Ein Sommerabend

[11] An dem schönen, klaren Sommerabend, an dem wir endlich und endlich zum eigentlichen Beginn unsrer Geschichte kommen, saßen zwei Mädchen unter der großen Linde beisammen, in deren Schatten gewöhnlich im Sommer Frühstück und Abendessen eingenommen wurde. Ein schöner Abend war's, und so oft auch schon Geschichten mit schönen Abenden begonnen haben, so wird man nicht umhin können, es zu erwähnen, solange es noch ein leuchtendes Abendrot gibt und einen goldenen Sonnenuntergang. Die Linde stand in voller Blüte und herrlichem Duft; die Blütenblättchen fielen mitunter in die große Milchschüssel, in die eben Mathilde, der neueste Zögling des Amthauses, Brot einbrockte, was zu den Elementen des Unterrichts gehörte. Mathilde war die Tochter einer Jugendfreundin der Amtmännin, die nach beendigten Kursen in der höheren Töchterschule nun Haushaltung und Kochkunst studieren sollte. Minna, die jüngste Tochter des Hauses, Wilhelmine getauft, sonst Mine genannt, war mit Salatlesen beschäftigt; die Gedanken der beiden flogen aber weit, weit hinaus über die prosaische Arbeit, was ihnen in so schöner Abendzeit gar nicht zu verdenken war.

»Es wäre denn doch oft hübsch, wenn man in die Zukunft sehen könnte,« meinte Minna und schüttelte die braunen[11] Locken zurück, die heute, weil es trocken Wetter war, noch schön geringelt das feine, lebensvolle Gesichtchen umgaben; »ich wollte, es begegnete mir einmal eine Zigeunerin, aber eine von den rechten.«

»Ganz unnötig,« sagte Mathilde, eine kräftige, blühende Blondine mit braunen Augen; »mir könnte keine etwas Neues sagen, ich weiß vorher, wie mir's geht.«[12]

»Oh! wie kann das ein Mädchen wissen?« rief Minna. – »Vortrefflich, wenn sie überhaupt weiß, was sie will. Ich kann freilich nicht wissen, ob ich lange lebe oder bald sterbe, oder so was, ob Krieg und Pestilenz kommt und dergleichen; aber ich weiß doch, daß ich nicht heiraten werde.«

»Du?« fragte Minna ungläubig.

»Ja, ich,« sagte Mathilde mit großer Bestimmtheit, »ich will der Welt zeigen, daß ein Mädchen keinen Mann braucht, um glücklich und brauchbar zu sein. Ich will ein Musterexemplar von einer alten Jungfer abgeben! – Was mir allein leid tut, ist, daß ich nicht hunderttausend Gulden habe.« – »So, weiter nichts?« fragte lachend Friederike, die hoch aufgeschürzt mit der umgebundenen Küchenschürze im Geschäftsschritt herbeikam, um die Milchschüssel in Empfang zu nehmen – »na, so kluge Wünsche haben noch andre Leute.«

»Ach, nicht des Besitzes wegen,« sagte Mathilde geringschätzig, »wer wird darauf Wert legen! Nein, nur deshalb möcht' ich reich sein, daß man ganz gewiß wüßte, daß ich nicht heiraten will; daß es noch ein Mädchen gibt, das seinen Wert kennt und sich nicht für eine Null hält, die nur durch vorgesetzte Zahlen Geltung bekommt.«

»Es wäre aber doch auch schön, solchen Reichtum zu teilen mit einem edlen Herzen,« meinte Minna schüchtern. – »Mit einem edlen Herzen!« lachte spöttisch Mathilde, »dem du deine Seele und dein Leben und deinen Besitz zu Füßen legst; das dann dein Vermögen in Verwaltung nimmt und dich betteln läßt um jeden Kreuzer, mit dem du die Haushaltung und die Bedürfnisse des Pascha zu befriedigen hast! Nein, solange die Stellung der Frauen eine so unwürdige ist, werde ich mich nie so weit vergessen. Wenn ich je heiratete, was aber nie geschieht, so dürfte bei uns gar nie die Rede sein von Geld; der Mann müßte mir's heimlich in die Kommode legen, eh' sie leer würde. Gut verwalten wollt' ich's dann schon.«

»Wenn du nur so lange gesund bleibst, bis du so einen findest,« meinte Friederike, die sich mit großer Sachkenntnis des Salats angenommen hatte, von dem Minna in der Zerstreuung[13] die gelben Blätter auf den Boden, die grünen in die Schüssel gelesen hatte, »und das sag' ich dir, so große Brocken in die Milch darfst du auch einmal nicht machen, wenn du einen Mann hast.« – »Oh, die Männer essen ja gar keine saure Milch,« sagte Mathilde und warf trotzig den Kopf auf, »sie würden sie sehr gern essen, aber ihr Magen erträgt sie nicht, oder sie haben Bier getrunken – das ist für die Frau gut genug; dem Herrn bringt man dann Schinken oder brät ihm einen jungen Hahnen, und die Frau sieht zu und ißt Milch, natürlich! Nein, behüt' mich Gott vor solcher Herabwürdigung!«


»Es singt ein Vogel von fern, von fern:

›Was ich veracht', das hätt' ich gern,‹«


sang halblaut eine ziemlich rauhe Stimme im Hintergrund. Die Mädchen fuhren erschrocken zusammen, man sah aber niemand; nur der Amtmann kam nach einer Weile vom Feld heimwärts und ging an den Mädchen vorbei, ohne sie zu bemerken; der war aber nicht als Sänger bekannt und hatte auch eben nicht, was man ein musikalisches Gesicht heißt.

Das Gespräch aber war dadurch unterbrochen und die Mädchen verschüchtert; Friederike nahm den Salat und rief: »So, ihr großen Geister, bringt die Milchschüssel nach; es ist noch Suppe einzuschneiden!«

Den beiden eilte es damit nicht sehr, es war zu schön da draußen, und sie waren zu glücklich im jungen Gefühl der ewigen Freundschaft, die sie seit vorgestern geschlossen hatten, als daß sie gern in die dumpfe Küche zurückgegangen wären.

»Sieh nur, Friederike, den wundervollen Sonnenuntergang!« rief Minna dieser nach. – »Hab' keine Zeit dazu, sie geht jetzt alle Abend unter!« rief Friederike eifrig und ging hinein. Die Mädchen sahen ihr lachend nach. »Die würde den Mond noch zur Küchenampel machen,« sagte Mathilde; »vielleicht bleibt sie darum glücklicher.« – »Nein, o nein!« rief Minna mit feuchten Augen, »Gott behüte uns vor solchem Glück! Je heller Licht, je tiefer sind freilich die Schatten, aber möchtest du darum immer unter grauem Himmel wohnen?[14] Auch das Leid hat gewiß seine tiefe Schönheit.« – »Mag sein, wir wollen's aber abwarten; rufen wir's nicht herbei!« meinte Mathilde.

In dem Augenblick ließen sich fröhliche Stimmen hören. Bruder Eduard und zwei Vettern, beide elternlos, die sich hier im Amthaus, ihrer zweiten Heimat, zusammenfanden, kamen von einem Ausflug in der Nachbarschaft zurück. »Nun, guten Abend!« rief Eduard. »So fleißig? Sorgt nur für etwas Gutes, wir sind hungrig!« – »Hungrig!« sagte Mathilde ironisch, »das ist also der einzige Gedanke, den ihr von einem so herrlichen Waldgang nach Hause bringt!« – »Nun, nun, nicht gleich wieder satirisch!« rief Vetter Otto. »Das leere Körbchen zur Seite zeigt doch, daß die Damen auch nicht allein von Himmelsluft und Blütenduft gelebt haben. Wilhelm ist schuldig, daß wir so hungrig und müde sind, er hat uns um ein paar Schafe im ganzen Walde herumgejagt. Wir, Eduard und ich, stellten nämlich im Walde in der Erinnerung an unsre Knabenzeit eine Hetzjagd dramatisch dar; da wurde eine Schafherde von unserm Jagdruf und Herabspringen dermaßen erschreckt, daß sie nach allen Seiten auseinander rannten und Phylax, der treue Hund, sie nimmer zusammenbrachte. Nun nötigte uns Wilhelm, der redliche Vikar, die Lämmlein in allen Büschen zusammenzusuchen; er schloß sich dann dem biederen Schäfer an und hörte ein Privatissimum über Stallfütterung und Schafraude; da ist's denn kein Wunder, wenn wir prosaisch geworden sind.«

»Wir haben aber doch an euch gedacht«, sagte Eduard, »und ein Programm für morgen gemacht: Morgens eine Wasserfahrt auf die grüne Insel mit Musik und Gesang, mittags Familientafel, nachmittags Kaffee im Walde, abends Hausball.«

Eben kam Friederike mit Milchtöpfen im Sturmschritt, wies Minna, die reuig über ihre Vergeßlichkeit ihr Hilfe anbot, trocken zurück und rührte, unbewegt von Ottos und Eduards Späßen, die Milch mit einer stummen, entschlossenen Tatkraft an, die ein schwerer Vorwurf für die zwei saumseligen Mädchen sein sollte.[15]

Die Abendtafel wurde gedeckt; zu Mathildens innerem Mißfallen wurde den Herren Schinken und Salat vorgesetzt, während die Damen sich mit Milch begnügten; es versöhnte sie nicht, daß man ihr, als dem Gaste, auch anbot; sie trauerte nicht um sich, nur um ihr mißhandeltes Geschlecht.

Das Programm auf morgen wurde dem Papa vorgelegt und die Wasserfahrt vorderhand genehmigt. Auch die Mutter hatte nichts dagegen, wenn man Pfarrers Emma dazu einlade. Friedrike aber, die überall Schwierigkeiten fand, wußte, daß der Kahn keine Sitze mehr hatte.

»Tut nichts, wir legen ein Brett querüber,« sagte Eduard. – »Und morgen früh sollten die Nudeln gewellt werden,« warf Friederike wieder ein, »wobei Mathilde helfen will; wir haben schon drei Tage auf sie gewartet, es muß nun sein; übermorgen kommt der Herr Oberamtmann.« – »Nun, diesmal muß dann eben die Gret noch einmal helfen,« beruhigte die gute Mutter, »ich und die Mägde werden mit den Zurüstungen allein fertig, du kannst wohl mitgehen, Rikchen.« – »Ich? Gewiß nicht,« sagte diese entschlossen, »ich weiß, wieviel es noch zu tun gibt. Und tanzen dürft ihr ja gar nicht, in dem Saal muß morgen schon der Tisch gedeckt werden.«

»Nur ruhig, Jungfer Schwierigkeit!« rief Eduard. »Wir putzen ihn selbst wieder.« – »Das nicht, aber wir,« versicherte Minna, »und wir decken ihn dann übermorgen in aller Frühe, es fehlt gewiß nicht!« – »Nun ja, in Gottes Namen, wir wollen sehen,« meinte die Mutter, während Friederike kopfschüttelnd den Tisch abräumte.

»Wie lange bleibt denn der Herr Oberamtmann hier?« fragte Otto. »Sein Geschäft dauert wenigstens drei Tage,« sagte der Vater; »ich habe morgen noch die Hände voll zu tun, bis ich alles vorbereite.«

»O weh, drei Tage mit so einem Pascha!« seufzte Eduard. – »Nun, ein so grimmiger Pascha ist er nicht,« beruhigte ihn die Mutter, »es ist ja nimmer der Alte. Dieser ist noch ledig und eigentlich ein junger Herr, wenn er gleich nicht so aussieht; er macht gerade nicht viel.« – »Nur Rauch,« lachte[16] Minna, »das wäre einer für dich, Mathilde, und deine Ideen von Chevalerie!« – »Pfui, Mädchen, wer wird so ungescheit sprechen,« zankte die Mutter, »so kleine dumme Mädchen wie ihr, und der Herr Oberamtmann!«

»Wie wir?« und Mathilde warf wieder trotzig den Kopf in die Höhe.

»Aber wie wird sich unser poetischer Nordstern mit dieser Beamtenprosa vertragen, Eduard?« fragte Vetter Otto. »Gar nicht,« lachte Eduard, »wir setzen den Oberamtmann zwischen Papa und Wilhelm, letzterer kann ihn dann über entlassene Strafgefangene unterhalten, und den Nordstern lassen wir den Mädchen.« – »Was für einen Nordstern?« fragte der Amtmann, der indes in der Zeitung gelesen hatte, seine Brille hinaufschiebend.

»Ach, ich vergaß, Onkel,« sagte entschuldigend Otto, »dich zu fragen, ob es dir nicht unangenehm ist, wenn unser Freund, der Dichter Arwed Nordstern, dein gastliches Haus auf einige Tage besucht.« – »Nordstern? Woher?« – »Aus Welsburg, nicht allzuweit von hier.« – »Nordstern? Ist mir keiner des Namens daselbst bekannt.« – »Ach,« sagte Otto, mit einiger Verlegenheit, »sein eigentlicher Name ist Haberstock; da er aber unter dem Namen Nordstern schreibt, so hört er sich lieber mit diesem nennen.«

»Na hör, ich hab' meinetwegen nichts gegen deinen Herrn Haberstock, hab' schon allerhand Kostgänger gehabt; aber was den verstellten Namen betrifft, damit bleibt mir vom Leibe, wenn vollends der Oberamtmann da ist, das könnt' eine schöne Geschichte geben. Was studiert der Haberstock?« – »Eigentlich Kamerale, aber seit sein poetisches Talent erwacht ist, widmet er sich mehr allgemeinen Studien.«

»Gefällt mir nicht,« meinte kopfschüttelnd der Onkel; »habe noch niemals von einem poetischen Kameralverwalter gehört.« – »Der wird auch kein Kameralverwalter, Onkel, darauf kannst du dich verlassen, der macht seine Karriere! Und ein Redner ist er! Solltest hören, was der famose Reden auf unsrer Kneipe hält! Ja, Onkel, der wird noch von sich reden machen!«

»Soll mir lieb sein,« sagte der Onkel phlegmatisch und schloß damit die Unterhaltung.[17]

Quelle:
Ottilie Wildermuth: Ausgewählte Werke. Band 2, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924, S. 11-18.
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