Aufruhr der Lüfte

[104] An meinem Lager hält die Nacht

Schweigend ihre Leichenwacht.

Nur draußen über Häuserdächer streift

Ein ruheloser Luftgeist/

Wie Trauergewandung

Über Sargesdeckel schleift.


Unter den Dächern

Modert es zahllos/

Wie unter herbstlichen Bäumen

Gestorbenes Laub ...

Die Völker sind tot!


Wohl sickert warmes Blut

Durch ihre Adern,

Wohl heben sie im Morgengrau

Augenlider und Häupter;

Doch mürrisch wie Gefangne.

Und mürrisch strömt es durch die Straße

Zu kerkerhaften Mauern,

Wo Menschenleiber sich wandeln

Zu Räderwerk und Balken,

Zu stumpfen Riesenmaschinen,

Die stampfen, schaffen und stampfen,[105]

Bis draußen der sonnige Tag

Wehmütigen Blicks zur Neige geht.

Und wieder auf die Straße strömt es,

Auftun sich die dumpfigen Häusersärge,

Die Völker strecken sich nieder

Und liegen tot.


Nur heimlich in den Häupten

Keimen Träume/

Wie krankhaft bleiche Keime

An Wurzelknollen, die im Keller lagern,

Sehnlich tasten

Nach lauem Sonnenbade.


An meinem Lager hält die Nacht

Finster ihre Leichenwacht.

Doch draußen ob den Dächern

Geht ein Seufzen;

Zum Stöhnen wird es,

Zu murrender Klage.

Zornig stößt ein Wind das Haus,

Ein andrer Wind heult auf;

Bedrohlich brausend

Stürmt es heran,

Tobende Aufruhrrotten.[106]

Türe schlottert, Fenster rasselt,

Luke klappt, Dachsparren knarren,

Losgelöste Ziegel scharren

Übers Dach und krachen auf das Pflaster.


Aus schnarchendem Schlaf, aus trägen Federn

Schrickt der Bürger empor.

O horch,

Wie's im Kamine schaurig heult

Und durch den Türspalt zischt:

»Herbei, und schlüpft in die Kammer!

Blaset den Narren, blaset!«

Und wie am Kirchturm droben

Die Wetterfahne ängstlich kreischt/

Bis ein wuchtiger Windstoß

Von verbogener Stange

Die Rostige abbricht;

Sie schollert übers Kirchendach

Und prasselt auf das Pflaster

Vor Pfarrers Fenster.


Der Straßenwächter fährt zusammen,

Entweicht zur nahen Haustür

Und schmiegt sich fröstelnd in die Nische.

Drüben an der Anschlagsäule[107]

Zerren spöttische Geister

Am Papierbefehle

Der hohen Obrigkeit

Und wirbeln den Fetzen mit Straßenspreu.


Hinter der Mauer im Hofe

Hebt der einsame Baum

Zu den Lüften flehende Arme

Und stöhnt und wimmert:

»Nehmt mich mit!

Reißt mich aus!

Fort aus steinerner Wüste,

Aus dumpfigen Kerkermauern

Hinaus ins himmlische Freie

Zu sonnefrohen Geschwistern!«

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 104-108.
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