XI.

[65] Wenn ein Künstler Werke in großer Anzahl geliefert hat, die sämmtlich von der verschiedensten Art sind, die sich von den Werken aller andern Componisten jedes Zeitalters unterscheiden und den höchsten Reichthum der originellesten Gedanken, so wie den lebendigsten, jeden, er sey Kenner oder Nichtkenner, ansprechenden Geist mit einander gemein haben, so ist es wohl keine Frage mehr, ob ein solcher Künstler wirklich ein wahres großes Kunst-Genie gewesen sey, oder nicht. Die fruchtbarste Einbildungskraft, der unerschöpflichste Erfindungsgeist, die feinste und schärfste Beurtheilung in der für jeden Zweck schicklichen Anwendung des aus der Einbildungskraft strömenden Gedankenreichthums, der gebildetste Geschmack, der auch nicht einen einzigen willkührlichen, oder nur dem Geist des Ganzen nicht genug angehörigen Ton ertragen kann, die größte Gewandtheit im zweckmäßigen Gebrauch der feinsten und scharfsinnigsten Kunstmittel, und endlich der höchste Grad von Geschicklichkeit in der Ausführung, lauter Eigenschaften, bey welchen nicht nur eine, sondern alle Kräfte der Seele in ihrer innigsten Vereinigung wirksam seyn müssen; dieß müssen Merkmahle eines wahren Genies seyn, oder es gibt keine, und wenn Jemand diese Merkmahle in den Bachischen Werken nicht finden kann, so kennt er sie entweder nicht, oder nicht genug. Wer sie nicht kennt, kann unmöglich weder über sie, noch über das Genie ihres Urhebers eine Stimme haben, und wer sie nicht genug kennt, der beherzige, daß Kunstwerke, je größer und vollendeter sie sind, desto anhaltenders Studium erfordern, wenn aller Werth erkannt werden soll, der in ihnen liegt. Jener Schmetterlingsgeist, der unaufhörlich von Blume zu Blume flattert, ohne auf irgend einer zu verweilen, kann hier nichts ausrichten.

Aber mit allen den schönen und großen Anlagen, welche Bach von der Natur erhielt, würde er doch der vollendete Künstler nicht geworden seyn, wenn er nicht frühe manche Klippen vermeiden gelernt hätte, woran so viele vielleicht eben so reichlich mit[65] Genie begabte Künstler zu scheitern pflegen. Ich will hierüber dem Leser noch einige zerstreute Bemerkungen mittheilen, und sodann mit einigen zur Charakteristik des Bachischen Genies gehörigen Zügen diesen Aufsatz beschließen.

Das größte Genie, mit dem unwiderstehlichsten Trieb zu einer Kunst, ist seiner ursprünglichen Natur nach nie mehr als Anlage, oder ein fruchtbarer Boden, auf welchem eine Kunst nur dann recht gedeihen kann, wenn er mit unermüdeter Sorgfalt bearbeitet wird. Fleiß, von dem eigentlich erst alle Kunst und Wissenschaft herkommt, ist hierzu eine der ersten und unerläßlichsten Bedingungen. Durch ihn wird das Genie nicht nur der mechanischen Kunstmittel mächtig, sondern er reitzt auch nach und nach die Urtheilskraft und das Nachdenken auf, an allem, was es hervorbringt, Theil zu nehmen. Allein, die Leichtigkeit, mit welcher das Genie sich mancher Kunstmittel zu bemächtigen weiß, und das eigene so wohl als das Wohlgefallen Anderer an den ersten Kunstversuchen, die gewöhnlich viel zu frühe für wohlgerathen gehalten werden, verleitet es sehr häufig, über die ersten Grundsätze der Kunst wegzuspringen, Schwierigkeiten zu wagen, ehe das Leichtere völlig gefaßt ist, oder zu fliegen, ehe ihm die Flügel genug gewachsen sind. Wenn nun ein solches Genie in dieser Periode entweder durch guten Rath und Unterricht, oder durch aufmerksames Studium schon vorhandener classischer Kunstwerke nicht wieder zurück geführt wird, um das, was übersprungen worden ist, nachzuholen, so wird es seine besten Kräfte unnütz verschwenden, und sich nie zu einer würdigen Kunststufe empor schwingen können. Denn es bleibt ausgemacht, daß man nie große Fortschritte machen, nie die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen kann, wenn man die ersten Grundsätze vernachlässigt: daß man nie Schwierigkeiten überwinden lernt, wenn man das Leichtere nicht überwunden hat, und daß man endlich nie durch eigene Erfahrungen groß werden wird, wenn man nicht vorher die Kenntnisse und Erfahrungen Anderer benutzt hat.

An solchen Klippen scheiterte Bach nicht. Sein feuriges Genie hatte einen eben so feurigen Fleiß zur Folge, der ihn unaufhörlich antrieb, da, wo er mit eigenen Kräften noch nicht durch zu kommen wußte, Hülfe bey den zu seiner Zeit vorhandenen Mustern zu suchen. Anfänglich leisteten ihm die Vivaldischen Violinconcerte diese Hülfe, nachher wurden die Werke der damahligen besten Clavier- und Orgelcomponisten seine Rathgeber.[66] Nichts ist aber fähiger das Nachdenken eines angehenden Componisten zu erwecken, als die contrapunctischen Künste. Da nun die Componisten der letztgenannten Werke sämmtlich starke Fugisten nach ihrer Art waren, die die contrapunctischen Künste wenigstens mechanisch in ihrer Gewalt hatten, so schärfte das fleißige Studium und Nachahmen derselben seinen Verstand, seine Urtheilskraft und sein Nachdenken nach und nach so, daß er bald bemerkte, wo er Lücken gelassen und etwas nachzuholen hatte, um sodann in seiner Kunst mit Sicherheit desto größere Fortschritte machen zu können.

Eine zweyte Klippe, woran manches schöne, noch nicht genug ausgebildete Genie scheitert, ist öffentlicher Beyfall. Wenn wir diesen öffentlichen Beyfall auch nicht so tief herunter setzen wollen, wie jener Grieche, der zu seinem Schüler, welcher im Theater mit Beyfall gespielt hatte, sagte: Du hast schlecht gespielt: denn sonst würde dich das Publicum nicht beklatscht haben; so ist doch nicht zu läugnen, daß die meisten Künstler durch ihn auf Irrwege geführt werden, besonders wenn er ihnen zu frühe, das heißt: ehe sie gehörige Ueberlegung und Selbstkenntniß erlangt haben, zu Theil wird. Das Publicum will alles menschlich haben, und der wahre Künstler soll doch eigentlich alles göttlich machen. Wie sollte also Beyfall der Menge und wahre Kunst neben einander bestehen können? Diesen Beyfall der Menge suchte Bach nie. Er dachte wie Schiller:


Kannst du nicht allen gefallen durch deine That und dein Kunstwerk.

Mach' es wenigen recht, vielen gefallen ist schlimm.


Er arbeitete für sich, wie jedes wahre Kunstgenie; er erfüllte seinen eigenen Wunsch, befriedigte seinen eigenen Geschmack, wählte seine Gegenstände nach seiner eigenen Meynung, und war endlich auch mit seinem eigenen Beyfall am zufriedensten. Der Beyfall der Kenner konnte ihm sodann nicht entgehen, und ist ihm nie entgangen. Wie könnte auch auf andere Art ein wahres Kunstwerk zu Stande gebracht werden? Derjenige Künstler, welcher sich bey seinen Arbeiten darauf einläßt, sie so einzurichten, wie es diese oder jene Classe von Liebhabern wünscht, hat entweder kein Kunstgenie, oder er mißbraucht es. Sich nach dem herrschenden Geschmack der Menge zu richten, erfordert höchstens einige Gewandtheit in einer sehr einseitigen Behandlungsart der Töne. Künstler dieser Art sind dem Handwerksmanne zu vergleichen, der seine Arbeiten ebenfalls[67] so einrichten muß, daß seine Kunden sie gebrauchen können. Bach ließ sich nie auf solche Bedingungen ein. Er meynte, der Künstler könne wohl das Publicum, aber das Publicum nicht den Künstler bilden. Wenn er von jemand um ein recht leichtes Clavierstück gebeten wurde, welches oft geschah, pflegte er zu sagen: ich will sehen, was ich kann. Er wählte in solchen Fällen gewöhnlich ein leichtes Thema, fand aber bey der Bearbeitung immer so viel gründliches darüber zu sagen, daß das Stück dennoch nicht leicht werden konnte. Wenn nun hernach geklagt wurde, daß es doch zu schwer sey, lächelte er und sagte: Ueben Sie es nur recht fleißig, so wird es schon gehen; Sie haben ja fünf eben so gesunde Finger an jeder Hand wie ich War dieß Eigensinn? Nein, es war wahrer Kunstgeist.

Dieser wahre Kunstgeist ist es eben, der ihn zum Großen und Erhabenen, als dem höchsten Ziel der Kunst führte. Ihm haben wir es zu verdanken, daß Bachs Werke nicht bloß gefallen und ergötzen, wie das bloß Schöne und Angenehme in der Kunst, sondern daß sie uns unwiderstehlich mit sich fortreißen: daß sie uns nicht bloß einen Augenblick überraschen, sondern in ihren Wirkungen immer stärker werden, je öfter wir sie hören, und je näher wir sie kennen lernen; daß der in ihnen aufgehäufte ungeheuere Gedankenreichthum auch nach tausendmahliger Betrachtung uns noch immer etwas Neues übrig läßt, das unsere Bewunderung und oft unser Staunen erregt; daß endlich selbst der Nichtkenner, der nichts weiter als das musikalische Alphabet kennt, sich kaum der Bewunderung erwehren kann, wenn sie ihm gut vorgetragen werden, und wenn er ihnen Ohr und Herz ohne Vorurtheil öffnet.

Noch mehr. Diesem wahren Kunstgeist muß es verdankt werden, daß Bach mit seinem großen und erhabenen Kunststyl auch die feinste Zierlichkeit und höchste Genauigkeit der einzelnen Theile, woraus die große Masse zusammen gesetzt ist, verband, die man sonst hier nicht für so nothwendig hält, als in Werken, bey welchen es bloß auf Schönheit abgesehen ist; daß er glaubte, das große Ganze könne nicht vollkommen werden, wenn den einzelnen Theilen desselben irgend etwas an der höchsten Genauigkeit fehle: und daß endlich, wenn er, ungeachtet der Hauptrichtung seines Genies zum Großen und Erhabenen, dennoch bisweilen munter und sogar scherzend setzte und spielte, seine Fröhlichkeit und sein Scherz die Fröhlichkeit und der Scherz eines Weisen war.[68]

Nur durch diese Vereinigung des größten Genies mit dem unermüdetsten Studium vermochte Joh. Seb. Bach das Gebiet der Kunst überall, wohin er sich wandte, so ansehnlich zu erweitern, daß seine Nachkommen nicht einmahl im Stande waren, dieses erweiterte Gebiet in seiner ganzen Ausdehnung zu behaupten; nur dadurch konnte er so zahlreiche und so vollendete Kunstwerke hervorbringen, die sämmtlich wahre Ideale und unvergängliche Muster der Kunst sind und ewig bleiben werden.

Und dieser Mann – der größte musikalische Dichter und der größte musikalische Declamator, den es je gegeben hat, und den es wahrscheinlich je geben wird – war ein Deutscher. Sey stolz auf ihn, Vaterland; sey auf ihn stolz, aber, sey auch seiner werth!

Quelle:
Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 (Nachdruck Frankfurt am Main 1950), S. 65-69.
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