Intuition

[203] Intuition – In dem Aufsatze: »Über Philosophie und ihre Methode« (Par. u. Paral. II. 7) hat Schopenhauer, der doch als Kantianer alle Anschauung für intellektuell erklärte, wieder einmal die volle Schale seines Zornes über Fichte und Schelling ausgegossen, weil sie den Ausgang nehmen wollten (verkehrt, anstatt von der empirischen Anschauung) »vom Standpunkte einer angeblichen intellektualen Anschauung hyperphysischer Verhältnisse, oder gar Vorgänge, oder auch einer das Übersinnliche vernehmenden Vernunft, oder einer absoluten, sich selbst denkenden Vernunft«. Den Illuminismus freilich, die innere Erleuchtung, als das Geheimnis der Philosophenbrust, der seinen eigenen letzten Ahnungen ebenso zugrunde lag wie denen des Platon und des Spinoza, hat Schopenhauer in Schutz genommen. »Hingegen (S. II) das laute Berufen auf intellektuelle Anschauung und die dreiste Erzählung ihres Inhalts, mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit desselben, wie bei Fichte und Schelling, ist unverschämt und verwerflich.«

Diese intellektuelle Anschauung heißt in der Sprache der philosophischen Romantik gern auch Intuition. Wenn Schopenhauer beachtet hätte, wo dieses Wort herstammt, sein Abscheu wäre nur vermehrt worden. Ich finde diese Art der übermenschlichen Intuition beim heiligen Thomas. Da gibt es dreierlei Erkenntnis: Gott, als die oberste essentia hat unmittelbar das Wissen von allen Essentien; die Engel und die vom Körper befreiten Seelen haben die unmittelbare intuitio der gegenwärtigen Dinge oder doch das Wissen der entfernten durch species expressae; die Seelen im Zustande der Sünde wissen nur, was ihnen[203] durch species impressae zuteil geworden ist. Die Ausdrücke species impressa und expressa kommen aus einer uns nicht mehr faßbaren Psychologie her, welche die species als Bildchen auffaßt, die sich zuerst den Sinnen eindrücken und nachher in den Vorstellungen der Seele ausdrücken. Man sieht, die Bezeichnungen dieser Scholastik lassen sich übersetzen, auch wenn sie keinen Sinn mehr geben; mitunter läßt sich, wo die Scholastik in Mystik übergeht, der Sinn besser fühlen als definieren. Wir glauben alle zu wissen, was wir bei des Spinoza Worten sub specie aeternitatis fühlen; aber wir können das viel mißbrauchte Schlagwort weder übersetzen, noch definieren, noch diskursiv verstehen.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 203-204.
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