Das deutsche Singspiel

[747] Nach ebenso kurzer wie verheißungsvoller Blütezeit hatte die von Heinrich Schütz begründete deutsche Oper um 1720 der italienischen endgültig das Feld räumen müssen1. Ihr Andenken wurde durch diese Fremdherrschaft so gründlich ausgelöscht, daß die neuen Versuche zur Begründung einer national deutschen Oper, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzten, die Aufgabe auf ganz anderer Grundlage und sozusagen von vorne beginnen mußten. Auf dem Umwege über die in Deutschland niemals ganz ausgestorbene Gattung des Schauspiels mit Musikeinlagen schlich sich das neue »Singspiel« gewissermaßen durch eine Hintertüre wieder herein und trat außerdem ganz anders als die ältere Oper von Anfang an in bewußten, scharfen Gegensatz zu dem italienischen Renaissancekunstwerk. Dieselbe gegen die opera seria gerichtete Strömung, die in Italien die opera buffa und in Frankreich die opéra comique ins Leben gerufen hatte, erfaßte nunmehr auch Deutschland, wo sich während der italienischen Fremdherrschaft ebenfalls eine scharfe Gegnerschaft gegen die ernste Oper herausgebildet hatte.

Der Anstoß ging diesmal von England aus2. Dort war 1728 die berühmte »Beggars opera« von Gay und Pepusch aufgeführt worden3, dem Inhalte nach ebenfalls ein Erzeugnis der nationalen Gegenströmung gegen die italienische Oper und zugleich eine flammende Satire auf die Zustände am damaligen englischen Hofe, formal ein Gemisch von gesprochenem Dialog und beliebten Volksmelodien4, wie in den ersten Zeiten der französischen Vaudevillekomödie und offensichtlich von dieser beeinflußt. Das Stück wurde häufig nachgebildet, und eines dieser Werke, »The devil to pay or the wives metamorphos'd« (1728), von dem Iren Coffey, eine derbe, mit phantastischen Motiven durchsetzte Ehestandsgeschichte, fand schließlich den Weg nach dem Festland, zunächst nach Deutschland, wo der Minister von Bork, der bekannte Shakespeareübersetzer, es ins Deutsche übertrug;[748] 1743 wurde es unter dem Titel »Der Teufel ist los oder die verwandelten Weiber« von der Schönemannschen Truppe, wahrscheinlich mit den englischen Originalmelodien, in Berlin aufgeführt5. Es gefiel außerordentlich, und da Schönemann das Zugstück ängstlich hütete, kam sein Leipziger Kunstgenosse Koch, der sich bisher mit der Aufführung italienischer Intermezzi durchgeholfen hatte6, in Verbindung mit dem ihm befreundeten Dichter Chr. Fel. Weiße auf den Gedanken, das Werk neu zu bearbeiten; Kochs KorrepetitorStandfuß schrieb die nötigen Musikstücke neu. Diese Bearbeitung ging am 6. Okt. 1752 erstmals in Leipzig in Szene und fand außergewöhnlichen Beifall; sie galt von Anfang an als das erste Werk der neuen Gattung. Gottsched, der gegen sie sofort seine alten Angriffe gegen die Oper erneuerte, erlitt eine gründliche Niederlage7. Den zweiten Teil »Der lustige Schuster« (nach Coffeys »The merry cobbler«) führte Koch 1759 zu Lübeck auf.

Freilich war das alles vorerst nur ein bescheidener Anfang. Es waren Schauspiele mit eingelegten Liedern, und diese Abhängigkeit vom Schauspiel haftete dem Singspiel noch lange an; sie wirkte namentlich auch insofern nach, als die Darsteller geraume Zeit hindurch nicht etwa geschulte Sänger, sondern stimmbegabte Schauspieler waren. Das mußte bei gesteigerten musikalischen Ansprüchen natürlich zu großen Unzuträglichkeiten führen8, in den ersten Zeiten dagegen, wo es hauptsächlich auf eine frische und flotte Darstellung ankam und die Gesangsstücke keine großen technischen Anforderungen stellten, genügten die Schauspieler durchaus, so z.B. gerade bei der Kochschen Truppe9. Die Formenwelt des deutschen Singspiels wurde grundsätzlich schon durch Weiße und Standfuß festgestellt: der gesprochene Dialog für die Entwicklung der Handlung und die einfachen, volkstümlichen Liedformen für die Musikstücke, unter Berücksichtigung der Charakter- und Situationsschilderung.

Der Siebenjährige Krieg brachte indessen die Bewegung ins Stocken, und als das Singspiel 1766 abermals auf den Plan trat, zeigte es ein ziemlich verändertes Gesicht. Weiße war unterdessen 1759 und 1760 in Paris gewesen, hatte dort die ersten Schöpfungen der opéra comique mit ihren Straßen- und Gesellschaftsliedern kennengelernt und den Entschluß gefaßt, diese Kunstart auch in Deutschland einzuführen10. Damit trat an die Stelle des englischen Vorbildes das französische, und das Singspiel geriet in dieselbe Strömung wie das gleichzeitige Lied unter dem Einfluß der Berliner Schule, deren Ideal ebenfalls Volkstümlichkeit nach dem Muster der französischen »chansons« war. Noch einmal holte Weiße seinen alten Text der »Verwandelten Weiber« hervor, arbeitete ihn aber nunmehr nach dem Vorbild von[749] Sedaines »Le diable à quatre« um, wobei der gesprochene Dialog beibehalten, die Liedeinlagen dagegen erheblich vermehrt wurden. Der Komponist war, da Standfuß unterdessen gestorben war, Joh. Adam Hiller (1728–1804), und in dieser neuen Gestalt11 wurde das Werk am 28. Mai 1766 von der Kochschen Truppe in Leipzig aufgeführt. Der Erfolg war derart, daß Hiller noch im selben Jahre ein zweites Werk folgen ließ: »Lisuart und Dariolette« (25. Nov.), diesmal auf einen Text von Schiebeler, den dieser selbst als »romantisch« bezeichnete12; er stammte, vermittelt durch Favarts »Fée Urgèle«13, wiederum aus England14. Hiller selbst hatte sich diesmal das hohe Ziel gesteckt, eine national deutsche Oper zu schreiben; tatsächlich hat er die Formenwelt des Singspiels hier durch Anleihen bei der italienischen opera seria und buffa beträchtlich erweitert, ohne freilich den gesprochenen Dialog aufzugeben. Indessen fanden seine hochfliegenden Pläne weder bei dem vorsichtigen Koch noch bei dem in französischen Anschauungen befangenen Weiße besonderen Anklang, auch mochte das Werk ihnen klargemacht haben, daß Hillers Talent seinen Absichten doch nicht entsprach. So erfolgte die Rückkehr zu dem französischen Vorbild, und mit Weißes »Lottchen am Hofe« (nach Favarts »Ninette à la cour«), aufgeführt am 24. April 1767, war der Typus erreicht15, der sich fortan bis in Mozarts Zeit hinein der größten Beliebtheit zu erfreuen hatte. Auch die der italienischen opera buffa entnommenen Stoffe der Dichtungen Eschenburgs und Meißners vermochten die französischen Muster nicht zu verdrängen, zumal als diese in der steigenden Einbürgerung von Pariser Originalen in Deutschland einen immer stärkeren Rückhalt fanden.

So wurde das Singspiel Jahrzehnte lang zu einem Hauptträger französischer Kulturideale auf deutschem Boden. Es hat die Wandlungen der opéra comique getreulich mitgemacht, von den Bauern- und Handwerkerstücken der älteren Zeit bis zu den »romantischen« mit ihren Zaubereien, ihren abenteuerlichen Rettungsgeschichten und ihrer Erlösungsidee. Auch die geistigen Ziele sind im wesentlichen dieselben: der Rousseausche Gegensatz zwischen der ländlichen Unschuld und der Verderbtheit der höheren Stände, zwischen Stadt und Land fehlt so wenig wie die Anspielungen auf die sozialen Zustände der Zeit; die schwüle Luft des »Figaro« schlägt uns schon z.B. aus Weißes »Lottchen am Hofe« entgegen. Das Burlesk-Komische, das noch in den Standfußschen Stücken eine große Rolle gespielt hatte, tritt jetzt, wie bei den Franzosen, stark zurück, dagegen nimmt das Hauptübel der damaligen Zeit, die Empfindsamkeit, mehr und mehr auch vom Singspiel Besitz, unterstützt von jener deutschen Eigenschaft des »Gemütes«, die unserem Volke schon so oft verhängnisvoll geworden[750] ist. Vor allem aber treffen wir in Deutschland in verstärktem Maße jene ebenfalls bei den Franzosen beobachtete Neigung zum Moralisieren, die in der Stadt Gottscheds natürlich einen besonders fruchtbaren Boden fand; sie mußte in Deutschland um so aufdringlicher wirken, als ihr hier das elegante Formengewand der Franzosen fehlte.

Weiße selbst fühlte sich freilich durchaus nicht als bloßer Sklave der Franzosen. Er wollte die französische Kunst in Deutschland nationalisieren; sein Volk sollte seine eigene Kunst erhalten, die sich wohl im allgemeinen an das französische Vorbild anschließen, dabei aber doch den deutschen Verhältnissen Rechnung tragen sollte. Er wußte genau, wie es nach dem großen Kriege in der Seele der breiten Massen in Deutschland aussah: man war zwar für nationale Regungen weit empfänglicher geworden, aber man freute sich doch vor allem des Friedens und der mit ihm wiedergekehrten geordneten Verhältnisse, deren Segnungen man in behaglicher Ruhe zu genießen gedachte. So gelangten Weiße und Hiller zu einer Kunst, die unter nationaler Flagge segelte und sich dabei ohne alle Bildungsansprüche an das ganze Volk wandte. Der Erfolg gab ihnen recht: das neue Singspiel eroberte sich die Gunst der breitesten Volksschichten in einem Grade, wie niemals eine dramatische Gattung zuvor. Das ist nicht allein ihm selbst, sondern auch dem mit ihm eng verbundenen Liede, ja überhaupt der deutschen Musik von außerordentlichem Nutzen geworden. Auch die Deutschen hatten jetzt ihre Volksoper so gut wie die Italiener, Engländer und Franzosen. Freilich stellten sich auch bei ihr alle jene Schwächen ein, die nun einmal allen derartigen »bürgerlichen« Kunstgattungen anzuhaften pflegen, so namentlich die Neigung, den Alltag für das einzig Wirkliche zu nehmen, die notwendig zur Hausbackenheit, Philistrosität und Langweiligkeit führen mußte. Auch die Pariser opéra comique war davon nicht frei, indessen bedeutete die »Alltäglichkeit« im damaligen Paris doch etwas ganz anderes als in dem Stilleben der deutschen Staaten, und außerdem besaßen die Pariser Dichter Talent, Phantasie und formelle Gewandtheit genug, um jenen Mangel auszugleichen oder doch wenigstens zu verhüllen. In Deutschland dagegen kam die Spießbürgerei weit plumper und unverhohlener zum Vorschein. Einen geläuterten Geschmack konnte diese Welt der »Hänsgen« und »Liesgen« mit ihrer eng beschränkten Alltäglichkeit und ihrer häufigen Wiederkehr derselben Motive nicht befriedigen, sie mußte ihn aber geradeswegs abstoßen, wenn, wie das nicht selten vorkam, ihre Naivität zur Gespreiztheit, ihre Gefühlsäußerungen zur konventionellen Phrase oder zu weinerlicher Empfindsamkeit wurden, oder wenn die Poeten dem lieben Publikum zu Gefallen die selbstgefällige Philistermoral faustdick auftrugen. Die Dinge wurden auch nicht besser, als der Stoffkreis unter dem Einfluß von Werken wie Grétrys »Zémire« durch Zufuhr aus dem Reiche des Wunderbaren und des Märchens erweitert wurde, denn das geschah häufig nur in rein äußerlichem, sozusagen maschinellem Sinne, während das kleinbürgerliche Grundwesen mit seinen roh gezimmerten Charakteren, seiner[751] Tändelei und Rührseligkeit dasselbe blieb. Lange Zeit war somit das Singspiel der wirksamste Bundesgenosse des bürgerlichen Rührstücks in Deutschland. Die Aufnahme, die es bei den gebildeten Kreisen, zumal bei den literarischen, fand, war darum sehr geteilt. Wir verdanken jener Rundreise des Wiener Schauspielers Müller (S. 718) einige sehr bezeichnende Urteile bedeutender Männer. Lessing, der doch die Verbindung von Poesie und Musik für die vollkommenste hielt, »so daß die Natur selbst sie nicht sowohl zur Verbindung als vielmehr zu einer und derselben Kunst bestimmt zu haben scheine«, und der über die Ästhetik der Oper sehr viel Treffendes zu sagen wußte16, erklärte sich ganz gegen die Singspiele: »sie sind das Verderben unserer Bühne; ein solches Werk ist leicht geschrieben, jede Komödie gibt dem Verfasser Stoff dazu, er schaltet Gesänge ein, so ist das Stück fertig; unsere neu entstehenden Theaterdichter finden diese kleine Mühe freilich leichter als ein gutes Charakterstück zu schreiben.«17 Noch schärfer sprach sich Gleim aus, er nannte in einem Epigramm das Singspiel »die Hexe,


die schlau wie Schlang' und Krokodil

sich schleicht in aller Menschen Herzen,

und drinnen sitzt, als wie ein Huhn

auf seinem Nest und lehrt: nur kleine Taten tun

und über große Taten scherzen!«18


Beide Dichter, besonders Lessing, bezweifelten also die Möglichkeit einer künstlerischen Weiterbildung der ganzen Gattung; tatsächlich brachte ihr Charakter es mit sich, daß sich allerhand unberufene dilettantische Poeten herandrängten, die jene Furcht vor einer künstlerischen Stagnation rechtfertigten. Weiße selbst widersprach19 natürlich: Operetten seien gewiß keine Werke der hohen dramatischen Kunst, auch hoffe er nicht den Kunstsinn seiner Nation durch sie zu erhöhen, fürchte ihn aber nicht zu verderben, sondern wolle nur – ein deutlicher Nachhall seiner französischen und Berliner Eindrücke – die Deutschen zum gesellschaftlichen Gesange anleiten und dadurch das allgemeine und das gesellige Vergnügen fördern20. Gotter, der selbst Singspiele dichtete und gleich Michaelis auf ernsthaftere Stoffe bedacht war, hielt sich begreiflicherweise mit seinem Urteil zurück und meinte nur, Abwechslung sei die Würze des Vergnügens21. Von Wieland, dem Dichter der »Alceste«, der sich im Anschluß an Schweitzers Werke über die Ausbildung des Singspiels schon ausführlich geäußert hatte, bekam Müller natürlich eine zustimmende Antwort. Der deutsche Gesang müsse die vaterländische Bühne erst in Ansehen setzen; komische und ernsthafte Singspiele fehlten zwar noch, aber es würden sich schon die Dichter finden, diesem Mangel abzuhelfen22. Selbst ein Musiker wie Reichardt erklärte[752] sich gegen das Singspiel, da es aber einmal da sei, müsse man es zu verbessern und so nutzbar wie möglich zu machen trachten23.

Zu den Dichtern, die sich an der Lösung der Frage praktisch beteiligten, gehörte auch Goethe, dem schon in Leipzig »Weißes Opern, durch Hillern auf eine leichte Weise belebt, viel Vergnügen machten«24. Seine Singspiele unterscheiden sich von den landläufigen schon dadurch, daß sie größtenteils für die Geselligkeit am Weimarer Hofe, also für ein weit gebildeteres Publikum bestimmt sind; auch verfolgte er dabei, ganz anders als Weiße, den Nebenzweck, sich selbst über die Grundfragen des musikalischen Dramas ins klare zu kommen. Seine Beiträge machten zur Tat, was Wieland erwartete: sie veredelten die dichterische Seite des Singspiels, ohne doch sein musikalisches Grundwesen anzutasten, und wiesen damit einen Weg, der, wenn er nachdrücklicher beschritten worden wäre, der Gattung viel unkünstlerische Mittelmäßigkeit hätte ersparen können. Welche Fülle von Anregungen steckt, verglichen mit den landläufigen Erzeugnissen, in diesen wenigen Goetheschen Singspielen! Statt der herkömmlichen Anlehnung an die allein seligmachende opéra comique wird der Stoffkreis durch spanische (Claudine von Villabella) und englische (Erwin und Elmire) Vorlagen bereichert, schweizerische und einheimische Eindrücke von Land und Volk werden lebendig (Jery und Bätely, Die Fischerin), Volkslied, Sage und Märchen herangezogen und in »Scherz, List und Rache« sogar die Sphäre der italienischen opera buffa erreicht. Der Mannigfaltigkeit des Inhalts entspricht aber auch die der Form. Am engsten schließen sich die Werke der Geniezeit, besonders »Claudine« und »Erwin«25, dem französisch-deutschen Typus an (Prosadialog mit Gesangseinlagen in Versen); »Lila«, »Jery und Bätely«, sowie die mehr improvisierte »Fischerin« folgten. Daß wir den Goetheschen Singspielen eine Reihe der schönsten lyrischen Gedichte, wie das »Veilchen«, den »Erlkönig«, »Feiger Gedanken bängliches Schwanken«, »Ihr verblühet süße Rosen« u.a. verdanken, ist bekannt, aber auch dem gesprochenen Dialoge, der in seiner Plattheit und Ungelenkheit stets ein wunder Punkt des Singspiels war, widmete Goethe in steigendem Maße seine Aufmerksamkeit26. Damit kreuzte sich sein Bestreben, den französischen Typus durch den durchkomponierten italienischen Buffotypus zu ersetzen; sein sicheres Stilgefühl ließ ihn das zwiespältige Wesen der französischen Art gar wohl erkennen. Jetzt arbeitete er auch »Claudine« und »Erwin« in diesem[753] Sinne um, die sich somit formell stark den Versuchen einer durchkomponierten deutschen Oper annäherten. Sein Grundbestreben war aber auch hier fortwährend, die ganze Gattung in eine höhere dichterische Sphäre zu erheben27. Seine Worte über Mozarts »Entführung« werden uns noch bei dieser selbst beschäftigen. Im Ganzen aber sind seine Singspiele, auch ganz abgesehen von ihrem eigenen dichterischen Wert, für die Entwicklung der ganzen Gattung von hoher Bedeutung als der erste und auf lange Zeit hinaus einzige von der dichterischen Seite unternommene Versuch, die Gattung künstlerisch weiterzubilden und so der drohenden Stockung vorzubeugen.

Auch in der Musik des Singspiels besteht zunächst ein beträchtlicher Unterschied zwischen Standfuß und Hiller. Standfuß war weit mehr Volkskind als Hiller: aus dem wenigen, was uns dieser von ihm erhalten hat, spricht derselbe lebensfrohe, bis zur Derbheit kecke Geist, der der damaligen weltlichen Kantate mit ihren Quodlibets und andern Späßen zu eigen ist. Von hier stammen gewisse Eigentümlichkeiten seines Stils, wie die Einmischung kurzer Rezitative in seine Lieder, und besonders die drastischen Umschläge in Takt und Tempo (in komischer Absicht), aber auch die manchmal höchst witzigen, kleinen malerischen Koloraturen, die gelegentlich mit der Schlagkraft einer Gebärde wirken28. Gewiß steckt im allgemeinen in diesen Liedern ein sehr bescheidener Aufwand an höherer Kunst, dafür aber eine um so herzhaftere Freude am Einfachen und Natürlichen, sie sind gleich weit entfernt vom Gezierten wie vom Philiströsen, was man von den Hillerschen nicht immer rühmen kann, und offenbaren außerdem eine weit stärkere Begabung für derbe volkstümliche Komik. Auch ihre technischen Ansprüche sind noch geringer und von stimmbegabten Schauspielern wohl zu bewältigen. Die Melodik ist durchaus volkstümlich und bevorzugt die Intervalle des Dreiklangs, auch die Rhythmik ist bei aller Einfachheit schlagkräftig und lebendig. Die Form bewegt sich meist in der knappsten Zweiteiligkeit; das Orchester steuert ab und zu kleine malerische Randbemerkungen bei.

Unter den Händen J.A. Hillers machte die Stilisierung des Singspiels trotz dem bewußten Festhalten an der volkstümlichen Grundlage bedeutende Fortschritte. Hiller kam von der hohen italienischen Kunst Hasses und Grauns her und ist, wo es sich um das ganze weite Gebiet des Empfindsamen handelt, von diesen seinen Lieblingen niemals losgekommen. So gesellt sich fortan den deutsch-volkstümlichen und französischen Einflüssen der italienische von opera seria und buffa bei. Jener zeigt sich in Formgebung und Melodik der ernsten Gesänge, dieser besonders in der Vorliebe[754] für die zweiteilige Arie mit Tempowechsel in den heiteren und in der Anlehnung an die bekannte realistische Buffomelodik29. Doch ist hinsichtlich der Form gleich zu bemerken, daß Hiller sich der allergrößten Knappheit auch in diesen kunstmäßigeren Sätzen befleißigt; voll ausgeführte Arien italienischen Schlages sind sehr selten30. Trotz dieser Beschränkung gehört aber die Art, wie er seine Gedanken bei der Wiederholung zusammendrängt und variiert, zu den besten Seiten seiner Kunst, und damit hat er auch auf die Liedkomposition anregend gewirkt. Die französischen Vorbilder, an denen Hiller theoretisch so manches auszusetzen hatte, wirken in seiner Kunst keineswegs bloß in deren allgemeinem Liedcharakter nach, sondern bis in einzelne Formen hinein, wie Rondo31, Vaudeville und ähnliche Verbindungen von Einzel- und Ensemblegesang, ja selbst ganze Szenentypen, wie z.B. die »tempête«, kehren häufig wieder32, und besonders die Rhythmik, sonst durchaus nicht Hillers stärkste Seite, gewinnt durch diesen französischen Zusatz ein erhöhtes Leben. Nimmt man dazu noch die häufigen, ebenso unbegründeten wie ausschweifenden Koloraturen, die schon bei ihm auch ins Singspiel einziehen, so zeigt sich klar, welch gewichtiges Wort nunmehr das Ausland bei diesem deutschen Singspiel mitzureden begann. Noch Standfuß war hierin viel weniger weit gegangen. Auch darin steht Hiller trotz seiner höheren Kultur hinter seinem Vorgänger zurück, daß ihm der Ton des übermütigen Volksgesanges und der Humor lange nicht so unmittelbar von Herzen gehen; ja, von einem besonderen Talent für das Komische kann bei ihm überhaupt nicht gesprochen werden. Er macht dafür Anleihen teils bei Standfuß selbst, besonders in den älteren Werken, teils bei der komischen Oper der Italiener und Franzosen, ohne diese Vorbilder auch nur entfernt zu erreichen. Er kennt deren scherzhafte Malereien in Gesang und Begleitung sowie die übrigen Witze, wie Lach- oder Schluchzmotive, Falsettsingen und Pfeifen, sehr wohl, aber ihre Anwendung entbehrt meist des Salzes und der Originalität. Überhaupt verfallen Hillers volkstümliche Melodien nur zu leicht ins Behäbige, Spießbürgerliche und Einförmige, wie die der gleichzeitigen Berliner ins Trockene und Doktrinäre; selbst berühmte Stücke wie Hannchens »Als ich auf meiner Bleiche« aus der »Jagd« machen keine Ausnahme davon, eines jener erzählenden Lieder (»Romanzen«), die das Singspiel nach französischem Muster als besondere[755] »Schlager« übernahm und zu denen auch Mozart in dem Ständchen Pedrillos einen Beitrag geliefert hat33. Am glücklichsten ist Hiller in der Wiedergabe mittlerer Stimmungsgebiete, der harmlosen, selbstgenügsamen Heiterkeit und der zarten Wehmut, und damit, sowie mit jenem hausbackenen Anflug seiner Kunst, hat er bei dem damaligen deutschen Publikum den Sieg auf der ganzen Linie errungen. Dabei muß ihm als weiteres Lob zugestanden werden, daß es ihm in der Mehrzahl der Fälle gelungen ist, in seinen Liedern den Eindruck der betreffenden Charaktere und Situationen wie in einem Brennpunkt zusammenzufassen. Auch den Formenschatz des Singspiels hat er nach französischem Muster durch Ensembles, ja sogar durch kleine Chöre bereichert. Allerdings geschieht das in einer primitiven Art, die die Italiener und Franzosen längst hinter sich hatten. Seine Terzette usw. verteilen dieselbe Melodie ganz unbekümmert auf die verschiedenen Personen, oft sogar im Wechsel von nur zwei Takten, und nur ab und zu, besonders in den späteren Werken, zeigt sich ein bescheidener Ansatz zur Charakteristik oder wenigstens zu selbständigerer Stimmführung. Hier blieb den Späteren noch sehr viel zu tun übrig. In den dreisätzigen Sinfonien seiner Opern schlägt sich Hiller vollständig auf die Seite der Italiener, höchstens, daß mitunter das Fehlen eines vollständigen Schlusses auf die Franzosen hindeutet.

Die unmittelbare Ausbeute für Mozart ist darum bei Hiller verhältnismäßig gering und beschränkt sich im wesentlichen auf gemeinsam benutzte Quellen, wie z.B. das Seitenthema der Erntekranz-Sinfonie34:


Das deutsche Singspiel

oder das Thema von Lindforts Arie III derselben Oper:


Das deutsche Singspiel

beides charakteristische Beispiele für Hillers Art, das italienische Gut zopfig zu verschnörkeln.

Der ungeheure Erfolg der Hillerschen Singspiele blieb aber keineswegs aufs Theater beschränkt. Er kam auch dem von den Berlinern angestrebten volkstümlichen Liedgesang in höchstem Maße zustatten, denn er brachte dem Liede, was ihm die Berliner nicht geben konnten: volkstümliche Texte,[756] und hat dadurch »dem Lied und damit der Musik auch den sog. dritten Stand erobert«35. Noch weit über Mozarts Zeit hinaus ist das Singspiel eine Hauptquelle für den deutschen Hausgesang gewesen.

Noch zu Hillers Lebzeiten erhob es aber dichterisch wie musikalisch höhere Ansprüche. Stoffkreis und Formensatz wurden erweitert, die Tonsprache im allgemeinen vertieft. Damit wuchsen natürlich auch die Anforderungen an die Sänger. Da das Singspiel nach wie vor Privatunternehmern überlassen war, die für durchgebildete Gesangskräfte nicht immer die Mittel hatten, so kam es häufig zu mittelmäßigen und unzulänglichen Aufführungen36. Indessen wird man sich doch hüten müssen, diese Berichte zu verallgemeinern, denn ihnen widersprechen nicht bloß gegenteilige Nachrichten, sondern vor allem zahlreiche Partituren mit teilweise sehr anspruchsvollen Gesangspartien, die von den Komponisten für ganz besitmmte Sänger geschrieben sind.

Trotz allen Anfeindungen aus den Kreisen der Literatur und Musik erfreute sich die Gattung, namentlich in Norddeutschland, steigender Beliebtheit37. In Berlin z.B., wo Döbbelin 1769 zuerst regelmäßige Vorstellungen einrichtete, wurden 1781–1783 409 Opern gegeben38. Dem entsprach denn auch eine große Fruchtbarkeit der Komponisten. Da indessen der Einfluß dieser nord- und mitteldeutschen Kunst auf die Wiener aus bereits angeführten Gründen nur gering war, mag hier ein kurzer Überblick über die hervorragendsten Meister genügen; es sind größtenteils dieselben, die als Vertreter der Berliner Schule auch im deutschen Lied Bedeutung erlangt haben.

Das meiste hatte das Singspiel in der Zeit zwischen Hiller und Mozart G. Benda39 zu verdanken, den auch Mozart, wie wir wissen, unter den »lutherischen Komponisten« besonders schätzte. Seine Singspiele, von denen sich »Der Dorfjahrmarkt« (1775), »Walder« (1776), »Julie und Romeo« (1776), »Der Holzhauer«, alle auf Texte von F.W. Gotter, besonderer Beliebtheit erfreuten, zeigen gegenüber Hiller nach Form und Inhalt einen ganz überraschenden Fortschritt. Als neue Form kommt seit dem »Walder« das Akkompagnatorezitativ hinzu, das unter den Händen des Schöpfers von »Ariadne« und »Medea« namentlich in »Julie und Romeo« zu bedeutenden Leistungen führt40. Aber auch die von Hiller übernommenen volks- und kunstmäßigen Formen werden mit einer Freiheit behandelt, die Benda als Dramatiker weit über Hiller stellt. Für Mozart wichtig ist das volkstümliche[757] Strophenlied des Bärbchen (Dorfjahrmarkt I 5) mit seinen geistvollen Variationen, in andern Fällen belebt Benda den Volkston durch ein eingeschobenes Rezitativ (Holzhauer 7). Erfordert es der Text, so durchbricht er unbedenklich die hergebrachte Form und schreibt z.B. viersätzige, aus volks- und kunstmäßigem Tone gemischte Arien (ebenda I 2), wie denn überhaupt Gesänge mit starken Gegensätzen, Takt- und Tempowechsel bei ihm nichts seltenes sind. Im »Romeo« schweißt er sogar ganze, große Szenengebilde zusammen (III 3–4), das eine Mal unter zyklischer Wiederholung eines Chorsatzes (III 1–2), eine Szene, die auch in ihrer musikalischen Ausführung an Gluck gemahnt. Den größten Fortschritt aber zeigen die Ensembles. Hier hat Benda nicht allein von den Franzosen, sondern auch von der italienischen Buffooper viel gelernt, wie allein schon die auch aus Mozart bekannten, durchgehenden Orchestermotive zeigen, vgl. Dorfjahrmarkt I 8:


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Die Neigung zu rein musikalischer Formgebung herrscht zwar auch bei Benda noch vor, doch weiß er innerhalb dieses Rahmens Charaktere und Situationen weit schärfer und drastischer zu schildern als Hiller, und in Ensembles wie dem Quartett des »Walder« oder dem Terzett des »Holzhauers« (Nr. 7), das zudem einen geistreichen Anklang an die Arie Nr. 4 bringt, stehen wir, was wirksame Gruppierung der Stimmen und Charakteristik betrifft, bereits auf der Höhe etwa der Mozartschen »Zaïde«. Auch in den Ouvertüren regt sich unter französischem Einfluß ein neuer Geist, ja, die des »Holzhauers« scheint ihrem Baue nach das unmittelbare Vorbild der Ouvertüre zur »Entführung« abgegeben zu haben. Denn sie schiebt gleich dieser zwischen die beiden Teile ihres Allegros die Melodie der folgenden langsamen Arie Wilhelmines ein.

Im allgemeinen strebt Bendas Tonsprache trotz der Bevorzugung des Volkstons, den er mit besonderer Frische meistert, entschieden höheren Zielen zu. Das hat ihn zwar, wie alle Nachfolger Hillers, mitunter zu verstiegenem italienischem Pathos und überreichem Koloraturenflitter verführt, auf der anderen Seite aber auch eine Veredlung des gesamten Ausdrucks zur Folge gehabt, die sehr vorteilhaft von dem oft hausbackenen Tone Hillers absticht. Im Ausdrucke warmen, edlen Gefühls begegnet er sich, gewiß nicht zufällig, häufig mit Mozart, auch dessen plötzliche Emphasen im Flusse solcher Melodien fehlen nicht, wie z.B. in der Arie des Obristen im Dorfjahrmarkt I 2:


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[758] Nicht minder wird der eigentliche Volkston teils ins Graziöse, teils ins Gefühlvolle stilisiert, vgl. Sophiens Rondoliedchen im Walder mit der reizenden Koloratur:


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und auch Valentin gibt seiner Freude über das nahe Glück in moderner Weise Ausdruck (Holzhauer 5):


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Beide Stellen offenbaren zugleich eine weitere Seite des Bendaschen Talentes, die Hiller größtenteils abging: den frischen Humor. Er kommt besonders[759] auch in der orchestralen Seite zum Ausdruck41, die Benda überhaupt nicht nur technisch, durch starke Bevorzugung des Konzertierens, sondern auch poetisch äußerst geistreich weiterbildet, man merkt auf Schritt und Tritt seine beim Melodram errungene instrumentale Meisterschaft. Dahin gehören so manche poetischen Anspielungen in den Ritornellen42, aber auch z.B. der Orchesterpart in der Militärarie des Dorfjahrmarktes (II 1), die gleich so manchen älteren italienischen Stücken dieser Art der Situation und Ausführung nach mit Figaros »Non più andrai« nahe verwandt ist43.

Die Singspiele von Bendas Zeitgenossen Johann André (1741–1799), »Der Töpfer« 1773, »Die Bezauberten« 1777, »Das tatarische Gesetz« 1779, »Das wütende Heer« 178044, »Die Entführung aus dem Serail« 1781, stehen künstlerisch den Bendaschen zwar nach, ergänzen sie aber nach der Seite kecker Volkstümlichkeit und drastischen Humors; der Geist Standfußens scheint in modernerer Form wieder aufzuleben. Andrés Humor schillert in allen Farben, vom harmlos Drolligen bis zum Mürrischen und Spießigen; auch an Orchesterwitzen fehlt es nicht45. Der französische Geist ist bei ihm stärker am Werke als bei Benda. Das beweisen nicht allein seine Rhythmik, Melodik46 und seine Vorliebe für das Rondo, sondern besonders der seiner Kunst eigene pittoreske Zug, der sich namentlich in mehr oder minder ausgeführten Orchestermalereien äußert (tempêtes)47. Sein Orchester ist überhaupt nicht minder reich und glänzend bedacht als das Bendasche48. Auch in den Ensembles strebt er nach Pariser Muster höheren Zielen zu49 und folgt seit dem »Tatarischen Gesetz« im Akkompagnato mit Glück den Spuren seines Zeitgenossen. Seine »Entführung« wird uns bei dem Mozartschen Werke wieder begegnen.

Der dritte Meister, der hier Erwähnung verdient,Chr. Gottl. Neefe (1748 bis 1798), hat sich in seinen ersten Werken (»Die Apotheke« 1771, »Amors Guckkasten« 1772) von allen am engsten an Hiller angeschlossen, dessen Geist und Formenwelt trotz der freien und moderneren Haltung noch deutlich zu erkennen sind. Die Verwandtschaft des Singspiels mit dem gleichzeitigen Berliner Liede wird hier besonders klar. Aber bald drängte es auch Neefe aus den alten Bahnen heraus. Schon sein »Guckkasten Amors« macht den allerdings wenig geglückten Versuch, dem Singspiel die antike Mythologie zuzuführen, »Zemire und Azor« erobern 1776 das romantische,[760] »Die Zigeuner« und »Adelheid von Veltheim« 1781 das exotische Gebiet; die Adelheid gehört außerdem als orientalische Entführungsoper mit unter die unmittelbaren Vorläufer des Mozartschen Werkes. Seine sinnfälligste formale Neuerung war die Einführung des Bendaschen Melodrams in das Singspiel (Adelheid II 1); ob er die etwas frühere Mozartsche Zaïde gekannt hat, ist zweifelhaft; wahrscheinlich sind beide Meister unabhängig voneinander auf diesen damals ja sehr naheliegenden Gedanken verfallen. Ein neues Gesicht tragen bei Neefe aber auch die Ensembles an den Aktschlüssen. Schon in dem Schlußdivertissement von Amors Guckkasten – textlich übrigens einem drastischen Beispiel dafür, was sich auch das Singspiel bei all seiner Philistrosität an Lüsternheit mitunter leistete, – ist das Prinzip der strophischen Variation mit größter Freiheit und bester dramatischer Wirkung durchgeführt, und vollends die Adelheid beschließt ihre beiden Mittelakte mit großen, vielgliedrigen Finales, von denen das erste aus einer Kette verschiedener Sätze in Lied- und Arienform besteht, während das zweite seine Glieder durch freie Wiederholung einzelner Hauptthemen rondoartig zur Einheit zusammenzuschließen strebt, eine offenkundige Nachbildung der Piccinnischen Art50. An dramatischem Leben stehen beide freilich hinter den weit kürzeren Bendaschen Ensembles zurück. Davon steckt überhaupt in Neefes Liedern und dramatischen Kantaten durchschnittlich mehr als in seinen Singspielen, wo es sich meist nur in einzelnen, besonders originellen Stücken äußert. Auch das Pittoreske fehlt nicht; schon in der Apotheke sind das heuchlerische Frauenduett II 1 und die drastische Arie des hypochondrischen Trist II 4 gute Belege dafür. Dagegen kommt in der Adelheid das türkische Lokalkolorit, das doch so nahegelegen hätte, nur in der Ouvertüre zum Ausdruck, einem Stück, das übrigens mit seinem beständigen Wechsel zwischen gewöhnlichem und Janitscharenorchester lebhaft an Mozarts Ouvertüre zur »Entführung« gemahnt. Dafür beginnt und schließt in Amors Guckkasten Komus seine erste Arie in überraschend witzigem Jahrmarktston51:


Das deutsche Singspiel

In derartigen scharf geschauten Einzelbildern ruht Neefes dramatische Stärke; zu einer durchgeführten Charakteristik finden sich dagegen nur[761] Ansätze, wie z.B. gleich bei dem Enoch der Apotheke, wogegen der Mehmet der Adelheid, die Osmingestalt des Stückes, nur ausnahmsweise über den Rahmen des gewöhnlichen, gutmütigen Singspielpolterers hinauswächst. Im allgemeinen bewährt sich Neefe auch in seinen Singspielen als ganz hervorragender, fortschrittlicher Melodiker; seine volkstümlichen Lieder wie seine Arien sind reich an geistvoller melodischer Entwicklung sowie an poetischen Anspielungen und Wiederholungen. Mit Mozart berühren sie sich mehr als einmal: schon in Amors Guckkasten singt Psyche (15):


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und in der Adelheid heißt es I 8:

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[762] In beiden Fällen liegen wohl allerdings gemeinsame italienische Quellen zugrunde52.

Während das norddeutsche Singspiel im Südwesten in der Stuttgarter Schule (J.F. Gauß, Chr. L. Dieter und J.R. Zumsteeg, sämtlich alten Eleven der Karlsschule53) eifrige Nachfolge fand, stieß es in Wien auf starken Widerstand. Er war nicht allein in den politischen und konfessionellen Gegensätzen54 begründet, sondern besonders auch in der selbständigen musikalischen Kultur der Wiener, die man der fremden Kunst zu opfern keineswegs gesonnen war55. Vor allem sträubte sich die eingesessene Volksmusik gegen die Einführung des Hillerschen Stils. Man war dem Singspiel als solchem wohl gewogen, aber man wollte seinen Volkston aus eigenen Mitteln bestreiten. In der beliebten Stegreifkomödie, bei der die Musik ja stets eine große Rolle spielte, – und zwar nicht allein mit Einzelgesängen, sondern auch mit Ensembles und Chören – fand das Singspiel bereits eine verwandte Gattung vor56. Dazu kam das in Österreich besonders beliebte Marionettentheater, das Haydn zu seinen Komponisten zählte57 und die in Wien wie in Paris stark bevorzugte Parodie pflegte58, und endlich regten sich seit etwa 1760 die ersten Versuche eines eigentlichen Singspiels59.

Das »Nationalsingspiel« Josephs II. fand somit einen wohlvorbereiteten Boden. Fand sich ein Meister, der Talent, Kunstverstand und den ernsten Drang nach höheren Idealen besaß, so konnte gerade Wien die Stätte werden, von der in der Geschichte der deutschen Opernkunst ein neuer Aufschwung ausging. Die Vorbedingung dazu waren freilich, wie immer, die geeigneten Dichter, und an diesen mangelte es in Wien noch mehr als in Norddeutschland. Ein Blick auf den Spielplan des Nationalsingspiels zeigt ein ziemlich buntscheckiges Bild, das ohne originelle Züge Motive aus der französischen und italienischen komischen Oper und aus dem deutschen Lustspiel vor und nach Lessing mit mehr oder weniger Geschick neu verarbeitet; auch Ritterdrama und Geisterroman wirken nach: sie haben in Verbindung mit den Pariser Feerien und Zauberopern besonders zur Beliebtheit des Zaubersingspiels in Wien beigetragen. Die Charakterzeichnung[763] ist ebenso unselbständig und plump wie der Dialog, der die Plattheiten der »Zauberflöte« zum guten Teil noch übertrifft60.

Für den musikalischen Stil bieten Umlaufs »Bergknappen« ein lehrreiches Beispiel61. Da stehen Stücke im niedrigsten Wiener Volkston (12) neben stilisierten, die sich dem gleichzeitigen Kunstliede nähern (19), und neben voll entwickelten italienischen Koloraturarien (10) und Buffogebilden (11); selbst Reminiszenzen an die alte, strenge Art der Fuxschen Zeit fehlen nicht (5). Dazu kommen noch zwei musikalisch sehr wirkungsvolle Chöre, einige Ensembles, unter denen namentlich ein Terzett (4) durch gute Charakteristik der einzelnen Teilnehmer hervorragt, und endlich ein französischer Rundgesang am Schluß. Französisch ist auch die zweisätzige, eines vollen Abschlusses entbehrende Sinfonie. An stilistischer Mannigfaltigkeit ist demnach dieses Werk nicht allein Hiller und seiner Schule, sondern auch Mozarts Entführung entschieden überlegen; nur fehlt dem Komponisten das dramatische Gewissen: auf den Gedanken, alle diese Stilarten dramatischen Zwecken dienstbar zu machen, ist er überhaupt nicht gekommen, sondern bedient sich ihrer lediglich zum Zwecke musikalischer Abwechslung, läßt seine Personen bald in diesem, bald in jenem Tone singen und verstößt damit nicht nur gegen die dramatische Charakteristik, sondern bisweilen auch gegen den gesunden Menschenverstand. Was hier für Möglichkeiten schlummerten, sollte erst Mozarts »Zauberflöte« offenbaren.

Damit tritt aber auch Mozarts scharfes Urteil über Umlauf in dem Briefe vom 6. Oktober 1781 in ein besonderes Licht, denn es spielt eben auf diese planlose Vielseitigkeit an:62


Der Umlauf muß auch mit seiner fertigen Opera warten, die er in einem Jahre geschrieben hat; Sie dürfen aber nicht glauben, daß sie deswegen gut ist (unter uns gesagt) weil er ein ganzes Jahr dazu gebraucht hat. Diese Opera (aber unter uns) hätte ich immer für eine Arbeit von 14 bis 15 Tägen gehalten, besonders da der Mann so viele Opern muß auswendig gelernt haben! – und da hat er sich ja nichts als niedersetzen dürfen, und er hat es gewiß so gemacht – man hört es ja!


In diese beschauliche Welt des Umlauf, Ordonnez, Aspelmayr, Ulbrich und Genossen tritt nun Mozarts Entführung selbst wie eine Fee aus dem vielgepriesenen Märchenland ein.

Fußnoten

1 Als letzte deutsche Oper verzeichnet Gottsched, Nötiger Vorrat S. 314 die Atalante (Danzig 1742). Vgl. H. Kretzschmar SIMG III 270 ff.


2 Vgl. H.M. Schletterer, Das deutsche Singspiel 1863 (allerdings stark überholt); G. Calmus, Die ersten deutschen Singspiele von Standfuß und Hiller, Leipzig 1908.


3 G. Calmus SIMG VIII 286 ff. und im Neudruck des Werkes in »Zwei Opernburlesken aus der Rokokozeit«, Berlin 1912.


4 G. Calmus SIMG VIII 286 ff. und im Neudruck des Werkes in »Zwei Opernburlesken aus der Rokokozeit«, Berlin 1912.


5 Chronologie des deutschen Theaters 109 f. Plümicke, Entwurf einer Theatergesch. v. Berlin S. 193 f.


6 Chronol. S. 159 f. Cäcilia VIII 277 ff.


7 Blümner, Gesch. d. Theat. in Leipzig S. 98 ff. Danzel, Gottsched S. 172 ff. Minor, Chr. F. Weiße S. 144 ff.


8 Vgl. Reichardt, Über die deutsche komische Oper S. 14. Briefe eines aufmerksamen Reisenden I 147.


9 Calmus S. 12 ff.


10 Selbstbiogr. S. 102 ff.


11 Einige Gesänge von Standfuß wurden dabei übernommen.


12 Vgl. Hillers Wöchentl. Nachrichten II 135 ff. Unter »romantisch« versteht Schiebeler die Abenteuer eines irrenden Ritters, die von den Italienern »romantisch« genannt wurden.


13 Über dieses »romantische« Werk s.o.S. 537.


14 Calmus S. 27.


15 Hiller, Lebensbeschr. berühmter Musikgelehrten S. 311 f.


16 Werke XI 152 ff.


17 Müller, Abschied von der Bühne S. 140.


18 Müller S. 146, 157.


19 Müller S. 163.


20 Weiße, Selbstbiogr. S. 103 f. Ähnlich in der Vorrede zur »Apotheke« S. VIII. Schmid, Das Parterre S. 155 f.


21 Müller S. 183 f.


22 Ebenda S. 188.


23 Briefe e. aufm. Reis. I 141 ff. Über d. kom. Oper S. 6. Mus. Kunstmag. I 161 ff. Geist d. mus. Kunstmag. S. 94 ff.


24 Dichtung und Wahrheit II 8.


25 Natürlich in ihrer ersten Fassung. Claudine gemahnt auch in ihrer ganzen, den Sturm und Drang verratenden Haltung am meisten an die Franzosen. Claudines Wort: »Je näher wir der Natur sind, je näher fühlen wir uns der Gottheit«, könnte in mancher Pariser komischen Oper stehen (Werke, Jub.-Ausg. XI 42), vgl. oben S. 532.


26 Von Italien schreibt er am 14. September 1787 (XXVII 109): »Erwin und Elmire ist zur Hälfte schon umgeschrieben. Ich habe gesucht dem Stückchen mehr Interesse und Leben zu verschaffen und habe den äußerst platten Dialog ganz weggeschmissen. Es ist Schülerarbeit oder vielmehr Sudelei.«


27 Nur bei »Jery und Bätely« verfuhr er aus äußeren Gründen streckenweise umgekehrt.


28 So gleich in der ersten Arie Jobsens in den »Verwandelten Weibern«, die überhaupt in ihrem Tempowechsel und ihrem verbissenen Humor (vgl. dazu besonders den an Mozart gemahnenden chromatischen Quartenaufstieg) ein gutes Beispiel für Standfuß' ganze Art darbietet.


29 Die weit verbreitete Ansicht, Hiller habe grundsätzlich den hochgestellten Personen Arien, den Bauern usw. dagegen einfache Lieder in den Mund gelegt, trifft nicht zu, vielmehr benutzt er die Arie stets in Augenblicken gesteigerter Leidenschaft, gleichviel um welche Personen es sich handelt, vgl. Calmus S. 43 f.


30 So z.B. in Wilhelminens Arie »Lebe wohl Du Land der Knechtschaft«, Grab des Mufti II 10, mit ihrem großen Ritornell und ihren Riesenkoloraturen.


31 Seine Rondos sind deshalb bemerkenswert, weil sie das Hauptthema mitunter selbständig variieren und auch in anderen Tonarten bringen, eine Behandlung, die ja in den Instrumentalrondos Ph. E. Bachs eine große Rolle spielt (vgl. das Quartett im Erntekranz III 13).


32 So besonders in der gelungenen Gewittersinfonie (d-Moll!) der »Jagd«, die genau wie in der französischen Vorlage, Monsignys »Roi et fermier«, mit dem vorhergehenden Duett motivisch verbunden ist (s.o.S. 541).


33 Vgl. Ph. Spitta, Musikgesch. Aufs. 408, 410, 413.


34 Das Hauptthema mag wegen seiner ausgesprochenen, in der italienischen Umgebung sonst sehr seltenen Kantabilität ebenfalls erwähnt werden.


35 Kretzschmar, Gesch. d. neueren deutschen Liedes I 262.


36 Vgl. die Berichte Reichardts aus Berlin und Leipzig (Briefe e. aufm. Reis. I 147, II 94. Burney, Reise III 46 f.) und Müllers aus Dresden (Abschied 173).


37 Deutsches Museum 1779 II 268. Plümicke, Entw. e. Theatergesch. v. Berlin 205 ff.


38 L. Schneider, Gesch. der Oper in Berlin S. 209.


39 Vgl. F. Brückner SIMG V 571 ff.


40 Den ersten Anstoß dazu hatte Hiller selbst in seinem Lisuart III 7 gegeben, wo Derwin in ein ausgedehntes Orchesterstück von Zeit zu Zeit immer wieder ein paar Rezitativtakte hineinsingt. Ein eigentliches Akkompagnato im späteren Sinne kann man das aber kaum nennen, und Hiller selbst ist auf diesen Punkt später nicht wieder zurückgekommen.


41 Hierher gehört gleich der witzige Tusch der Instrumente in dem ersten Trinkerchor des Dorfjahrmarkts.


42 Vgl. Walder 3.


43 S.o.S. 362.


44 Dichterisch wichtig als Vorläufer des Freischütztextes, dessen wilde Jagd in diesem »wütenden Heer« vorweggenommen ist.


45 In Roberts Arie Wütendes Heer II 8 bricht die Singstimme plötzlich ab: »macht mein Weibchen mich zum – –«, ein Hahnruf der Oboen und Fagotte ergänzt das Bild des Hahnreis, ein Seitenstück zu dem damals beliebten, auch im Figaro auftauchenden Witz mit den Hörnern.


46 Auch die gesprochenen Zwischenbemerkungen in den Gesängen gehören dazu.


47 Vgl. die Zeichnung der wilden Jagd Wütendes Heer II 3–4, in deren Chorsätzen auch Glucks Vorbild nachwirkt. Die Szene ist außerdem nach Pariser Muster auch in der Ouvertüre benutzt.


48 Schon der Töpfer verlangt Klarinetten.


49 Vgl. besonders das Quintett des Töpfers (7) und die beiden groß angelegten Duette des Tatarischen Gesetzes (II 2) und des Wütenden Heeres (I 12).


50 Das vierte besteht in einem eigentümlich hochgestimmten, auch im Satze strenger gehaltenen Chor.


51 Das gemahnt an die Art der »Serenaten« von 1777, vgl. Kretzschmar, Gesch. des neueren deutschen Liedes I 275 f.


52 S.o.S. 364.


53 In Schwaben hatte sich, wie im Liede, so auch in der dramatischen Kunst eine derbe, volkstümliche Richtung erhalten, die im Gegensatz zu den theoretisierenden Norddeutschen alles Heil im Zurückgehen auf die Musik des Volkes selbst erblickte. Den Beweis liefern Sammlungen wie die Ostracher Liederhandschrift und Rathgebers Tafelkonfekt mit ihren Liedern, Quodlibets und komischen Kantaten, namentlich aber Singspiele, wie des bekannten schwäbischen Geistlichen und Dialektdichters Seb. Sailer »Schöpfung« (1743, also lange vor Standfuß). Vgl. R. Lach, Denkschr. der Kais. Akad. der Wissensch. in Wien, phil.-hist. Klasse, Bd. 60, 1 (1917). Auch das Lied D.F. Schubarts ist aus diesem Boden erwachsen. Über die Singspielkomponisten der Karlsschule vgl. H. Abert, Herzog Karl Eugen u.s. Zeit, Heft 7 (Eßlingen 1905), S. 588 ff.


54 S.o.S. 720.


55 R. Haas DTÖ XVIII 1.


56 J. Haydn hat im Winter 1751/52 seine dramatische Tätigkeit mit einem derartigen Stücke »Der neue krumme Teufel« von J.F.v. Kurz begonnen. Pohl, Haydn I 153.


57 Pohl II 356.


58 Haas S. XXIV. Vgl. im allgemeinen noch Theaterkalender von Wien für 1772 S. 5 ff.


59 Haas zählt S. XXIII einige dieser Stücke auf, unter denen sich auch Mozarts »Bastien« befindet.


60 Haas S. XXV.


61 Neudruck von Haas a.a.O., vgl. dazu A. Heuß, ZIMG XIII 164 ff.


62 B II 126.


Quelle:
Abert, Hermann: W. A. Mozart. Leipzig 31955/1956, S. 764.
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