Das Ständchen

[33] Es war schon ziemlich spät in der Nacht. Minna war darauf bestanden, Friederike in der Küche zu helfen, bis sie beide zusammen zu Bette gehen konnten. Friederike war mit der[33] Mahnung: »Lösch gleich das Licht!« alsbald in gesunden Schlaf gesunken, Minna aber war noch so wach! Sie öffnete das Fenster und sah in die helle Mondnacht hinaus – da legte sich leise Mathildens Hand auf ihre Schulter, die aus ihrem Stübchen daneben herübergekommen war. »Bist du böse, Minchen?« fragte sie gutmütig. – »Ich? O nein, warum denn?« – »Nun, weil ich deinen Nordstern so angegriffen.« – »Ach, gewiß nicht, aber es tat mir doch weh, daß du ...« in Minnas Augen glänzten Tränen. – »Aber Kind, Kind!« sagte Mathilde, lächelnd mit dem Finger drohend, »du wirst doch nicht so töricht sein und auf einem Regenbogen deinen Weg durchs Leben machen wollen!«

»O geh,« sagte Minna, jetzt in Tränen ausbrechend, »wer denkt denn an so etwas! Er ist mir ja fremd und ganz, ganz gleichgültig – aber es tut mir nur weh, daß auch du das Schöne und Ideale herabziehen willst ...« – »Ganz, ganz gleichgültig, Minchen?« fragte Mathilde.

Minna konnte nicht antworten; drunten aus der nächtlichen Stille tönte der leise Klang einer Gitarre, eine schöne männliche Stimme begann in etwas gedämpftem Ton zu singen:


»O gib vom weichen Pfühle

Träumend ein halb Gehör!

Bei meinem Saitenspiele

Schlafe! Was willst du mehr!«


Beim ersten Klang waren die Mädchen unwillkürlich ans Fenster geeilt, da lehnte im Schatten eine schlanke, edle Gestalt mit der Gitarre im Arm. Minna zog sich leise zurück, sie kniete nieder an dem Stuhl am Fenster, um nicht gesehen zu werden, und barg ihr Gesicht in die Hände; aber Mathilde konnte sehen, wie ihre Brust sich hob und senkte in heftiger Bewegung, wie sie die glänzenden Augen hie und da erhob, um besser zu lauschen; es war ja das erste Mal!


»Bei meinem Saitenspiele

Segnet der Sterne Heer ...«
[34]

begann der Sänger wieder. Da streckte ein Stockwerk weiter unten der Herr Amtmann seinen Kopf in der weißen Nachtmütze aus dem Fenster: »Darf keine Musik da drunten gemacht werden! Schickt sich nicht.«

Plötzlich erstarb der Ton, und man hörte nur das leise Geräusch eines sachte Abziehenden. Mathilde lachte herzlich über die Unterbrechung, Minna erhob langsam ihr glühendes Gesicht und sagte leise: »Aber du solltest nicht lachen, du mußt dich morgen entschuldigen.« – »Ich! warum?« – »Nun, es[35] hat doch dir gegolten,« sagte Minna noch verlegener. – »Mir! O du dummes Kind, wie magst du so lügen, und weißt doch so gewiß, wem es galt! Steck immerhin den Kopf in den Busch, man sieht dich doch!« – »Ach nein, aber es wäre mir doch gar zu unangenehm, wenn es ja sonst jemand gehört hätte! Und der Papa! Meinst du, Arwed habe es wohl übelgenommen?« – »Ach nein, deinen Vater kennt ja jedermann.« – »Vielleicht hat er auch nur zufällig da unten noch gesungen,« meinte Minna. – »Ganz zufällig,« lachte Mathilde und küßte ihre heißen Wangen: »Gute Nacht, Minchen!


Schlummre süß,

Träume dir ein Paradies!«


Mathilde hatte ihr Licht schon gelöscht und war am Einschlafen, da flüsterte ihr noch eine leise, leise Stimme ins Ohr: »Meinst du, es habe mir gegolten?«, und sie fühlte Tränen an ihrer Wange; aber ehe sie sich aufrichten konnte, war Minna hinübergeschlüpft, um schlummerlos seligere Träume zu träumen, als der süßeste Schlaf bringen kann.

So schloß ein Tag, – ein sonnenheller Tag. Wie manchen Baum sehen wir in voller Blüte! Der Herbst muß zeigen, ob die Blüte eine gesunde war.

Quelle:
Ottilie Wildermuth: Ausgewählte Werke. Band 2, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924, S. 33-36.
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