festreden gaben eine Art von Weihe hinzu. Am ersten Abend hatte ich das Wort ergriffen, um meine Freude und Fröhlichkeit auszusprechen und die edlen Wirte nach Verdienst zu feiern; und um möglichst weit verstanden zu werden, da die Gesellschaft sich in verschiedene Säle verteilt hatte, war ich an den Pfosten einer offenen Tür getreten und redete von dort in die Welt hinein. Dieser Pfosten war von da an die Kanzel; wer einen Trinkspruch oder sonst eine Seelenstimmung von sich geben wollte, stellte sich dort in die Tür.[215]

Während ich so meine Flitterjahre mit dem Theater verlebte, blieb ich doch auch meinen andern Dichtertrieben getreu; ich fuhr fort, Novellen zu schreiben, darunter die Jugendgeschichte meiner Großmutter Annette, »Die Brüder«, und Anfang 1869 erschien der erste Novellenband. Er war meiner geliebten Pflegerin Frau Klara gewidmet, die das noch öfter wiedergekehrte Elend der rückfälligen Nerven mit holdester Geduld mitgetragen hatte; in ihr Widmungsexemplar schrieb ich ihr hinein:


Die Du seine Geister täglich,

Holde Freundin, stärken mußt;

Die Du littest, als er kläglich

Litt in des Erschaffens Luft:

Vieles ruht ihm noch unsäglich,

Ungesprochen in der Brust;

Nimm vom kaum erwachten Lenze

Diesen ersten seiner Kränze!


Mit Sorge und Schmerz gemischte Freude hatte Frau Klara auch an dem Treiben ihres geliebten Benjamin Hans, der in diesen Jahren als Maler große Schritte machte, aber immer wieder durch sein Martyrium gehemmt und angenagelt stehen blieb; einen ungetrübten Trost brachte ihr jetzt der ältere Sohn, Bernhard, ins Haus. Er hatte sich 1862 in Tübingen als Privatdozent der Geschichte angesiedelt; nach und nach ward er dort Lehrer eines württembergschen Prinzen, außerordentlicher Professor, endlich ordentlicher; auch noch ein »Lehrauftrag«, ich weiß nicht mehr was für einer, hatte ihn beschäftigt. Mit der[216] »Liebe«, die wir ihm wünschten, wollte es aber lange nicht werden; gegen diesen Zauber schien er wie Siegfried gehärtet oder sonst gepanzert zu sein. Weihnachten 1866 – als er uns wieder einmal besuchte – hatte ich ihm ernstlich mit Amors Rache gedroht, hatte den kleinen Unhold tüchtig über ihn lachen lassen:


Ha ha ha!

Ha ha ha!


Junge Knaben, alte Knaben,

Oberbayern, Unterschwaben,

Bücherwürmer, Schornsteinkehrer,

Mädchenräuber, Prinzenlehrer,

Stubenhocker, Weltumsegler,

Ordinarien, Lehraufträgler,

Bernhards, Hänse, Weise, Toren,

Halbvollzogne Professoren,

Alle fängt der kleine Gott!


Warte, dicker Lächler, warte!

Du, bis heut der Ungeschmarrte,

Wirst noch einst zum Kinderspott!

Deines Herzens Kammern kehren

Und auch dich Amores lehren

Wird der kleine, große Gott!


Ha ha ha!

Ha ha ha!


Wenn man so einer Weissagung nur Zeit läßt, geht sie doch einmal in Erfüllung. Bernhard hatte uns in demselben Jahr eine liebenswürdige rheinfränkische Familie Zöppritz in unsre Sommerfrische zu Lenggries[217] an der Isar gebracht, darunter eine schlanke, schöne Tochter Else, die uns sehr gefiel. Zwei Jahre später hatte der kleine Gott endlich seine Schlacht gewonnen und dem außerordentlichen Professor den Verlobungspfeil in die Brust geschossen; im März 1869 führte der Professor seine Else heim. Es ward eine Ehe, wie man sie nicht glücklicher wünschen konnte; und wie mich mit ihm schon lange brüderliche Freundschaft verband, so bald auch mit ihr. Darin wie in allem blieb sie sich treu, nur in einem nicht: eine so erstaunliche Veränderung wird man selten sehn. Als junges Mädchen, noch als Braut war sie lichtblond gewesen mit bleich leuchtender Haut; so hat damals Hans sie reizend gemalt. Als ich sie nach langen Jahren wiedersah, war sie eine vollkommen andre Schönheit geworden: ein prächtig bräunliches Gesicht, umrahmt von schwarzem Haar.

Meine Werdezeit – sie hatte lange gedauert! – ging dem Ende zu; der höchste, herrlichste Segen sollte ihr noch kommen: die Vollendung des Deutschen Reichs durch den französischen Krieg. Ich predige nicht den Krieg, wer kann das; aber dieser stand als unausbleiblich, als urnotwendig an den Himmel geschrieben – und vielleicht hat er den Besiegten ebensosehr wie den Siegern genützt. Uns Deutschen zeigte er wie in einem gewaltigen Feuerschein mit erhabener Deutlichkeit, was wir sind und können; er zeigte nicht nur, was für Krieger und was für Schlachtenlenker wir haben, sondern wie viel sich in uns verbirgt oder schlummert, bis ein großes Schicksal es zu Tage ruft. Ich staunte damals hundertfach, wie die Menschen[218] wuchsen; hab' mich oft geschämt, daß ich von diesem oder jenem doch zu klein gedacht hatte. Nicht daß ich uns übergroß machen oder gar uns schmeicheln will; aber ich glaub', ich darf sagen: den Segen, der uns damals zu teil ward, haben wir verdient.

Hätte ich nur mithelfen und mitdienen können! Ich war erst dreiunddreißig Jahre alt, aber diese so oft gestärkten und so oft wieder »rastlos« mißhandelten Nerven waren noch immer, oder eben wieder, zu zart und zu dauerlos, als daß sie den Kriegsstrapazen widerstanden hätten. Sie zogen nur immer dem Heere nach, auf den Flügeln der Phantasie und der Sehnsucht; sie lebten den ganzen Feldzug mit. Wie oft trat ich morgens in mein Arbeitszimmer, um meine eigene Sache zu fördern (an den »Malern« schrieb ich); dann sah ich da links an der Tür den Tisch, auf dem der Atlas, die neu gekauften Karten von Frankreich und die neusten Extrablätter lagen. Ich blieb »nur einen Augenblick« stehn. Der Augenblick ward stundenlang. Der Mittag kam und ich hatte an meinem Stück nicht ein Wort geschrieben.

Endlich war das Deutsche Reich erbaut, mit Blut statt mit Mörtel, und wie durch einen ungeheuren Humor der Weltgeschichte im Königschloß von Versailles proklamiert. Der Waffenstillstand folgte, der eigentlich schon der Friede war; von der Münchener Frauenkirche und von allen Häusern wehten die Fahnen, alle Glocken sangen; mein Herz sang den ganzen Tag. Wir versammelten uns beim Siegesfest, beim Bankett der Männer; viele der besten dabei, alle höher gestimmt. Viele standen auf und feierten in Reden den großen[219] Tag; alle meinten's gut; aber wie wir Menschen schon sind: ein halbes Jahr und mehr war dahingegangen, das Feuer der ersten Zeiten war mit der Asche der Alltäglichkeitsprosa leise zugedeckt, der arbeitsame Deutsche war wieder »sachlich« geworden. Sie redeten viel und gar zu korrekt. Ich hielt's nicht mehr aus. Ich nahm auch das Wort; »nicht in Versen, aber doch wenigstens wie ein Dichter!« dacht' ich. Mir fielen die alten Griechen ein, die zur Zeit ihrer Perserkriege ähnlich großes erlebt hatten; mir fiel ihr Meerglaukos ein, der Gott der Brandung, der finstere Alte, der jährlich an den Küsten von Hellas erschien, den erschreckten Menschenkindern Not und Seuchen zu verkünden. Meine Tischrede schilderte ihn: eine wilde Unform aus Mensch und Fisch, Muscheln im triefenden Bart, Seetang in den Leibesfalten, Lebensüberdruß in der Brust. Die Fischer hören ihn stöhnen und rufen: »Weh, daß ich keine Ruhe finde, leben, leben muß! Ich hab' vom Kraut des Lebens genossen, und ich kann nicht sterben!« – Da erscheint das Jahr, wo Hellas – wie Deutschland jetzt – seine großen Feinde daniederwarf, beide an einem Tag: die Karthager bei Himera, die Perser bei Salamis. Und wieder erscheint der Alte an den umbrandeten Küsten; aber sein wildes Haupt, aus dem Gischt emportauchend, erstrahlt vor Freude und seine Stimme steigt segnend zum Himmelsgewölb hinauf. »Hellas, Hellas,« ruft er, »freue, freue dich! Deine Feinde liegen im Staub, frei sind Land und Meer! Hoch ragst du nun, schönes Hellas, wirst noch höher streben und steigen! Nun segn' ich mein Leben, da ich das erlebte; nun[220] will ich wieder und wieder essen von des Lebens Kraut, um nie zu vergehn!«

Die Nutzanwendung und den Schluß meiner Rede sagt sich jeder selbst. Der alte Meerglaukos und der junge Schwärmer hatten die Asche von dem Feuer weggeblasen; es folgte ein schöner, großer Ausbruch vaterländischer Begeisterung. Mit dreien dieser deutschen Hellenen mußte ich Brüderschaft trinken; einer war Freund Hornstein, der zweite Freiherr von Stauffenberg, der Politiker.

So festlich hatte das Jahr 1871 begonnen; als eines meiner Schicksalsjahre wuchs und endete es. Im Juni fuhr ich nach Wien, um der ersten, glänzenden und siegreichen Aufführung meines Lustspiels »Die Vermählten« beizuwohnen; ich lernte das Burgtheater und Auguste Baudius kennen, die zwei Jahre später meine Hausfrau ward. Ich kam im Oktober wieder und erlebte den ebenso herzerfreuenden Erfolg meiner »Maler«; ich sah, hörte und fühlte: dein Boden ist Wien! Auf dem Festmahl nach der ersten Aufführung, bei dem mich Dingelstedt und die Burgschauspieler als einen der Ihrigen aufs herzlichste begrüßten, hatte ich »auf die deutsche Schauspielkunst der Burg und die Burg der deutschen Schauspielkunst« getrunken; wie sehr die »Burg« diese Burg war und was sie dem Theaterdichter bedeutete, davon wußte ich nun genug. Eine Fülle großer und größter Talente, die edelste und wurzelfesteste Tradition – und für mich Wohlwollen und Freundschaft, so viel ich begehrte. Wie schmerzhaft ungern ich auch meinen teuren Münchener Intendanten verlor, wie tüchtige Künstler[221] auch unter seiner Fahne dienten, mit der »Burg« konnte sich sein Theater nicht vergleichen. Ebensowenig München mit Wien; mit dem so kunstgeschulten wie kunstfrohen Wien, das eben einer neuen Blütezeit entgegenging, während München noch nicht die Hälfte war von dem, was es heute ist. An der Isar fehlte die große Welt, das volle Leben; fehlte mir schon lange.

So entschied ich mich denn noch im Herbst für Wien. Schwer wie nur je eine Trennung ward mir die von meinen Geliebtesten, von Frau Klara und Hans; wie sie mir fehlen würden – und auch ich wohl ihnen – das fühlte ich gleichsam fürs ganze Leben voraus; denn sie fehlen mir ja heute noch. Freilich hab' ich sie auch heute noch: denn so innig zugehörige Menschen sterben einem nicht! – Werte und herzliebe Freunde ließ ich auch sonst nur zu viele an der Isar zurück; Windscheids waren freilich im März fortgezogen, Geibel hatte München schon 1868 verlassen, Brater war 1869 gestorben. Ich ließ noch eines zurück, das erst 1871 zur Welt gekommen war: das Deutsche Reich. Was tut's! dachte ich; wo ich auch bin, dich verlier' ich nie!

Des Deutschen Reiches und meine Werdezeit fallen ungefähr zusammen; das ist mir ein gar eigenes, freundliches, herzbewegendes Gefühl. Als 1848 der Reichsgedanke zuerst Form gewann, aus der Frankfurter Paulskirche die Reichsverfassung ans Licht trat und sich dem König von Preußen als zukünftigem Kaiser vor die Füße legte, da war's doch noch ein zu junges Kind, dieses Deutsche Reich, konnte noch nicht unter den Großen, Gewordenen bestehn; war nach ebenso[222] ein Traum wie die Welt in mir. Dann erwachte es wieder in der Sehnsucht der Menschen, 1859; da erwachte auch ich. Ich wuchs und es wuchs; 1864, auf dem Marsch durch Schleswig-Holstein nach Düppel und Alsen, tat es einen großen Schritt; 1866 stand es noch unfertig, unreif, aber doch wie ein erblühender Jüngling da. 1871 war's zum Mann geworden.

Und ich, was hab' ich denn als Jüngling gewollt und als Mann getan? Meines Schaffens Ziel, sobald ich mich gefunden hatte, war und ist noch heut: Wahrheit, Wirklichkeit, angeschaute und erlebte Natur, aber in nicht unedle Form gebracht. Das Häßliche nicht meiden, nach Schönheit streben; in der Welt ist mehr Schönheit, als die Kunst erfassen und erschöpfen kann; nur hoch genug und tief genug schauen, um sie zu sehn! Harmonie erstreben, wie die geheime und geheimnisvolle Schöpferkraft es tut; Harmonie von Wirklichkeitsandacht, Seelenkunde, Großsinn, Formsinn, Anmut, Humor. Auf dem Weg der Großen weiterwandeln, aber als heutiger Mensch.

Mich dünkt, es war ein unermeßlicher Segen, daß unsre neue Literatur fast gleichzeitig mit unsrer Musik entstand. So stiegen alle die guten Geister hinein, die sie lyrisch, melodienreich, vornehm, großgestimmt, seelenvoll machten; von unsern herrlichen Kirchenliederdichtern an, über Christian Günther und Bürger zu den großen Schöpfern, vor denen wir uns auch heute noch dankbar und verehrend neigen, wenn wir nicht selbstanbetende Eintagsfliegen sind. So entgingen wir der Gefahr, an der unsre Malerei im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert trotz so großer[223] Talente halb gescheitert ist: sich mit Kleinmeistersinn so lange ins Dürftige, Allzuwirkliche, Häßliche zu vertiefen, bis die sonst so redlichen Augen verlernt haben, das Große und Schöne zu sehn.

Der Germane neigt zu dieser Gefahr, ohne sie zu kennen.

Möge nie in der deutschen Dichtung die Musik vergehn![224]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 207-225.
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