Das Zehende Lied


Unterredung zwischen dem Schäffer Thyrsis und der Schäfferin Amaryllis

[68] auff vorige Melodey.


1.


Thyrsis.


Amaryllis laß uns gehen

Nach dem kühlen Schatten zu/

Zur gewündschten Mittags-Ruh;

Weil am Mittel-puncte stehen

Phöbus Pferd' in vollem Schein

und die Hitze bricht herein.


2.


Amaryllis.


Ja wir wollen uns hinmachen/

Wo die kühlen Wälder stehn

und des Sudens Kinder gehn/

Wo die güldnen Thäler lachen/

Wo der süße Widerschall

Streitet mit der Nachtigal.


3.


Thyrsis.


Ach wie hefftig brennt die Sonne/

Laß uns eylen alsobald

in den nechst-gelegnen Wald;

Amaryllis/ meine Wonne/

Komm/ der Schatten findet sich/

Nun wohlan! erquicke Dich.[69]


4.


Amaryllis.


Ey so wil ich frischer singen

Weil ich nun in süßer Ruh

kan dem Buhlen hören zu;

Ich wil meine Stimm' erschwingen/

Thyrsis meine Freud' und Zier

Liegt in meinen Armen hier.


5.


Thyrsis.


Sonne/ kan ich diß erlangen/

Ach! so eyle nicht so sehr

nach dem blauen Westen-Meer/

Daß ich desto mehr ümbfangen

Meine Liebste kann und mag;

Ach! verlängre diesen Tag!


6.


Amaryllis.


Brennt und flammt das Wolcken-Feuer

gleich so starck zur Sommers-Zeit

Auff den Feldern weit und breit/

Kommet ihnen doch zur steuer

Drauff der Tau/ das Kind der Nacht/

Daß die Rose wider lacht:


7.

Also wenn gleich brennt und hitzet

Noch so sehr der Liebe Gluth/

und entzündet Hertz und Muth;

Dennoch/ wenn zur Seiten sitzet

Mein Geliebter/ werd' ich kühl/

Daß ich keine Schmertzen fühl.[70]


8.


Thyrsis.


Ja ich muß es auch bejahen/

Daß die Liebe stärcker flammt

Als die Strahlen ingesammt/

Wann sich Titan pflegt zu nahen/

Wann die Sonn' am höchsten steht

und die Hitze sich anfäht.


9.

Starck ist ein Magnet im zihen/

Stärcker ist ein Liebes-Blick/

Ein Magnet ziht Stahl zurück;

Doch wann Liebes-Rosen blühen

In der Buhlschafft Eugelein/

Kan die Liebe stärcker seyn.


10.


Amaryllis.


Ey was wollen wir viel singen

Von der Liebe Gluth und Hitz

und der Liebsten Augen-Blitz/

Der ein mattes Hertz kan zwingen/

Daß es wird vor Liebe kranck!

Seyn wir doch nun frey und franck.


11.


Thyrsis.


Amaryllis/ meine Sonne/

Nim nun hin mein treues Hertz;

Durch dich lindert sich mein Schmertz/

Du bist meine Freud' und Wonne/

Meine Liebe schenck' ich dir/

Amaryllis/ meine Zier.[71]


12.


Amaryllis.


So wil ich auch diß mein Leben/

Meine Liebe meinen Sinn/

Mein Gemüth/ Dier zum Gewinn/

Thyrsis/ eigentümlich geben;

Also dürffen wir nicht mehr

Dencken/ daß die Liebe schwer.


Quelle:
Philipp von Zesen: Sämtliche Werke, 17 Bände, Band 1, Berlin/ New York 1970 ff., S. 68-72.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon