X.

[441] Über die »Vier ernsten Gesänge«, das letzte, noch von Brahms mit der Opuszahl 121 versehene Werk des Meisters, liegen mehrere schriftliche Äußerungen von ihm vor, die, mit mündlichen Überlieferungen parallel laufend oder divergierend, einander zu widersprechen scheinen. Bei oberflächlicher Lektüre treten die Widersprüche stärker hervor, die bei gründlicher Prüfung vollständig verschwinden werden. Zunächst fällt der heitere, fast leichtfertige Ton auf, mit dem Brahms gelegentlich von den »gottlosen Schnadahüpferln«, den »Schnadahüpferln vom 7. Mai« oder den »Schnadahüpferln« schlechthin spricht, als wäre es selbstverständlich, daß damit nur die »Vier ernsten Gesänge« gemeint sein können. Er gebraucht diesen von einer gewissen untergeordneten Sorte von kleinen Tanz- und Schelmenliedern geltenden süddeutschen Ausdruck nicht bloß in den Briefen an Simrock, mit dem er sich immer bespaßte und neckte, sondern auch gegen andere. Daß dies keine Geringschätzung, sondern eher das Gegenteil bedeuten sollte, weiß jeder, der mit Brahmsschen Humoren vertraut ist. Gerade hier, wo es sich um die tiefsinnigsten und ernstesten Betrachtungen des allgemeinen Menschenloses handelt, auch außerhalb der Kunst ins Feierliche zu geraten, wäre dem aller Pose feindlichen Brahms gegen den Strich gegangen. Je mehr er mit seinem individuellen Empfinden bei der Komposition der das Furchtbare so gelassen aussprechenden Bibelstellen engagiert war, desto weniger wollte er zeigen, wie nahe ihn jene Worte angingen, die er zu seinen eigenen gemacht hatte, indem er sie aus dem Innersten des Herzens heraussang.

Dies zur Orientierung vorausschickend, kommen wir auf die im vorigen Kapitel öfters angeführte, von Brahms mit besonderem [441] Nachdruck hervorgehobene und wiederholte Versicherung zurück, er habe die Gesänge »sich und nur sich« zum Geburtstage geschenkt. Gewiß betrachtete er die Komposition zuerst als Privatangelegenheit, in Übereinstimmung mit seinem beim vorletzten Abschied von Klara Schumann im Februar 1895 kundgegebenen Willen, »nichts mehr für die Öffentlichkeit, sondern nur noch Einiges für sich« zu komponieren.1 Damals wird aller Wahrscheinlichkeit nach schon ein Teil von op. 121 fertig gewesen sein, und zwar das vierte Lied, das mit den drei andern, im Mai 1896 geschriebenen, nicht nur in gar keinem ersichtlichen äußeren Zusammenhange steht, sondern auch den Charakter des Ganzen, allerdings zu dessen und seinem Glück, verändert. Warum Brahms – unsere Annahme zugegeben – gerade das vierte Lied dem Publikum vorenthalten wollte, soll weiter unten gezeigt werden.

Es wäre immerhin denkbar, daß Brahms, was Nr. 1–3 betrifft, des »gottlosen« Textes oder vielmehr der Verherrlichung wegen, die er ihm angedeihen ließ, wirklich Skrupel gehabt hat, und die Möglichkeit, daß ich ihm an seinem Geburtstage in dem geheimen Verlangen nach öffentlicher Mitteilung bestärkte und zu schneller Sinnesänderung veranlaßte, ist nicht ausgeschlossen.2 Längst hätte er gern Max Klinger, dem Dichter der »Brahms-Phantasie« ein bleibendes Zeichen seiner dankbaren Verehrung gegeben. Er fühlte sich noch immer in der Schuld des Künstlers, der ihn im Frühling 1896 wieder besucht hatte, und als der inniggeliebte Vater Klingers starb, den der Sohn heiß betrauerte, empfahlen sich die »Ernsten Gesänge« als beredtestes Zeugnis freundschaftlicher Teilnahme. Auch ihn hatten sie getröstet, als er das Andenken Derer, die ihm in den letzten Jahren entrissen worden waren, mit ihren dunkeln Blumen schmückte, und als er Denen, die er an seiner Seite hinsiechen und absterben sah, die Stimme jener gewaltigen Klage lieh, welche auch der letzten schuldlos gemarterten Kreatur ein Recht gibt, im Chorus des großen [442] Weltleides mitzusingen, daß es ans Ohr des Ewigen dringe. Am 23. Juni schrieb er Klinger:


»Lieber und Verehrter,


Was werden Sie sagen, wenn nächstens ein paar Liederchen von mir kommen und ausdrücklich Ihnen zugeeignet sind! Aber ich habe Ihrer oft dabei gedacht, und wie tief Sie die großen gedankenschweren Worte ergreifen möchten. Auch wenn Sie ein Bibelleser sind, werden sie Ihnen unerwartet kommen, mit Musik aber jedenfalls. Nun und jedenfalls wollte ich Ihnen damit einen herzlichen Gruß sagen, was ich seit den Wiener Tagen so oft und gern tun wollte – das Briefpapier kommt mir aber so schwer in die Hand!

Ich denke recht herzlich an Ihre freundliche Häuslichkeit und Ihre Frau Mutter, der Sie jetzt der schönste Trost sind. Empfehlen Sie mich ihr freundlichst und seien Sie selbst bestens gegrüßt von Ihrem


J. Brahms.«


Vierzehn Tage später, am 7. Juli, ging folgendes Schreiben an Marie und Eugenie Schumann ab:

»Wenn Ihnen nächstens ein Heft ›Ernsthafte Gesänge‹ zukommt, so mißverstehen Sie diese Sendung nicht. Abgesehen von der alten lieben Gewohnheit, in solchem Fall Ihren Namen zuerst zu schreiben, gehen die Gesänge Sie auch ganz eigentlich an. Ich schrieb sie in der ersten Maiwoche; ähnliche Worte beschäftigten mich oft, schlimmere Nachrichten von Ihrer Mutter meinte ich nicht erwarten zu müssen – aber tief innen im Menschen spricht und treibt oft etwas, uns fast unbewußt, und das mag wohl bisweilen als Gedicht oder Musik ertönen. Durchspielen können Sie die Gesänge nicht, weil die Worte Ihnen jetzt zu ergreifend wären. Aber ich bitte, sie als ganz eigentliches Totenopfer für Ihre geliebte Mutter anzusehen und hinzulegen.«3

»In Gedanken an Klara«, wie Litzmann auf Grund dieses Briefes behauptet, sind die »Ernsten Gesänge« nicht entstanden. Brahms gesteht dort das Gegenteil ein. Derlei Worte beschäftigten ihn oft, schreibt er, und schlimmere Nachrichten hätte er [443] gerade in der ersten Maiwoche nicht befürchten zu müssen geglaubt. Eine ihm selbst unbewußte Stimme aber habe vielleicht ihn zur Komposition des Textes angetrieben. Sein frischer Schmerz, noch mehr aber sein Zart- und Taktgefühl hießen ihn, nachdem er der Wahrheit die Ehre gegeben, die Töchter des Verstorbenen bitten, das Liederheft »als ganz eigentliches Totenopfer anzusehen und hinzulegen«. Wäre das Werk das ganz eigentliche Totenopfer selbst gewesen, so würden zweifelsohne anstatt des Namens Max Klinger der Klara Schumanns oder die ihrer Töchter auf dem Titelblatte stehen.

Die Texte zu den ersten drei ernsten Gesängen hatte sich Brahms aus seiner alten Hamburger Knabenbibel von 1833 exzerpiert und in das öfters erwähnte Quartheft eingetragen. Kaum beruhigt von den Drangsalen seines schwer bekümmerten Herzens, in welche ihn die politischen Ereignisse der Jahre 1888–1890 gestürzt hatten, schmachtete er nach neuem Trost, als sich schnell nacheinander die schrecklichen Krankheits- und Todesfälle in seiner näheren Umgebung ereigneten, welche ihn der Schwester und seiner besten Freunde beraubten. Die »Ernsten Gesänge« könnten ebensowohl als Grabesspende für Elisabet v. Herzogenberg, Billroth und Bülow anzusehen sein wie als Totenopfer für Klara Schumann, die erst starb, nachdem sie komponiert worden waren. Ohne Zweifel mag dem Trauernden an mehr als einer Stelle die von Leiden heimgesuchte Freundin durch den Sinn gegangen sein; aber andere von Krankheit und Tod entstellte Bilder inniggeliebter Personen traten ihm vor Augen, als er sich die Bücher Hiobs, des Predigers und Jesus Sirachs zu Gemüte zog.

Die dem Buche Sirach entlehnten Verse (41, 1–4) »O Tod, wie bitter bist du,« nehmen in jenem Hefte die erste Stelle ein und folgen Auszügen aus dem ersten Buche der Könige Kap. I 11. 12. 13. 14. (»Und es geschah des Herrn Wort zu Salomo« usw.) wo die Verheißung Gottes beim Tempelbau bekräftigt wird. Ein NB. verweist auf die Kapitel »Weisheit Salomos«, in denen der Herrscher Israels, »auch ein sterblicher Mensch wie die andern«, zu Gott um Erleuchtung fleht. Brahms schreibt dazu »Gebet eines Königs«. Seine Absicht ist deutlich: er wollte dem jungen deutschen Kaiser mit seiner Kunst hilfreich beispringen, ihm einen [444] klassischen Regenten-Spiegel vorhalten.4 Die Einzeichnung wurde offenbar um die Zeit der ersten Kaiserreden und der Abdankung Bismarcks gemacht. Nur durch einen Strich von ihr getrennt, schließen sich die Auszüge aus den Lehrbüchern des Alten Testaments und den Apokryphen an. Auch hier blieb manches von dem, was vorgemerkt war, unkomponiert. »Fürchte den Tod nicht!« fährt Sirach fort, »Gedenke, daß es also vom Herrn geordnet ist über alles Fleisch, beide, derer, die vor dir gewesen sind, und nach dir kommen werden.« Und beim Prediger heißt es vor dem Verse »Denn es gehet dem Menschen«: » Ich sprach in meinem Herzen: Es geschieht von wegen der Menschenkinder, auf daß Gott sie prüfe, und sie sehen, daß sie an sich selbst sind wie das Vieh.« Beide Stellen erweckten keinen musikalischen Widerhall in Brahms und doch hat er beide aufgeschrieben. An die Höhe der von ihm komponierten Verse reichen sie nicht hinan und verdächtigen sich fast wie Einschiebsel frommer Redaktoren. »Es ist wie bei einem griechischen Marmor,« sagte Klinger zu Brahms, »viel würde ein Anderer noch dazusetzen, wo doch nur die Knappheit des Wesentlichen den Wert gibt.«

Als Brahms beim Einschreiben an den Satz kam: »Darum sahe ich, daß nichts besseres, denn daß der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit«, konnte er sich nicht enthalten, hinter »fröhlich« ein vielsagendes Ausrufungszeichen in Klammer zu setzen.

Nun aber stoßen wir auf eine sehr merkwürdige Entdeckung: die Verse aus dem Korintherbriefe, welche den Text zu dem letzten der vier »Ernsten Gesänge« enthalten, reihen sich dort nicht an die andern an, sondern erscheinen, durch zwei leere Seiten abgetrennt und sind in Tinte und Schrift völlig von jenen verschieden. Sie stehen »auf einem andern Blatt und sind ein wunderlich Kapitel«. Dieselbe Separation findet bei dem im Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde befindlichen Manuskript von op. 121 statt. Es zeigt zur Evidenz, daß das vierte Lied von Anfang an nicht als Abschluß des Zyklus vorgesehen war. Es dürfte auch kaum das zuletzt entstandene sein, obwohl das Datum vom 7. Mai groß [445] und deutlich darunter steht – eine Zeitangabe, nicht für die Entstehung, sondern für den Abschluß des Ganzen gemeint! Nummer 2 hat mit Nummer 1 den Platz tauschen müssen, wie die mit Blaustift geschriebenen Zahlen des Manuskripts beweisen. Die Umnumerierung wurde in dem Augenblick nötig, da Brahms sich entschloß, dem niederdrückenden Grabgesange des ersten Satzes das erhebende Auferstehungslied des letzten gegenüberzustellen, so daß die dadurch gewonnene zyklische Form des Werkes beinahe einen sonatenhaften oder sagen wir gleich einen symphonischen Charakter erhielt. Die Vermutung drängt sich auf, daß das Finale einmal zu einer eigenen Mission berufen war, und das Unikum von einem Skizzenblatte, das sich im Nachlasse des Tondichters vorfand, steigert diese Vermutung zur Gewißheit.

Ein augenfälliges Zeugnis für das Ineinandergreifen von Inspiration und Arbeit, das unter den wenigen auf die Nachwelt gekommenen Skizzenblättern des Meisters nicht seinesgleichen hat, gibt uns das gebräunte, staubfleckige Notenpapier erwünschten Aufschluß über schwebende Fragen und stellt uns vor neue Rätsel. Das zwanziglinige Blatt ist auf beiden Seiten mit einem Gewimmel von Noten und Taktstrichen bedeckt, die teils mit Bleistift, teils mit Tinte hingekritzelt sind. Auf der Stirnseite befindet sich eine Orchesterpartituranlage mit vielen Korrekturen. Die Verteilung des (kontrapunktischen) Satzes auf verschiedene Instrumente wurde nicht überall gleich fixiert, sondern stellenweise nachgetragen. Der Anfang lautet:


10. Kapitel

10. Kapitel

[446] Wie man an dem Auflösungszeichen zu Beginn des ersten Taktes sieht, ist dieser Anfang in Es bereits die Fortsetzung eines As-dur-Stückes, von dem auf dem abgerissenen Querfolioblatte nichts erhalten ist. In derselben Art geht es fünfundvierzig Takte fort. Der sechsundvierzigste bringt mit drei motivisch von 1a und b abgeleiteten Akkorden:


10. Kapitel

den vorbereitenden Übergang zu einem Seitenthema in B-dur:


10. Kapitel

Ziehen wir zur Vergleichung aus dem zweiten der »Vier ernsten Gesänge« die vier Takte heran:


10. Kapitel

[447] so wird uns die frappante Ähnlichkeit zwischen dem Übergang (3.) und der Einführung zu »Da waren Tränen« (4.) sofort in die Augen springen. Jene in Beispiel 3. den Flöten und Fagotten zugewiesene Variante ist nahezu identisch mit der Gesangsstelle »Tränen, derer«. In der untersten Zeile der Partituranlage begegnet uns der Baß:


10. Kapitel

Er ruft uns den Beginn des Grave »O Tod« (op. 121 Nr. 3) ins Gedächtnis.

Diese Beispiele genügen zur Feststellung der Tatsache, daß Brahms ein Orchesterwerk schaffen wollte, in welchem Motive der »Vier ernsten Gesänge« vorkamen. Der Gedanke an die Violinsonate op. 100 – um nur sie als nächstliegendes Analogon heranzuziehen – könnte uns glauben machen, es habe sich auch bei diesem Skizzenblatt darum gehandelt, eine Art von Phantasie über bereits vorhanden gewesene Lieder zu komponieern, deren Melodien dann wohl ganz neue thematische Verbindungen eingegangen wären. Das ließe sich einstweilen hören. Aber das Blatt wendet sich, es hat auch eine Rückseite, und deren Betrachtung führt zu ganz anderen Ergebnissen.

Wir finden dort eine so gut wie vollständige Skizze zu dem letzten der »Ernsten Gesänge«. Die beiden Hauptsätze seines Es-dur- und H-dur-Teiles folgen einander hier unmittelbar, als hätte immer einer vom andern abgelöst werden sollen. Aber es lag vielleicht nur an dem hastigen Wunsch, den erhabenen Einfall des zweiten Themas festzuhalten, was den Schreiber verhinderte, nach der Schnur fortzufahren. Während er in eiligen dichtgedrängten Bleistiftzeichen die Noten zu »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete« hinwarf, läuteten schon die tiefsten Glocken seines Himmels herein; die Stimme sang: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel«, und er fixierte die überirdischen Klänge, ehe sie entschwebten. Derselbe Vorgang wiederholt sich beim zweiten Anlauf; das sprühende Es-dur-Thema, das wie ein brennender Busch lodert und die ihm zugeworfenen Worte gierig[448] verzehrt, bricht abermals ab, als sich die wunderbare Fortsetzung der H-dur-Melodie meldet: »Jetzt erkenne ich's stückweise«, jenes »Stirb und werde!«, wie es nie zuvor erschütternder ausgesprochen und gesungen worden ist. Erst hinterher kommt die von einem zum andern Abschnitt überteilende melodische Phrase: »So wäre mir's nichts nütze«, und zwar in der Form:


10. Kapitel

Aber wie seltsam: der Auftakt (»so«) fehlt, und ein fremder Text steht über der Melodie! Wir entziffern die Verse:


»Nun in dieser Frühlingszeit

Ist mein Herz ein klarer See.«


Die Phrase wiederholt sich mit ausweichendem Basse, und zwei Verse begleiten sie:


»Und im Quelle badest du,

Eine Nix im goldnen Haar.«


Noch verwunderlicher scheint eine dritte Textkombination, in welche das Hauptthema verflochten wird. Man würde es nicht glauben, wenn man es nicht sähe:


10. Kapitel

[449] Unter diesen instrumental gedachten Engführungen stehen die Worte


»Ich zog auf meinen Lebenswegen

Dem Schimmerlicht des Glücks entgegen.«


Die bei 6. gebrauchten Verse gehören zu dem Kellerschen Gedichte »Nixe im Grundquell«, die in 7. auftauchenden entstammen dem ersten der Rückertschen »Trauerlieder«. Keller singt:


»Nun in dieser Frühlingszeit

Ist mein Herz ein klarer See,

Drin versank das letzte Leid,

Draus verflüchtigt sich das Weh.


Spiegelnd meine Seele ruht,

Von der Sonne überhaucht,

Und mit Lieb' umschließt die Flut,

Was sich in dieselbe taucht.


Aber auf dem Grunde sprüht

Überdies ein Quell hervor,

Welcher heiß und perlend glüht

Durch die stille Flut empor.


Und im Quelle badest du,

Eine Nix' mit goldnem Haar;

Oben deckt den Zauber zu

Das Gewässer tief und klar.«


Wir mußten das Gedicht vollständig reproduzieren, um hinter die süßen Heimlichkeiten eines unsäglich zart und kindlich fromm empfindenden Herzens zu kommen. Dem Komponisten bedeuteten diese Fragmente eine ihm allein bewußte Anspielung, und ihnen hat er, nur um seiner selbst willen, ein Denkmal gesetzt, für das er, wie für andere der Art, das geweihte Plätzchen in seinen Werken offen hielt. Jener Übergangsphrase (6.), die, ihrer Neigung zur Trivialität halber, uns immer verdächtig vorkam, werden die von schwankenden Baßpfeilern gestützten Melodiebögen (8a.) abgewonnen:


10. Kapitel

[450] eine transzendentale Brücke, auf welcher die sinnliche zur übersinnlichen Liebe fortschreitet. Wir erinnern an die Fis-dur-Stelle im Andante des zweiten Klavierkonzerts und die betreffenden Ausführungen.5 Dort wie hier dieselbe weltentrückte Stimmung, die ekstatische Trunkenheit der Entsagung, und dort wie hier das mnemotechnische, einem älteren Liede entlehnte Hilfsmittel, das den Zauber erwirkt. Brahms hätte jene Phrase (6.), wie das Lied, dem sie entnommen, mit unbarmherziger, aber gerechter Kritik der Vergessenheit überantwortet, wenn sie eben nicht eine magische Kraft für ihn besessen hätte. Und diese Kraft ging von dem Frauenbild aus, das im Quellgrunde seiner Seele badete. So unwiderstehlich war der Reiz des tiefverborgenen Zaubers, daß er sich nicht enthalten konnte, die Worte Kellers dem musikalischen Zitat beizufügen, obwohl er sie gar nicht brauchte. Ebensowenig, wie die beiden Zeilen des Rückertschen Trauerliedes, die von dem »Schimmerlicht des Glückes« sprechen: es hat dem Dichter so lange wie Morgenrot vorangeleuchtet, bis er merkte, daß es im Abendschein hinter ihm liegt – »wie bin ich denn vorbeigekommen?« Sowohl das vom Andante desB-dur-Konzerts gestreifte »Todessehnen« (op. 86), wie die beiden hier in Frage stehenden, zweifellos komponierten, aber nicht herausgegebenen Lieder gehören mit ihrem Texte in das neue Quartheft, das Brahms in Pörtschach 1877–79 bei sich hatte. Es war die schöne, unvergeßliche Zeit, da »die Nix' mit goldnem Haar«, »das holde Haupt, von goldner Pracht umflossen«, als Sonne im Zenith seiner Liebe stand, da anzügliche Briefe und Manuskripte zwischen ihm und Elisabet von Herzogenberg hin- und herflogen.6 Wir wußten ja schon lange, daß Brahms, die Hoffnungslosigkeit seiner Leidenschaft durchschauend, sich in Entsagung übte; aber wir erfahren doch erst jetzt, vier Jahre nach dem Ableben der geliebten Frau und kurz vor seinem eigenen Tode, wie tief die Neigung in seinem Herzen wurzelte. Was er der Lebenden niemals gestand, bekannte er der Toten. In der Geschichte seiner Liebe zu Elisabet von Herzogenberg ist dieses sorgsam verhüllte letzte Kapitel das ergreifendste.

[451] Der Ausklang des vierten Gesanges mit den Worten »Aber die Liebe ist die größeste unter ihnen« rezipiert die Schlußtakte des Daumer-Hafisischen Ghasels »Wie bist du, meine Königin, durch sanfte Güte wonnevoll« in derselben Tonart (Es), und die Harmonie mit dem dissonierenden A im Basse, hier:


10. Kapitel

stimmt ebenso überein wie der Abschwung der Melodie, hier:


10. Kapitel

Von Zufall kann, nach dem Vorausgeschickten, die Rede nicht sein. Das Lied aus op. 32 entstand, als Brahms in Wien 1864 Musiklehrer der Sechzehnjährigen war.

Zu bemerken wäre noch, daß der erst mit »Andante«, dann mit »Con moto ed anima« bezeichnete Hauptteil des Gesanges – er wird gewöhnlich zu schnell genommen – thematisch mit dem auf der anderen Seite unsers Blattes skizzierten Orchesterstück verbunden ist, und zwar durch das Motiv:


10. Kapitel

(Siehe Notenbeispiele 1 a, b und 2!)

Jetzt dienen die drei Noten zum Ritornell, präludieren der Singstimme, gehen unter ihr in veränderter rhythmischer Form selbständig weiter, wie schon aus Beispiel 7., Takt 3 und 4, zu ersehen, und markieren die Versabschnitte. Es läßt sich nicht leugnen, [452] daß das erst hinterdrein thematisch gedeutete Motiv unmittelbar nach dem dritten Gesange (»O Tod«) nicht weniger befremdet als die Tonart, in der es auftritt (Es nach E-dur). Doch dieses Überbleibsel eines bereits in Angriff genommenen, dann wieder verworfenen Planes, welches die ursprüngliche absolute Sonderexistenz des vierten Gesanges klar erweist, entbehrt, auch abgetrennt von seinem einstigen Zwecke, nicht der ästhetischen Begründung. Ja, der besondere, dem Apostel Paulus angemessene Charakter des Finales entschuldigt nicht nur, sondern verlangt geradezu einen jähen Umtausch des Saitenspiels. Dem engen, trost- und erbarmungslosen Real-Pessimismus des Alten Testamentes begegnet die Heilsbotschaft des Neuen, das Evangelium der alles glaubenden, alles hoffenden, alles duldenden Liebe, das uns den unbegrenzten, mitleidsvollen, idealen Optimismus lehrt. An den Schranken der Erfahrungswissenschaft und des menschlichen Erkenntnisvermögens hat sich der Vernunftphilosoph den Kopf eingerannt; nun setzt der Mystiker und Ekstatiker, der Künstler und Dichter im Fluge der Phantasie darüber hinweg. Die drei Noten (Beispiel 11.) bestehen zu Recht, ihr Motiv ertönt wie Fanfaren von Hörnern, Trompeten und Posaunen, und der von Eifer glühende Apostel ergreift das Wort zu seiner gewaltigen Predigt, die wie Feuer vom Himmel fällt.

Die umständliche Untersuchung war notwendig; denn nur so gestattet sie uns, Hypothesen aufzustellen, welche Ansprüche auf einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit erheben dürfen. Demnach spielte sich der Entstehungsprozeß der »Vier ernsten Gesänge« etwa in folgender Weise ab:

Nach dem am 7. Januar 1892 erfolgten Ableben Elisabet von Herzogenbergs vertiefte sich Brahms in die Lektüre ihrer Briefe. Die Freundin sprach zu ihm, wie einst, und die verklärende Macht des Todes stellte ihr schönes Bild in ungetrübtem Glanze wieder her. Der Trauer um den Verlust, der ihm niemals empfindlicher geworden war, als wenn er seine Kompositionen von ihrem Gatten loben hörte, gesellten sich Gewissensbisse und andere noch schmerzlichere Empfindungen bei, die ihn bis zur Ungerechtigkeit verbitterten. Eine Probe davon haben wir in dem schon früher angezogenen Schreiben vom 19. März 1892 kennen gelernt, wo [453] Brahms erklärt, das unsterbliche Vermächtnis der Toten, den Schatz ihrer Briefe, mit niemand teilen zu wollen, auch nicht mit ihrem Gatten, auf den er jetzt eifersüchtiger war als bei Lebzeiten Elisabets.7 Die Reue kam dazu, das peinigende Bewußtsein, ihr unfreundlich begegnet zu sein, sie vernachlässigt und der von körperlichen Gebrechen schwer Heimgesuchten nicht nachgefragt zu haben. Ihr zürnender Schatten trat vor ihn hin und drohte die kaum wiedergewonnene lebensvolle Erscheinung junger Jahre abermals zu vernichten. Da schämte er sich seiner Rücksichtslosigkeiten und faßte den Entschluß, die Beleidigte zu versöhnen, den unbefriedigten Hunger ihres Herzens zu stillen und ihr noch einmal zu geben, was sonst das Brot ihres Lebens war: die köstlichste Probe seiner Kunst. Er wollte es sich nicht leicht machen, sondern ein Werk schaffen, das keinem seiner andern gliche, eine Symphonie-Kantate, anders als Gustav Mahlers c-moll-Symphonie, die ihm Koeßler in einem der letzten Ischler Sommer, auf Wunsch des in Unterach wohnenden Komponisten, im Manuskript vorlegte, aber von einem ähnlichen »Urlicht« erhellt und gefangen, das ihm hinüberleuchtete »in das ewig selig Leben«. Während des Entwurfes gingen ihm schon die noch im Werden begriffenen Melodien der drei alttestamentarischen Lieder durch den Sinn, deren Texte er seit Jahren mit sich herum trug. Die dazwischen tretenden Klarinettkompositionen verzögerten die Vollendung des Planes, den er ohnehin »nur für sich« ausführen wollte. 1894 oder 95 nahm er die beiseite gelegte Arbeit wieder vor. Der »Preis der Liebe« in der Verherrlichung des Paulinischen Korintherbriefes sollte der Text des Baritonsolos sein, welches als Finale zu einem oder mehreren Orchestersätzen gedacht war. Aber sei es, daß ihm die Verbindung von symphonischer und Gesangsmusik schließlich doch nicht behagte, sei es, daß der Versuch mißlang, er stand von seinem Vorhaben ab. Nachdem er die drei andern Gesänge in den ersten Maitagen von 1896 komponiert hatte, gab er auch dem vierten die Fassung, in der er uns jetzt vorliegt, und erkannte in ihm die Eignung zum Abschlusse des Zyklus, ohne in der rhapsodischen Art seines dem Zusammenhang entrissenen Anfanges ein Hindernis zu sehen.

[454] Wie die Sonne noch einmal vor ihrem Untergange in voller Glorie aus dem Gewölk der Nacht auftaucht, so erhob der Brahmssche Genius noch einmal, ehe er verlosch, seinen Flammenblick und schenkte uns mit dem Wunder seiner Vision das Kredo einer Welt- und Gottesweisheit, wie es der Meister des Deutschen Requiems aus der Heiligen Schrift nach seinem Sinn und Geschmack sich zurechtgelegt hat. Hier wie dort und anderweitig machte der Protestant wieder von dem unveräußerlichen Rechte der freien Bibelforschung den vollkommensten Gebrauch. Daß der philosophische und religiöse Zweifel gerade da seine Nahrung suchte, wo er sie zuletzt finden sollte, beim Worte Gottes, kann nur den Unkundigen befremden, der nicht weiß, daß »das Buch der Bücher« diesen seinen Ehrentitel mit Recht führt. Es steht alles darin, was eines Menschen Hirn und Herz bewegt, und es ist das göttlichste Buch, weil es das menschlichste ist. In dem berühmten und verrufenen 46. Kapitel der Ergänzungen zu Arthur Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung« kommt keine stärkere Stelle vor, als der »Prediger Salomo« sie auf jeder Seite beibringt.

Dem vielkommentierten Koheleth entnahm Brahms, wie schon oben bemerkt, die Texte zu den ersten zwei der »Ernsten Gesänge«. Der Dichter des Predigers hat sich den glücklichsten, mächtigsten und weisesten der Könige Israels ausgesucht, um ihm seine traurigen Erfahrungen und trostlosen Betrachtungen in den Mund zu legen, und Salomo kommt in der dritten Variation des Grundthemas »Vanitas, vanitatum vanitas!« zu dem niederschlagenden Ergebnisse, daß der Mensch nicht besser daran ist als das Vieh: »wie dies stirbt, so stirbt er auch«.

Und nun setzt die Musik ein. Leise und andante schwebt die Stimme des Baßsängers über den hohlen Quinten und Oktaven der Begleitung dahin in düsterem d-moll (4/4-Takt). So hörte Goethe die Lemuren singen, als sie Fausts Grab schaufelten. Der mit unheimlich gleichmütiger Ruhe wie ein unabwendbares gefühlloses Schicksal sich auf und ab bewegende Gesang wird zweimal von persönlicher Empfindung geschwellt; das allgemeine Los hat seine individuelle Farbe erhalten, der moderne musikalische Lyriker durchbricht die objektiv kühle Rede des alten Gnomikers mit selbstverräterischer Anteilnahme. Stumme Blitze leuchteten dem niederbrechenden [455] Gewitter vorauf. Das Andante wird vom Allegro verdrängt, der Takt wechselt, die Achtel stürmen in eiligen Triolen (3/4-Takt) fort – ein Wind erhebt sich, der den Staub der Erde zu Wolken ballt und in die Höhe jagt, und mit diesem Staube fährt alles dahin, was von der Kreatur übrig bleibt. Nun donnert es mit prometheischem Groll, der Titane hat das Keilbündel Kronions entwendet, um den Gott mit seiner eigenen Waffe zu zerschmettern. Es fällt Schlag auf Schlag: »Wer weiß, ob der Geist des Menschen aufwärts fahre?« Nur der Sturm antwortet mit den in den Diskant hinausgepeitschten Triolen des viertaktigen Zwischenspieles. Bei der Fortsetzung der wieder aufgenommenen Frage: »Und der Odem des Viehes unterwärts unter die Erde fahre?« stumpfen sich die scharf niedersausenden Schläge ab und werden immer verzagter, als fürchte der Usurpator göttlicher Macht an ein Geheimnis gerührt zu haben, das Götter und Menschen vernichtet. Der Titan schrumpft zum Zwerge zusammen, sein Kleinmut führt zur Resignation. In freundlichem Dur erscheint ihm der Gedanke an die Arbeit (das Brahmssche Ausrufungszeichen in seinem Textbuche!), über der der Mensch alles Elend vergißt. Aber er kann sich nicht dabei beruhigen, da er nicht weiß, für wen er arbeitet und wozu. »Wer will ihn dahin bringen, daß er sehe, was nach ihm geschehen wird?« Die abwärtssteigende chromatische Skala verspricht nichts Gutes, und der Sänger schließt nur, um wieder anzuheben, ganz wie der Prediger. Beide beginnen ein neues Kapitel des alten Leides.

Das Thema des zweiten Gesanges (g-moll, Andante 3/4-Takt) wirst seinen Schatten im Baß voraus. Der Einsame geht als sein eigener Doppelgänger zu zweit, als brauche er einen Zeugen für das Unglück, das ihm bei seiner Wanderung begegnen soll. »Ich wandte mich und sahe an alle, die Unrecht leiden unter der Sonne.« Bald füllen sich die brennenden Augen des Sehers mit Tränen, und sie fließen zusammen mit den Tränen der Unterdrückten in ein einziges Weinen, das denen, die es hören, das Herz abstößt. Unsägliches Mitleid wird von der Musik zum Ausdruck gebracht. Aus den Textworten, die nichts davon zu fühlen scheinen, bricht es in Strömen hervor wie milder Himmelstau, der die harte Erde befruchtet. Der Tröster, nach dem die Unglücklichen [456] unter der Gewalt übermütiger Peiniger vergebens seufzen, ist nahe, ward aber als solcher nicht erkannt; eingehüllt in den Schatten des wandernden Predigers, heftete er sich an seine Sohlen von Anbeginn. Bald wird ihn das zum Gedanken fortschreitende unbewußte Gefühl aus dem dunkeln Versteck hervorholen. Eine Generalpause von zwei Vierteln verkündigt seine Gegenwart. »Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen.« Eine zweite, um vier Viertel längere Generalpause deutet auf die vernichtende Erkenntnis hin, die im Geiste des Predigers reif geworden ist. Die Musik hält beklommen den Atem an, ehe sie das furchtbare Wort verkündet, als wage sie nicht, es auszusprechen, aus Scheu vor den Mächten, die das Leben regieren. Im Nachsatz zu dem Vorigen enthalten: »Und der noch nicht ist (Pause), ist besser als alle Beide« (die Toten und Lebendigen), berührt jener Ausspruch sich wundersam mit einem tragischen Chorliede des Sophokles. Es ist beinahe dasselbe Wort, das Sophokles vom Chor seines Ödipus auf Kolonos singen läßt: »Nicht geboren zu sein« usw.8 Mit der Pause preist Brahms das selige Nichts als die Voraussetzung dieses wünschenswertesten Loses und setzt die »Verneinung des Willens zum Leben« wie Schopenhauer in wohliges Dur. Das Unvorstellbare eines Zustandes, in welchem wir des Bösen, das unter der Sonne geschieht, niemals inne werden, verklärt den Schluß des Liedes mit einem magischen, ahnungsvollen Schimmer.

Nun aber enthüllt sich der Gedanke des Todes. Der Schatten emanzipiert sich von der Melodie und tritt selbständig auf in dem dritten, nach Jesus Sirach komponierten Gesange, einem Grave in e-moll (3/2-Takt) das im mittleren Alla breve-Teil nach Dur übergeht. »O Tod, wie bitter bist du!« ruft der Dichter, und der Musiker leiht dieser Apostrophe dadurch noch größeren Nachdruck, daß er sie in halben Noten bei langsamstem Zeitmaße vorbringt, daß er die Gesangspausen zu bedeutsamen Akkordwechseln in der Begleitung benutzt, und daß er die Worte sofort, die verdoppelte Anrede aber am Schlusse des ersten Teils noch einmal wiederholt. Wie lebendig und bis ins Einzelne hinein [457] charakteristisch die Musik ihren Gegenstand erfaßt und behandelt, ohne die Stimmung des Ganzen zu gefährden oder der Form Gewalt anzutun, lehren die mit nahezu dramatischer Lebendigkeit wirkenden Episoden. Eben noch schlendert die Melodie behaglich und in sich vergnügt dahin wie ein leichtlebiger junger Spaziergänger, »der gute Tage und genug hat und ohne Sorgen lebet, und dem es wohl gehet in allen Dingen und noch wohl essen mag«. Plötzlich aber reißt sie ab, der friedfertige Erdenbürger stutzt und bleibt festgewurzelt stehen, als käme ihm sein Mörder oder sein eigener Leichenzug entgegen. »O Tod! o Tod!« Und nun die Parallelszene in Dur, wo der Tod als Menschenfreund, als sorgenstillender, ruhebringender Pausanias begrüßt wird! Von dem freundlichen E-dur des sanft getönten harmonischen Hintergrundes zeichnet sich die Jammergestalt des greisen Bettlers, der, vor Hunger und Kälte zitternd, an seiner Krücke sich kaum noch aufrecht erhalten kann, in scharfen Umrissen ab. Zugleich wird das tiefste Mitleid wachgerufen für den Dürftigen, »der da schwach und alt ist, der in allen Sorgen steckt und nichts bessers zu hoffen, noch zu erwarten hat«. Nie ist Menschenliebe inniger besungen, nie die Barmherzigkeit beredter gepredigt worden als in diesen gebrochenen, mit Herzblut getränkten Tönen. Komm, du Bruder in unserm Vater Tod, wir wollen uns das Leben erleichtern oder zusammen sterben!... », O Tod, wie wohl tust du!« klingt es in der Umkehrung der Anfangsmelodie milde zurück.

Caritas, die von Jesu und seinen Jüngern in die verworrene Welt des Streites und Hasses, des dem Tod in die Hände arbeitenden bellum omnium contra omnes hinausgerufene Nächstenliebe, welche das eigensüchtige Selbst aufopfert und freudig preisgibt, diese, von Heuchlern, Wortverdrehern und Religionsfälschern umgedeutete und mißbrauchte christliche Kardinaltugend knüpft das vermittelnde Band zwischen den drei ersten und dem letzten der »Vier ernsten Gesänge«. Als die junge Christengemeinde zu Korinth uneins unter sich geworden war, und ihre Mitglieder als Schüler verschiedener Lehrer einander sektiererisch befehdeten, vermahnte sie der Apostel Paulus zur Eintracht und Liebe. Das auf den oft erwähnten Text des ersten Korintherbriefes komponierte Lied bedeutet den erhabenen Gipfel der ganzen Reihe, die [458] sich in ansteigender Linie zu ihm hinzubewegen scheint, und seine vom Licht einer höheren Welt überglänzten Zinnen hüllen sich in das dämmernde Goldgewölke der Mystik. Wie Harfenschall und Schwertergeklirr rauscht es zu den Fanfaren der einleitenden Takte, und die gewaltige Stimme des großen Heidenapostels, die scharf und blank war wie eine Eisenklinge und dabei doch lieblich und bestrickend lautete wie verführerisches Saitenspiel, beginnt ihre hinreißende Verkündigung. Mit welchem Flammeneifer hat die Musik sich der apostolischen Predigt bemächtigt, mit welcher zürnenden Geringschätzung wirst sie den Kram konventioneller Äußerlichkeiten über den Haufen! Und wie genau geht sie auf die Dialektik des Redners ein, wie durchdringt sie das rhetorische Meisterstück seiner dreigliederigen, dreimal gesteigerten Sätze! Brahms hat den Periodenbau der Rede erst in das reckte Licht gestellt, so daß jedes Auge die Kunst daran erkennt, jedes Herz von derlei denschaftlichen Natur erglüht, die sich darin ausspricht: Was helfen die wie Himmelsglocken läutenden schönen Worte, was der bergeversetzende Glaube und die mit Aufopferung der eigenen Wohlfahrt ausgeübten guten Werke, wenn die Liebe keinen Teil an ihnen hat? Ein vergessenes Christentum, das echte Paulinische, das weder durch Gebete, noch durch den Glauben, noch durch die Werke zur Seligkeit verhilft, stand in Tönen wieder auf. Immer höher wächst die Gestalt des Apostels empor. Ein Rafael der Musik hat ihn gemalt als sprechendes und singendes Seitenstück des für die Teppichweberei Pieter van Aelsts gezeichneten Kartons, wo Paulus zu Athen den heidnischen Philosophen von dem »unbekannten Gotte« predigt. Er steht fest auf sich selbst, wie »eine Säule und strahlend von göttlicher Geisteskraft«. In wenigen Takten und, wie immer, mit den einfachsten Mitteln verändert Brahms jedesmal den musikalischen Ausdruck, um den tiefen Gehalt der wechselnden Redefiguren herauszubringen und dann immer wieder mit demselben ceterum censeo auf den Refrain zurückzukommen, der in der Liebe das Fundament des zeitlichen und ewigen Heils erkannt wissen will. Während seiner feurigen Ansprache wird der Apostel gleichsam vor unseren Augen von himmlischen Modulationen wie von tragbaren Wolken ergriffen, um einen Blick ins Jenseits zu tun, und wir mit ihm Erhobenen [459] wer den des Schauens teilhaftig. An eigenem Leibe erfahren wir jenes Wunder, von welchem Paulus schreibt: »Ich kenne einen Menschen in Christo, vor vierzehn Jahren (ist es ihm im Körper oder außerhalb dessen geschehen, ich weiß es nicht, Gott weiß es) ward derselbige entzücket bis in den dritten Himmel hinaus. Und ich kenne eben diesen Menschen (ob er in dem Leibe oder außer dem Leibe gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es), der ward entzücket in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Sterblicher sagen kann«.9 Gebrochene Akkorde begleiten den Gesang des Entrückten und Verklärten, der das dunkle Wort der Offenbarung den Spiegel Gottes nennt. Einst werden wir schauen von Angesicht zu Angesicht und von Grund aus erkennen, was wir jetzt im Abbild schauen und in Bruchstücken erkennen:


10. Kapitel

Der brennende Schmerz unzureichender menschlicher Erkenntnis macht sich in den dissonierenden Akkorden der eben zitierten drei Takte, besonders zu Anfang des dritten, fühlbar, als ginge der Riß, der das Herz des Dichters spaltet, mitten durch das Weltganze; doch das folgende »dann aber« gießt heilenden Balsam in die schwärende Wunde und verheißt, sie zu schließen.

Um dieses H-dur-Satzes willen lohnt es sich gelebt, geliebt, entsagt, gelitten und gebüßt zu haben. Und wenn am Schlusse die himmlische Liebe mit der Reminiszenz des Daumer-Hafisischen Herzensköniginnen-Ghasels sich selig lächelnd der irdischen erinnert, wissen wir, wer auf der obersten Stufe der Himmelsleiter steht, um unsere Führerin zum Paradiese zu sein.

[460] Zu Beatrice und Gretchen gesellte sich Elisabet als ungenannte Dritte im Bunde.

Brahms sorgte liebevoll dafür, daß Klinger und Stockhausen von der Herausgabe der »Vier ernsten Gesänge« Probeabzüge erhielten. Er wollte den durch die Widmung ausgezeichneten Schöpfer der »Brahms-Phantasie« nicht allzulange auf die Erfüllung des ihm brieflich gegebenen Versprechens warten lassen. Sein alter Freund und Sangesherold aber sollte sich einige Zeit vor dem siebzigsten Geburtstage, den Stockhausen am 22. Juli feierte, das ihm bescherte Angebinde in Ruhe ansehen können. Wie Brahms zwei Tage nach dem Feste von Ischl an Stockhausen schreibt, der sich enthusiastisch bedankte, hätte er den Geburtstag gern mitgefeiert. Auch habe er ihn anfänglich mit seinen »etwas säuerlichen Schnaderhüpfeln«, die nicht für fröhliche Feste paßten, verschonen wollen. Hinterher aber sei es ihm lieb gewesen, sie schicken zu können. Er höre sie im Geiste von ihm singen: »sie sind wirklich wie für Dich gemacht!«

Davon, daß er die Einladung, nach Frankfurt zu kommen, von Sistermans gerade erhalten hatte, als ihm, »einer kleinen bürgerlichen Gelbsucht« wegen, eine Karlsbader Trinkkur verordnet worden war, schrieb er ihm nichts. Er hatte es dem ehemaligen Stockhausen-Schüler und Festarrangeur zur Entschuldigung seines Fernbleibens mitgeteilt, ohne dem Zwischenfalle besonderes Gewicht beizulegen. Aber jener kleinen »bürgerlichen« Gelbsucht, über welche dann mündlich und schriftlich ebensooft gescherzt wurde wie über die gottlosen Schnaderhüpfel, lag eine nicht weniger ernste Ursache zugrunde, als diesen. Schon bei Fellingers silberner Hochzeit, zu der Brahms bald nach unserem Ischler Besuche, am 14. Juni, nach Wien gefahren war, fiel seine veränderte Gesichtsfarbe auf, die leise ins Gelblich-Graue zu spielen begann.10 Seine Bekannten bemerkten die Veränderung natürlich auch, als er am 16. wieder nach Ischl zurückgekommen war, aber obwohl sich sein Blick trübte und das Weiße im Auge gelblich schimmerte, wagte es niemand, davon zu sprechen, weil er selbst nicht davon [461] sprach. Man wußte eben nicht, daß er sich niemals im Spiegel besah und auf sein Äußeres überhaupt so wenig wie möglich achtete. Endlich faßte sich Richard Heuberger, der in Steg bei Hallstatt die Ferien verbrachte und häufig mit der Bahn nach Ischl hinunter fuhr, ein Herz. Wir lassen ihn, an der Hand seiner Aufzeichnungen, die er uns bereitwilligst zur Verfügung stellte, selbst sprechen:

»Am 7. Juli war ich bei Brahms in Ischl. Er hatte wieder, wie schon letzthin bei Millers (in Gmunden) das Weiße im Auge stark gelb. Ich fragte ihn beim Spazierengehen – es war knapp beim Bahnhof Kaltenbach an der kleinen Bahn – ob er nicht irgendwelche Beschwerden habe, da er mir gelbsüchtig vorkomme. Er teilte mir einige Unregelmäßigkeiten mit, charakteristische Symptome, worauf ich ihm sagte, er sei krank und solle zum Arzt gehen. Da blieb er, den Hut in der Hand, und mich mit merkwürdigem Blick ansehend, wie angewurzelt stehen: ›Ich bin kein Hypochonder, beobachte mich gar nicht. Kein Mensch hat mir gesagt, daß er mich verändert finde. Ich danke Ihnen herzlich. Sie wissen, ich mag mit den Ärzten nicht zu tun haben, aber wenn es was Ernstliches ist, so heißt's dazu schauen. Aber es ist ärgerlich ... die paar Jahre, die man noch zu leben hat ... und ... zum Arzt (!) gehen!‹ Er beruhigte sich erst, als ich ihm, der Wahrheit gemäß, sagte, daß ich selbst einmal die Gelbsucht gehabt hätte, und daß ich wieder ganz gesund geworden wäre. Doch solle er lieber mit einem tüchtigen Arzte reden. Vielleicht könnte ihn eine kurze Kur in Karlsbad wieder herstellen. Ich empfahl ihm Dr. Hertzka (den renommierten Direktor einer Kaltwasserheilanstalt in Ischl), falls er nicht lieber Professor Schrötter aus Wien konsultieren wollte, der in Rinnbach bei Ebensee zum Sommer wohnte.

Erst am 29. Juli sahen wir uns wieder und verbrachten den Tag zusammen mit Geheimrat Wendt. Ich erfuhr, daß Brahms bei Dr. Hertzka gewesen, und daß dieser ›Gelbsucht‹ konstatiert hatte.11 Brahms sah so gelb aus wie vorher, er war stark abgemagert, ging mühsam wie ein alter Mann und zeigte [462] sich äußerst reizbar. Nach diesem Zusammensein schrieb ich ihm einen drei oder vier Bogen langen Brief, in welchem ich ihn beschwor, bei Dr. Hertzka auf eine energische Kur oder auf Karlsbad zu dringen. Darauf erhielt ich am letzten Juli folgende Karte:

›Lieber Freund, lassen Sie mich einstweilen nur sagen, daß ich über die ›Vier ernsten Gesänge‹ nicht mehr nachzudenken brauche und mich nur dankbar freue, wenn sie wen interessieren. Desto mehr aber geht mir sonst Ihr Brief im Kopf herum, und ich danke von Herzen, daß Sie so eingehend schreiben. Doch will ich nicht unnütz weiter schwätzen, sondern mit Dr. Hertzka ernsthaft reden – aber recht ärgerlich ist derweilen zumute Ihrem herzlich grüßenden J.B.‹

Bald darauf, am 2. August, folgte eine andere Karte:

›Höchst vergnügt mache ich Ihnen die pflichtschuldigste Mitteilung, daß Dr. Schrötter eben da war, mich auf das Gründlichste untersuchte und den Ausspruch getan hat: nach Karlsbad zu gehen oder überhaupt eine stärkere Kur zu gebrauchen, läge nicht der geringste Anlaß vor! Nun danke ich Ihnen aber nochmals für Ihre freundliche Sorgfalt – dann rufen Sie aber doch auch ›Hurra‹ mit Ihrem herzlich grüßenden J. Br.‹

Schrötter war, von Hertzka benachrichtigt, ›zufällig‹ nach Ischl gekommen und hatte Brahms völlig beruhigt. Worauf sein mir total unverständliches Urteil hinauswollte, erfuhr ich wenige Tage später, als ich bei der Heimkehr den Gelehrten in Wien auf dem Westbahnhof traf. Er sagte auf meine Interpellation nur ›Armer Kerl, armer Kerl‹, und als ich weiter in ihn drang: ›Karlsbad hat keinen Sinn – wo der sein Geld ausgibt, ist völlig gleichgültig‹ –«

Soweit Heuberger. Von Ischl erhielt ich durch Ludwig Karpath die alarmierende Nachricht, Brahms sei gefährlich erkrankt. Ich konnte nicht daran glauben, hatte ich ihn doch erst vor zwei Monaten munter und gesund verlassen! Um mich zu vergewissern, benutzte ich einen Vorwand – die Bitte um seine Empfehlung für das Werk eines jungen Komponisten an Martucci in Bologna – zu einer Anfrage. Übelgelaunt erteilte er mir, mit der Anrede »Geehrtester Freund«, am 11. August die abweisende Antwort: »Signor Martucci weiß entschieden besser als [463] ich, was er für Bologna gebraucht und haben will. Da ich zudem keine Pakete zurückschicke, so empfiehlt es sich, gleich an den rechten Mann zu adressieren. Ihre literarischen Forschungen lassen Sie doch auch mir zugute kommen, und wenn Sie die Gedichte von Benzel-Sternau austreiben – ich kaufe sie gern.

Aber Sie sehen, bei mir wird aus den interessantesten Stoffen kein langer Brief, wie aus den rarsten Texten kein dickes Heft. Und so danke ich nur zum Schluß für die Teilnahme, die Sie meiner bescheidenen bürgerlichen Gelbsucht widmen.

In Schilderung von derlei Abenteuern kann aber selbstverständlich mit Ihnen nicht konkurrieren


Ihr herzlich grüßender J. Brahms.«12


Von Simrock bestellte sich Brahms am 20. August »zwanzig der lieblichen und geliebten kleinen blauen Päckchen Caporal« aus der französischen Schweiz, weil ihm einfiel, »daß die Steuerbehörde mit Kurgästen kulanter umgeht als mit Wiener Einwohnern«. Dieser Genuß, der ihm jetzt, wo ihm so manches verboten wurde, was er gern aß und trank, notwendiger war als sonst, mußte die Stelle eines wirksameren Heilmittels ersetzen. Als er sich von Dr. Hertzka zum ersten Male untersuchen ließ, und der Arzt ihm alle gewürzten Speisen verbot, fragte er ängstlich: »Doch nicht auch Gulasch?«, und als Dr. Hertzka ihm erklärte: »Selbstverständlich«, sagte er »So? Dann werde ich mir einbilden, ich hätte Sie erst morgen konsultiert, und heute noch bei Eibenschütz Gulasch essen – es ist nämlich eigens für mich gekocht.«

Erst am 25. August beruhigte er den besorgten Verleger mit der »kleinen bürgerlichen Gelbsucht« und fügte hinzu, er wisse auch, woher er sie habe. Bei der Gelegenheit (er meint die Frankfurter Begräbnisreise) hätte er ebensogut einen Schlag kriegen können. [464] Wochenlang habe er die Geschichte mit sich herumgeschleppt, ohne zu wissen, was ihm fehle. Dann habe er vier Wochen lang Karlsbader getrunken. Jetzt pausiere er, und es frage sich, ob er im September etwa noch nach Karlsbad müsse.

Dorthin wurde er dann auch trotz seines Sträubens von dem oder den Ärzten geschickt – es hatten sich noch andere um ihn bemüht – und er reiste am 31. August nach Wien und von da am 3. September mit dem Nachtzuge nach Karlsbad ab, wo er am nächsten Vormittag eintraf. Dr. Fellinger, der ihm schon in den letzten Ischler Wochen zur Seite gestanden, war sein Begleiter. Auf dem Bahnhofe empfingen ihn der junge Komponist Emil Seling und Kirchenmusikdirektor Alois Janetschek, die von Hanslick mit der Obsorge des Karlsbader Neulings betraut worden waren. Leschetizky hatte ihn an den Kurarzt Dr. Grünberger gewiesen, und Brahms suchte den bereits brieflich über den Zustand des Patienten Unterrichteten noch an demselben Vormittag auf. Im Hotel der Frau Seling, der Mutter Emils, behagte ihm vor allem die nach Wiener Art vorzüglich bestellte Küche, und er wurde der ständige Mittags- und Abendgast ihres Restaurants. Doch dort zu logieren, konnte er sich nicht entschließen, weil er einfachere Verhältnisse gewohnt war. Was er brauchte, fand er in der »Stadt Brüssel«, dem Privathause eines Goldarbeiters in der Hirschensprunggasse, und es beschwerte ihn nicht, daß er täglich mindestens dreimal den gepflasterten Schloßberg zu seiner Wohnung emporsteigen mußte. Er nahm das Frühstück, der Karlsbader Sitte entgegen, zu Hause, sobald er von seiner um 7 Uhr bereits beendeten Brunnenpromenade zurückkehrte. Nur zwei Becher Schloßbrunnen waren ihm auferlegt worden, und auch sie mehr zum Scheine, als weil etwa der Arzt, der die Natur des unheilbaren Leidens sofort erkannte, sich einen besonderen Nutzen davon versprochen hätte.13 Was Dr. Grünberger an Hanslick schrieb, der die Wahrheit zu wissen wünschte, kam für den mit der vorsichtigen Ausdrucksweise der Ärzte Vertrauten einem Todesurteil gleich. [465] Nach wiederholter genauer Untersuchung und durch volle drei Wochen fortgesetzter Beobachtung des Patienten haben sich, wie Grünberger am 24. September schreibt, als Resultat das Vorhandensein einer bedeutenden Schwellung der Leber mit vollständigem Verschluß der Gallengänge und den hierdurch bedingten Folge-Erscheinungen: Gelbsucht, Verdauungsstörungen usw. ergeben. Trotzdem er eine Neubildung der Leber direkt nachzuweisen nicht imstande wäre – könne er doch nicht umhin, den Zustand als einen recht ernsten zu bezeichnen.

Die Diagnose blieb ein von dem Arzt und seinem Fragesteller streng gehütetes Geheimnis, und niemand glaubte hoffnungsvoller an baldige Genesung als der arme, von aller Welt freundlich getäuschte Patient selbst. Sehr schnell gewann er seinen alten Humor wieder, fand lebhaftes Gefallen an Stadt und Menschen, genoß die stillen Freuden weiter einsamer Spaziergänge, bespaßte sich mit seinen Wirtsleuten und genoß als freigebiger Kinderfreund das Vertrauen der Straßenjugend. Schließlich meinte er, seiner Krankheit noch dafür dankbar sein zu müssen, daß sie ihn endlich in das berühmte Karlsbad brachte. So schrieb er vor Ablauf der ersten Woche an Hanslick. An Viktor von Miller sandte er zum 11. September (Hanslicks Geburtstag) ein von ihm, wie folgt ausgefülltes, in ein Briefkouvert eingeschlagenes Depeschenformular:


Evidenz-Nummer: »X«.

Vom Absender gewünschter Beförderungsweg:

»Beim Champagner«.


Gattung: »Toast«.

»Karlsbad, 9. Septbr. 1896.

Ihrem lieben Gefeierten, wie der ganzen Tafelrunde sage ich schönsten Gruß, und wie ungern ich ferne bin.

Sonst habe ich nichts zu klagen, und gütige Frauen in Wien erbieten sich schon gar, Igel-Stelle bei mir zu vertreten.14

Die hiesigen Hanslickschen Kugeln15 drehen sich freundlich um mich – den nicht so dankbar empfänglichen Abseiter!

[466] Ehe ich noch der Post meine Adresse angeben konnte, überschüttete sie mich mit teilnahmevollen Briefen – leider ist Briefschreiben kurwidrig – und so seien auch Sie mit dem kurzen, aber herzlichen Gruß zufrieden


Ihres sehr ergebenen J. Brahms.«


Weniger froh als dieser den lustigen Schelm verratende Einfall fiel die Antwort aus, die er auf eine von Mandyczewski mit Schlagworten versehene Korrespondenzkarte gab. Brahms machte von der ihm angebotenen Erleichterung keinen Gebrauch. Anstatt in dem Schema


Es geht mir sehr gut

Es geht mir gut

Es geht mir ziemlich


Hier gefällt's mir sehr gut

Hier gefällt's mir gut

Hier gefällt's mir nicht sonderlich


Das Wetter ist prachtvoll

Das Wetter ist gut

Das Wetter ist erträglich


die für passend gehaltenen Prädikate zu unterstreichen oder die nichtpassenden auszustreichen, schrieb er unter »Es geht mir«: ›Durchaus unverändert‹; unter »Hier gefällt's mir«: ›Je nach Laune und Stimmung‹, und zu »Das Wetter ist«: ›Das einzige uneingeschränkt zu Lobende! – Besten Gruß dazu!‹ Sobald der Kranke sich allein überlassen blieb, fühlte er die Abnahme seiner Kräfte und mißtraute den Versicherungen seines menschenfreundlichen Arztes, der ihm vergebens einzureden suchte, daß es ihm besser gehe. Von Zeit zu Zeit bedurfte er einer Erfrischung und Aufmunterung von anderer Seite. Unerwartete Besuche, welche die ihm angemeldeten ablösten, waren ihm die willkommensten Überraschungen. Am 13. September erschien plötzlich Wilhelm Engelmann in der »Stadt Brüssel«. Angeblich auf einer Berufsreise begriffen, die er zum Abstecher nach Karlsbad benutzt haben wollte, tatsächlich von Utrecht eigens herbeigeeilt, um durch Autopsie zu ermitteln, was dem Freunde fehle, und ob er ihm nicht helfen könne, sah der berühmte Physiologe auf den ersten Blick, wie es [467] stand, und daß er nicht reden dürfe. Beinahe noch größeres Glück als die wissenschaftliche Autorität mit ihrer Umgehung der Wahrheit hatte Hans Koeßler mit der von ihm erfundenen Notlüge, er habe seinen Regensburger Arzt gefragt, woher Gelbsucht komme, und dieser habe gemeint, infolge von großen Aufregungen. »Das ist ja mein Fall!« rief Brahms erfreut und ließ Champagner kommen, den er selig mit seinem unverhofften Besucher trank. Auch Artur Faber und Ignaz Brüll leisteten ihm einige Tage Gesellschaft und vertrieben ihm die Zeit, von der er wohl niemals einen so großen und unnützen Vorrat auf einmal vergeuden mußte wie in jenem Sommer.

Wie es scheint, hatte er sich nicht bloß mit Lektüre, sondern auch mit Arbeit versorgt, für den Fall, daß die Kur anschlagen, und die in Ischl entflohene Arbeitslust zurückkehren sollte. Frau Heyer, die Hausfrau der »Stadt Brüssel«, will bemerkt haben, daß er in den letzten Tagen seines Karlsbader Aufenthalts fleißig Noten schrieb. Unterstützt wird diese Wahrnehmung durch eine Äußerung des »liederlichen Musikanten«, wie Brahms sich beim Einzug scherzend nannte. »Dieser Koffer enthält mein Vermögen«, sagte er geheimnisvoll zur Hausfrau, indem er sie bat, das Gepäckstück ja recht vorsichtig in die Ecke zu stellen.16 Wahrscheinlich dachte er dabei an die Choralvorspiele, auf die sein schöpferisches »Vermögen« reduziert worden war, und hoffte er, die elf in Ischl druckfertig hergestellten noch um einige Exemplare derselben Gattung zu vermehren. Es wäre immerhin möglich, daß die unter dem Manuskript des Chorals »O Welt, ich muß dich lassen« (in der zweiten Fassung) befindlichen Bleistift-Noten in Karlsbad hingeschrieben worden sind. Man erkennt den Versuch, die Choralmelodie »Es ist ein' Ros' entsprungen« zu einem Kanon in der Oktave zu verarbeiten. Nach der zweiten Zeile bricht die Skizze ab – man glaubt zu sehen, wie der Schreiber müde und verdrießlich den Stift niedergelegt hat ....

Mit der Komposition, beziehungsweise mit der Umarbeitung und Redaktion von Choralvorspielen für die Orgel begann Brahms nach dem Abschluß der »Vier ernsten Gesänge«. Am 8. Juni [468] schrieb er an Mandyczewski, als er das Manuskript von op. 121 bei ihm Revue passieren ließ, bevor es weiter an Simrock gehen sollte, er zeigte ihm lieber, wie er in Ischl »in anderen kleinen Schosen Buß' und Reu' übe«, die schon der Seltenheit wegen das Interesse des Freundes erregen könnten. Und zehn Tage darauf bittet er Simrock, ihm Vorspiel und Fuge über den Choral »O Traurigkeit« zu schicken.

Gleich den »Deutschen Volksliedern« weisen die Choralvorspiele, wie schon zu Beginn des sechsten Kapitels und früher angedeutet wurde, in die ferne Vergangenheit zurück. In alten Notenblättern kramend, die er durchsah, um zu verbrennen, was sich noch an unausführbaren Entwürfen, Versuchen und Arbeiten vorfand, die seiner unerbittlichen Selbstkritik nicht standhielten, stieß er auf die kontrapunktischen Studien, die er, lange nachdem er von seinem Lehrer Marxsen losgesprochen und von Schumann als der neue Messias der Tonkunst begrüßt worden war, Jahre hindurch, teils mit Freund Joachim, teils auf eigene Faust betrieb. Von diesen Übungen, denen Brahms die hohe Meisterschaft und völlige Freiheit im Gebrauch organischer Kunstmittel verdankt, ist so gut wie nichts aus dem Studierzimmer in weitere Kreise gedrungen. Das Wenige, was wir davon besitzen, ist außer dem ebenerwähnten Choralvorspiel und Fuge für Orgel über »O Traurigkeit, o Herzeleid«, das 1882 als Beilage des »Musikalischen Wochenblattes« erschien, die Orgelfuge in as-moll, mit welcher die »Allgemeine Musikalische Zeitung« im Jahrgang 1864 eine ihrer Nummern schmückte (Nr. 29). Brahms gab damals dem Redakteur Selmar Bagge seine Bereitwilligkeit zu erkennen, weiter derartige Beiträge zu liefern, da er noch mehr von der Sorte auf Lager habe.17 Von der as-moll-Fuge wissen wir, daß sie bereits acht Jahre vor ihrem Erscheinen, im Juni 1856, zu Düsseldorf komponiert war, und daß sie aus dem Antrieb hervorging, den der Gast des Schumannschen Hauses von seinen erneuerten theoretischen und praktischen Studien empfing. In Düsseldorf suchte der zweiundzwanzigjährige Jüngling sich im Orgelspiel zu vervollkommnen, und lernte das schwierige Instrument insoweit beherrschen, [469] daß er später in Hamburg bei besonderen Gelegenheiten sich mit Ehren auf der Orgelbank behaupten konnte. Die Wahrscheinlichkeit spricht mit inneren und äußeren Gründen dafür, daß einige der von Brahms zurückgelassenen Choralvorspiele schon damals entstanden sind und 1896 nur überarbeitet wurden. Auch ist anzunehmen, daß Brahms seine Tätigkeit auf dem Gebiet einer solchen mehr nachschöpferischen als produktiven Komposition noch weiter ausdehnen wollte. Er mochte es auf ein Werk wie Sebastian Bachs »Orgelbüchlein«, das ebenfalls unvollendet blieb, oder der »Klavierübung« dritten Teil abgesehen haben. Nur die ersten sieben Stücke hat Brahms an seinen Notenschreiber Kupfer zum Kopieren geschickt, und die Anordnung, die er bestimmte, weicht von der des paginierten Manuskripts ab. Allerdings mögen ihn hierbei nicht sowohl ästhetische Rücksichten höherer Art, als vielmehr das Verlangen nach Abwechslung geleitet haben. Sonst hätte er die Abendmahls- und Sterbelieder nicht getrennt. Offenbar sollte ein heiteres Lied in der Mitte, und je ein massives Stück am Anfang und am Ende stehen. Darum erschien wohl der Choral »Herzlich tut mich erfreuen« an vierter Stelle und »O Gott, du frommer Gott« am Schluß. Ein Choralbüchlein war somit fertig, und zwar Anfang Juni 1896.

Die Ruhe, die Brahms für seine Arbeit brauchte, war, wie wir gelesen haben, in dem verhängnisvollen letzten Ischler Frühling öfters unterbrochen worden, und die schwerste, durch den Tod Klara Schumanns verursachte Unterbrechung blieb nicht ohne Einfluß auf den Charakter der ausgewählten Choräle. Als Brahms zur silbernen Hochzeit Fellingers nach Wien fuhr, bestellte er Mandyczewski für den 15. Juni sehr früh in seine Wohnung, um jenes erste Heft der Choralvorspiele mit ihm durchzugehen. Sein treuer und gewissenhafter Berater, der gebeten worden war, sich mit einer »scharfen Lupe« zu bewaffnen, konnte dem Meister nicht verhehlen, daß er sich über die Unpersönlichkeit der ihm vorgelegten Kompositionen wundere: Neun Tage darauf spielte Brahms dieselben Stücke Heuberger vor, als dieser ihn von Ischl zu Viktor v. Miller nach Gmunden abholte. Im Gegensatz zu Mandyczewski lobte dieser wieder »das echt Brahmssche Gepräge« des neuen Werkes, zur Freude des Komponisten. Beide Beurteiler hatten insofern[470] recht, als bei jedem von ihnen der allgemeine Eindruck von einer anderen Partie des Werkes bestimmt wurde. Die widersprechenden Aussagen dieser Sachverständigen unterstützen nur unsere Dedukionen.

An der Weiterführung und Vollendung einer zweiten Serie von Vorspielen ist Brahms durch den schnellen und häufigen Wechsel seiner Stimmung verhindert worden, den die Krankheit mit sich brachte. In der Zeit zwischen dem 15. und 30. Juni gelang es ihm, noch vier Choralvorspiele fertigzustellen. Das Vorspiel über »Es ist ein' Ros' entsprungen« steht, gleich den früheren, auf altem, mit der Hand rastrierten Papier in Querfolio, von welchem Brahms einen großen, sorglich ergänzten Vorrat besaß. Zwei Vorspiele über »Herzlich tut mich verlangen« und eines über »O Welt, ich muß dich lassen« aber befinden sich auf neuem (gedruckten) Notenpapier in Hochfolio. Am Schlusse des letzten, das für Brahms von ominöser Bedeutung werden sollte, weil es den Abschied vom Leben besingt, lesen wir: »Ischl, Juni 96.« Auch die andere (erste) Serie hat der Komponist gruppenweise datiert; der Vermerk »Ischl, Mai 96« kommt zweimal vor, und zwar auf Seite 7 und 16 des mit Bleistift paginierten Manuskripts. Die letzten Blätter sind ohne Nummern; über ihre Zugehörigkeit und Reihenfolge war also noch nicht entschieden.

Mit Recht glauben wir sagen zu dürfen, daß Brahms die Choralvorspiele im Gedanken und zum Gedächtnis an Klara Schumann niedergeschrieben hat. Aus dem Todesjahre Robert Schumanns, das die um Freund und Gatten Trauernden einander herzlich nahe gerückt hatte, lassen sich Studien älterer geistlicher Musik nachweisen, die beide gemeinsam betrieben. Der Choral »O Welt, ich muß dich lassen,« dessen Melodie sich Brahms damals mit andern Choralmelodien notierte, mag eine besondere Rolle im Leben der Freunde gespielt haben, wie er ein eigenes Kapitel in der Geschichte des deutschen Liedes einnimmt. Als weltliches Scheidelied (»Innsbruck, ich muß dich lassen«) hat ihn Frau Schumann 1860 im Hamburger Frauenchor unter Brahms' Direktion mitgesungen; Brahms ließ den Chor auch in dem ersten, von ihm geleiteten Konzert der Wiener Singakademie singen. Die Heinrich Isaak zugeschriebene innige, wehmütig feierliche Melodie wurde von Hermann Schein, dem Amtsvorgänger Bachs, neu gesetzt, [471] nachdem das profane Liebesgedicht von Johann Heß vergeistlicht worden war. Michael Prätorius hat sie abermals harmonisiert, zu Paul Flemmings vielgesungenem »Nun ruhen alle Wälder«, und Matthias Claudius', des Wandsbecker Boten, beliebtes Abendlied »Der Mond ist aufgegangen« stellt eine ihrer vielen Textunterlagen vor. Brahms hat den Choral zweimal bearbeitet, in Nr. 3 und 11, beide Male fünfstimmig, und sein koloriert. Schon durch den fortwährenden Wechsel des zwei- und dreiteiligen Taktes erhält die Melodie in Nr. 3 etwas Unruhiges; sie wird mehr herausgeschluchzt als gesungen, und die unablässig auf-und abwogenden Unterstimmen deuten auf die Pein der schmerzlich bewegten Seele. Ruhiger, aber noch wehmütiger schwebt der Gesang im Viervierteltakt von Nr. 11 dahin. Hier scheint die Vereinigung des alten Volksliedes mit dem Kirchenlied besonders hervorgehoben werden zu sollen, ja, das Volkslied wird in seine älteren Rechte wieder eingesetzt und zur lyrischen Szene erweitert. Neben dem von der Welt Scheidenden meinen wir die Stimme des Dichters zu hören:


»Das Mädlein sprach mit Schmerzen:

O weh, o weh meins Herzen,

Daß ich dich muß fahren lan!

Hab ich in all mein Tagen

Kein Mensch nie lieber g'habet

Denn dich, Herzlieber, allan!«


Dem reizend variierten Choral antwortet immer ein leises und leiseres Doppelecho, das die letzten Silben wiederholt. Brahms schreibt dafür Manual II und III vor. Der Abgesang will sich ins Unendliche verlieren – das Scheiden ist gar so schwer! – bis er leise verhallt. Was der Meister in die Seele der sterbenden Freundin hinein empfand, verschmolz mit eignen Todesahnungen, ohne daß er wußte, wie nahe ihm selbst das Ende war. Die Freundin zog ihn nach.

Ob nun Brahms diese elf kurzen Orgelsätze, die sich von vierzehn bis zu zweiundsechzig Takten ausdehnen, nur zum Teil oder ganz im Frühling 1896 komponiert hat, soviel steht unter allen Umständen fest, daß sie lauter Meisterstücke ersten Ranges sind, seiner und seiner künstlerischen Ahnen vollkommen würdig. [472] Aus dem protestantischen Gottesdienst entsprungen, der einem poetischempfindenden, produktiv begabten Organisten nahe legte, dem begleiteten Gemeindegesange ein vorbereitendes Präludium voranzuschicken, entwickelte sich das Choralvorspiel unter den Meistern der evangelischen Kirchenmusik zur selbständigen Form, die, auch abgelöst vom kirchlichen Gebrauch, ihre Geltung behauptete. Schon bei dem Nürnberger Orgelmeister Johann Pachelbel und noch mehr bei Sebastian Bach erreichte das Choralvorspiel eine in sich selbst zurückgezogene Stärke des Ausdrucks, eine Freiheit und Kühnheit der Bewegung, daß es höhere Ansprüche erheben durfte, als sie in der praktischen Absicht begründet waren, die herbeiströmende Schar der Andächtigen zu bewillkommnen und musikalisch zu stimmen. Wie die Ouvertüre sich von der Oper schied, um als absolutes Musikstück im Konzertsaal aufzutreten, so wurde auch der Orgelchoral ein unabhängiges Gebilde der Kunst, ein gefügiges Ausdrucksmittel des Musikers, der sein eigenes Empfinden an dem cantus firmus des Chorals maß, seine Phantasie mit ihm spielen ließ, ihn zum Thema geistreicher Variationen machte.

Die Brahmsschen Vorspiele, die zum Teil so ganz im Geiste Bachs gehalten sind, daß einige unmittelbar von dem Verfasser des »Orgelbüchleins« herrühren könnten, unterscheiden sich in der Mehrzahl von ihren Mustern dadurch, daß sie das Pedal weit seltener als freie, den anderen ebenbürtige Stimme behandeln, es vielmehr entweder gar nicht oder als einfachen Baß oder auch als Träger der Choralmelodie verwenden. Zweimal überweist Brahms den cantus firmus dem Pedal (in »Mein Jesu, der du mich« und in der zweiten Bearbeitung von »Herzlich tut mich verlangen«); bei »O Gott, du frommer Gott« tritt es zur Verstärkung erst am Schlusse ein. In den Vorspielen zu »Schmücke dich, o liebe Seele«, »O, wie selig seid ihr doch, ihr Frommen« und »Es ist ein' Ros' entsprungen« fehlt es gänzlich. Dagegen wird es in »Herzliebster Jesu«, »O Welt, ich muß dich lassen« (zweimal), und in der ersten Bearbeitung von »Herzlich tut mich verlangen« reicher bedacht. Wie Bach entwickelt Brahms seine Kontrapunkte aus der Melodie des Chorals selbst. Dieses Verfahren entspricht einem Prinzip seiner Kunst, das jeden musikalischen Satz, ja selbst einen Zyklus von Sätzen als einheitlichen Organismus [473] begriffen wissen will. Ein unerschöpfliches Kombinationsvermögen paarte sich in seinem Geiste mit der schärfsten und strengsten Methode folgerichtigen Denkens. Er zerstäubt die Materie und beseelt jedes Atom mit dem Odem seiner Schöpferseele; er läßt neue Individuen entstehen, die, vom Mutterschoße des Themas entbunden, ein Leben auf eigene Hand führen. So lehrt uns Brahms auch hier wieder, daß Kunst und Natur im Grunde nach denselben Gesetzen schaffen.

Ein besonders anschauliches Beispiel für die Tiefe und den Reichtum seiner Kunst ist die Choralfuge über »Mein Jesu« (Nr. 1), mit welcher das Werk eröffnet wird. Sie zeigt uns gleichsam die wundervolle, harmonisch gegliederte, reich geschmückte, Fassade des Gotteshauses, dessen Inneres uns seine Schätze enthüllen soll. Der Satz besteht aus sechs kleinen dreistimmigen Fugen, deren figurierte Themen jedesmal von dem im Pedalbaß als vierte Stimme hinzutretenden Choralverse abgeleitet worden sind, so daß eigentlich jeder Vers sein eigenes Vorspiel hat. Die große Natürlichkeit in der Umkehrung der Themen verdient besonders bemerkt zu werden. Immer prächtiger baut sich das Ganze auf und wird von der imitatorischen Engführung des letzten Themas erhöhend gekrönt. Ihm gegenüber steht als mächtiges Pendant die Phantasie über »O Gott, du frommer Gott« (Nr. 7), mit welcher das erste Heft abschließen sollte. Auch hier bedient sich Brahms der größeren, mit Vor-und Zwischenspielen ausgestatteten Form. Die irdische Not und Anfechtung, von der sich der Dichter des herrlichen Gebets (Joh. Heermann) zu Gott erhebt, ist von dem Musiker mit dramatischer Lebendigkeit in Gegenmotiven dargestellt worden. Der Choral erscheint zunächst als cantus firmus im Sopran, dann im Baß, zuletzt wieder im Sopran als Stimme von oben. Das aufgewühlte Gemüt des von Zweifeln bedrängten Beters beruhigt sich mehr und mehr und schlummert sanft hinüber wie ein Kind, das unter leisem Weinen einschläft. Die Endzeile des Liedes »Dir sei Lob und Preis und Ehr'!« besingt den Frieden des mit seinem Gott Versöhnten.

In kleineren Formen, die den Choral aufnehmen, um ihn ununterbrochen zu variieren, bewegen sich das Abendmahlslied: »Schmücke dich, o liebe Seele« (Nr. 5), das Sterbelied: »O wie [474] selig seid ihr doch, ihr Frommen« (Nr. 6) und das Passionslied: »Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen« (Nr. 2). Das erste ist wohl das unscheinbarste, wenn auch nicht kunstloseste der ganzen Reihe. Es prunkt nicht mit seiner unglaublichen kontrapunktischen Geschicklichkeit, sondern versteckt sie: die Begleitungsfigur ist aus der doppelten Verkürzung des ersten Choralverses gebildet und wird, ob in gerader oder umgekehrter Bewegung immer streng beibehalten, und es entstehen kanonische Fortschreitungen der beiden begleitenden Stimmen. Die Gemütsverfassung eines zu Gottes Tische Geladenen, der sich getrauen darf, das heilige Brot ruhigen Herzens zu genießen, wird ganz allgemein ausgedrückt. Ihm reiht sich das Vorspiel zu Simon Dachs Sterbelied, ein dämmerseliges molto moderato im Zwölfachteltakte an. Beide Vorspiele dürften der Frühzeit des Komponisten angehören. Desgleichen das liebliche, an verwandte Stimmungen und Ausdrucksweisen des jungen Brahms anklingende Weihnachtslied (Nr. 6): »Es ist ein' Ros' entsprungen« (nach Michael Prätorius). Wir lassen es uns nicht nehmen, auch hier an Beziehungen zu einem in Düsseldorf oder Hamburg verlebten Christabend zu denken. Zierliches Rankengewinde umgibt ein geliebtes Bild: »Das Röslein, das ich meine«, braucht nicht das Jesuskind zu sein.

Eigentümlicher und größer ist das Passionslied »Herzliebster Jesu« aufgefaßt. Wüßten wir nicht, daß sein Text von dem Dichter des vorher besprochenen »O Gott, du frommer Gott« herstammt, von demselben Heermann, der in den Drangsalen des dreißigjährigen Krieges seine klagende Stimme erhob, – Brahms wurde es uns verraten. Irgendein geheimes geistiges Band muß beide, ihrem Sinne nach grundverschiedene Gedichte miteinander verknüpfen, dem ähnlich, das Brahms in seiner Musik um sie wob. Denn merkwürdigerweise finden wir in den zugehörigen Choralvorspielen nicht nur die gleiche dramatische Bewegung, sondern auch den gleichen Ausdruck dafür. Es scheint gewagt, dabei an die Persönlichkeit des Dichters und an den Einfluß zu denken, den sie durch das Medium der Poesie auf den Komponisten ausübte, und doch kann es kaum anders sein. Warum auch nicht? In den Liedern von Brahms kommen noch wunderbarere Dinge vor. Und Brahms sah gewiß dasselbe Bild, das Heermann vor Augen schwebte, als er das [475] Passionslied schrieb: eine Menge unruhig fragenden und klagenden Volkes, das den Schmerzensmann anredet, bis die Stimme des Gewissens den Fragenden antwortet. Ein neues, persönliches Motiv mischt sich bei ihm in die allgemeine Trauer: das Gefühl der Ohnmacht, den Leiden des Gerechten zuzuschauen und nicht helfen zu können. Die Caritas der »Vier ernsten Gesänge« hat daran mitkomponiert.

Unter den Kirchenliedern, die Brahms von Jugend auf ans Herz gewachsen waren, nahm, wie es sich von selbst versteht, der Lieblingschoral Bachs eine der obersten Stellen ein, jenes musikalische Symbol der Matthäuspassion: »O Haupt voll Blut und Wunden«. Bach wurde nicht müde, den Choral immer von neuem zu harmonisieren, und Brahms bringt ihn in zwei Bearbeitungen. Schon früher hatte er ihn, wie wir uns erinnern, in den Schluß des erschütternden Liedes »Auf dem Kirchhof« mit hineingeheimnist.18 Auch damals mag er eher an Christian Knolls älteres Sterbelied als an Paul Gerhardts Passionschoral gedacht haben, der nach derselben Melodie von Leo Haßler geht. Jetzt schreibt er beide Male »Herzlich tut mich verlangen« eigens vor. Die Choralvorspiele gehören zusammen wie zwei Strophen, wie Anfang und Ende eines Gedichts. Im ersten versteckt sich die Melodie hinter der Figuration des fünfstimmigen Satzes, an welchem auch der Pedalbaß beteiligt ist. Beim fünften und sechsten Vers schweigt der Pedalbaß, der Rhythmus geht vom Vierviertel- in den Sechsachteltakt über; piano wehen, von schnell wechselnden Harmonien getragen, uns die Worte zu: »Ich hab' Lust, abzuscheiden von dieser argen Welt«. Dann kehrt das Stück das rhythmische Verhältnis um, und der dreiteilige Takt wird vom zweiteiligen abgelöst. Die Choralmelodie tritt in einer Achtfuß-Pedalstimme frei hervor, und der eigentümlich beschwingte Rhythmus erinnert an ihre ursprüngliche Gestalt, im Tonsatz J.H. Scheins. Über leise klopfenden Achteln aber erhebt sich eine eigene Mittelstimme, die dem Choralgesang ein bestimmtes Individuum gegenüberstellt. Eine zweite in Sechzehnteln begleitende Stimme löst die Strenge des Taktes auf und gestattet dem Rhythmus freier zu schweben. Dadurch, [476] wie auch noch besonders durch seine tiefe Lage gewinnt das Stück einen dunkeln, unheimlichen Charakter von seltsamer Färbung. So konnte die Stelle des Evangeliums illustriert werden, wo es heißt: »Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land, bis zu der neunten Stunde.« Es ist, als ob das Passionslied Gerhardts mit dem Sterbelied Knolls verwebt worden wäre. Die Schauer der Todesstunde überrieseln den Zuhörer in Tönen: »Wann mir am allerbängsten wird um das Herze sein« – »Gottlob, es ist vollbracht!«

Das ist echte, tief und persönlich empfundene Meisterkunst, eine ars moriendi der Musik, wie sie seit Bach nicht wieder erstanden ist, und von der ersten bis zur letzten Note unverkennbarer Brahms.

Wehmütig heiter lächelt unter den dunkelgrünen ernsten Totenkränzen eine leuchtende rote Rose her vor: das Vorspiel zu »Herzlich tut mich erfreuen« (Nr. 4), neben dem Weihnachtsliede das freundlichste Stück der Sammlung. Brahms hat es mit besonderer Liebe komponiert, vierstimmig in erweiterter Form, angesichts der schönen Natur, die ihn im Mai 1896 noch so verheißungsvoll anlachte. Der Choral war ursprünglich ein lustiges altes Frühlingslied:


»Der Kuckuck mit seinem Schreien

Macht fröhlich jedermann,

Des Abends fröhlich reihen

Die Mägdlein wohlgetan.

Spazieren zu den Bronnen,

Bekränzen sie zur Zeit,

Alle Welt freut sich in Wonnen

Mit Reisen fern und weit ...

Die Zeit will ich genießen,

Dieweil ich Pfenning hab',

Und den es tut verdrießen,

Der fall' die Stieg'n herab.«


Schalkhaft mahnt der Meister an den profanen Ursprung des erbaulichen Gesanges. Er legte dem Choral den artigsten Ländler unter, auf welchem die Melodie sich im Sechsvierteltakte wiegt. Dieser Ländler aber ist nichts anderes als der um eine Quart tiefer angeschlagene figurierte Choral, so daß der cantus [477] firmus, der immer mit dem Pedalbaß zugleich im Sopran einfällt, nachsingen muß, was ihm vorgetanzt wird. Das geistliche Lied ist ein parodisches Echo des weltlichen.19

Von den Vorspielen, die Brahms zur Vervollständigung der zweiten Serie in Karlsbad etwa noch komponiert haben könnte, ist nichts übrig geblieben. Er reiste am 2. Oktober abends nach Wien zurück, und der aufmerksame Janetschek hatte dafür gesorgt, daß der um nichts gebesserte Patient ein geheiztes Coupé erhielt. Mit Rücksicht auf Brahms bewilligte die Betriebsdirektion der Staatsbahn das Gesuch des Kirchenmusikdirektors und durchbrach ihr eigenes Reglement, nach welchem erst der 15. Oktober als Termin der Heizung in Kraft getreten wäre. Brahms rühmte die humane Gesinnung der Behörde und meinte, so etwas sei doch nur in Österreich möglich.20 Gleich nach seiner Ankunft in Wien veranlaßte er Mandyczewski, ein paar Freunde für den Abend des 3. in den »Igel«, den des 4. in die »Goldene Kugel« zu bestellen. Sein Arzt hatte ihn auf vier Wochen »kurfrei« erklärt, und er war darüber so vergnügt wie ein Schulkind über die großen Ferien. Adolf Brodsky, der sich in Wien aufhielt, sollte davon profitieren, und ein Konvivium im Wirtshause in der gewohnten Gesellschaft von Musikern dem Gast einen Begriff von der Wiener Gemütlichkeit beibringen. Leider beruflich verhindert, an den Abenden teilzunehmen, ging ich am nächsten Vormittag zu Brahms, um mich bei ihm zu entschuldigen.

Wäre ich auf seinen Anblick nicht vorbereitet gewesen, ich hätte ihm meinen heftigen Schreck nicht verbergen können. Sein Aussehen war jammervoll. Die Kleider hingen ihm vom Leibe und schlotterten um Arme und Beine herum. Sein stattlicher [478] Körper war ganz zusammengefallen, und das olympische Haupt sank müde vornüber. Das Gesicht hatte einen völlig veränderten strengen und finsteren Ausdruck und war von dunkler, schwärzlich gelber Farbe. Auch das Weiße des Auges, das wie tot ins Leere starrte, war zitronengelb, der Glanz seines klaren, seelenvollen, herzlichen Blickes erloschen. Zwischen den Augenbrauen hatte sich eine tiefe Doppelfalte eingegraben, die von dem Zorn und Schmerz seiner mit dem Schicksal hadernden Seele Zeugnis gab. Bart und Haare waren wie abgestorben und an die welke Haut geleimt; seine Hände fühlten sich rauh an. Eine Stelle aus dem Buche Hiob, die er sich mit den Texten zu den »Vier ernsten Gesängen« zusammen notiert hatte, paßte nun auf ihn: »Meine Gestalt ist dunkel worden vor Trauern, und alle meine Glieder sind wie ein Schatten.« Geradezu schauerlich wirkte die Lustigkeit, zu der er sich zwang. Er kam vom Korridor her ins Zimmer, wo ich ihn erwartete, und rief mir schon von weitem mit lauter, schnarrender Stimme entgegen: »Immer derselbe! Immer obenauf!« Dann aber, als ich ihn nicht merken ließ, wie sehr ich mich entsetzte, fiel er gleich wieder ins andere Extrem und raunte mir leise und geheimnisvoll zu: »Ich bin doch wohl sehr krank, die Ärzte können zwar nichts finden, aber es macht mich stutzig, daß ich immer mehr von Kräften komme. Ich habe einen wahren Heißhunger, aber Essen und Trinken schlägt mir nicht an. Fortwährende Unterleibsbeschwerden, fast gar keinen Schlaf und beständiges Jucken der Haut.« Ich tröstete ihn, so gut ich's vermochte, und suchte ihm das Bedenkliche seiner körperlichen Zufälle auszureden: »Es ist halt eine Gelbsucht, die bei Ihnen hartnäckiger andauert als bei einem andern, weil Ihre Natur entschiedener reagiert und der Krankheit größeren Widerstand entgegensetzt. Wahrscheinlich haben Sie sie nicht rechtzeitig beachtet. Ihre Frankfurter Reise und die damit verbundenen Aufregungen werden schuld daran sein.« – »Das glaube ich auch«, erwiderte er erleichtert und wurde zusehends wieder besserer Laune. »Ich bin allerdings leichtsinnig gewesen, weil ich mir mein Leben lang etwas zugetraut und mich um Krankheiten nie gekümmert habe. Die Geschichte fing damit an, daß ich an einem sehr heißen Tage von Ischl nach Lauffen spazieren gehen wollte. Ich war so in [479] Gedanken, daß ich nur immer lief und lief, ohne mich viel umzusehen, und so war ich zu meiner Verwunderung plötzlich in Steg, (13 Kilometer von Ischl entfernt), ging dann auch noch ein großes Stück vom Heimwege zu Fuß. In der Nacht wurde mir so schlecht, daß ich meinte, ich müsse sterben, und fiel aus einer Ohnmacht in die andere. Ich war, wie sich herausstellte, schon sechs Wochen mit meiner Gelbsucht behaftet gewesen, ehe ich nun den Arzt konsultierte und andere Ärzte hörte, die man mir über den Hals schickte. Schließlich hieß es: Nach Karlsbad! Hat mir aber gar nichts genützt!« Er sagte dazu noch in bedauerndem Tone, er habe anfangs die ihm vorgeschriebene Diät beobachtet. Nach vierzehn Tagen aber sei er des ewigen Gießhüblers mit Weißwein überdrüssig geworden und auch sonst zur früheren Lebensweise zurückgekehrt.

Heuberger, den ich fragte, ob er von der Steger Parforce-Tour nichts wisse, teilte mir bestätigend und ergänzend mit, sie habe bald nach dem Tage stattgefunden, an dem er Brahms auf seine Krankheit aufmerksam gemacht habe. »Offenbar«, schreibt Heuberger, »wollte er mir allerlei über das Leiden erzählen. Ich war mit meiner Familie in Hallstatt. Als ich heimkomme, höre ich, Brahms sei dagewesen und ließe mir sagen, ich solle zum Stegwirt (an der Traun, wo wir einmal zusammen saßen) oder auf den Bahnhof nachkommen. Ich eilte zum Wirt: Brahms weg, zur Station: Brahms weg. Er war kurz vorher mit dem Zuge abgefahren. Hintennach sagte mir Brahms, daß er zuerst bis Lauffen zu gehen, von da aus auf der Bahn nach Steg zu fahren gedachte. Da es ›so famos ging‹, sei er aber durchaus gegangen. – Es sind drei Stunden gut zu gehen. – Er hatte sich warm gelaufen und sich dann, ich weiß nicht, ob beim Wirt oder auf dem Bahnhof, erkältet. Jedenfalls ist ihm bei Nacht furchtbar elend gewesen ...« Später fand ihn Heuberger einmal am frühesten Morgen in Ischl an seinem Eckfenster lehnen, die Hand über dem Kopfe, mit den Fingern auf dem Glase trommelnd; er litt an Schlaflosigkeit. Zu Eduard Schütt hatte Brahms geäußert, solange er gesunde Beine und ein gutes Buch habe, bekümmere ihn nichts. Damit war es in Wien nur zu bald vorbei. Auch die Tafelfreuden hielten nur bis zum Jahresschlusse vor. Er ergab sich ihnen noch eine Weile mit voller Lust, dann [480] mit geringerem Appetit und schließlich nur zum Schein, um die Gesellschaft nicht entbehren zu müssen. Was er zu sich nahm, war im Grunde gleichgültig. Pro forma waren ihm einige Dinge wie schwarzer Kaffee und Kognak untersagt. Doch kehrte er sich nicht daran, sondern nahm seinen Tischnachbarn Glas und Tasse weg oder schlich zum Büfett hin, wo die beiseite gestellten Delikatessen auf ihn warteten, da es ihm den Genuß erhöhte, daß sie ihm ärztlich verboten waren. Seine näheren Freunde überschütteten ihn mit Einladungen zum Mittagessen, nachdem er ausdrücklich erklärt hatte, sie gern anzunehmen, und er hatte bald wie ein gut empfohlener armer Student jeden Tag besetzt.

Aus seiner Heftigkeit, die mit außerordentlicher Milde fast plötzlich bei ihm wechselte, wollten wir Symptome der Besserung erkennen; auch verlor sein Anblick durch den täglichen Verkehr viel von seiner Unheimlichkeit, und wir bildeten uns mehr als einmal ein, er fange an, sich zu erholen. Nur diese Täuschung, im Verein mit der mildernden Macht der Gewohnheit, half allen Beteiligten über das unsäglich Traurige unserer Feste hinweg, und die anfangs mit schmerzlicher Mühe erzwungene Fröhlichkeit stellte sich dann wie eine mitleidige Fee von selbst ein. Nur durfte man es dem Patienten beileibe nicht sagen, daß man seinen Zustand gebessert finde. Er glaubte, man wolle ihn mit Redensarten beschwichtigen, und unter vielem, was ihm verhaßt war, waren ihm Phrasen, gesellschaftliche Phrasen bis ans Ende das Widerwärtigste. Frau Truxa, seine vorsorgliche, von tiefem Mitleid bewegte Hauswirtin, unterstützte seine und unsere trügerischen Hoffnungen. Als sie bemerkt hatte, wie nahe es ihm ging, daß er so stark abmagerte, schafft sie Abhilfe, indem sie, ohne daß er es ahnte, seine Kleider immer enger machen ließ. Da freute er sich und sagte zu ihr: »Sehen Sie, jetzt nehme ich wieder zu, es geht mir wirklich schon besser.«

Bis kurz vor seinem Tode besuchte Brahms noch Konzert und Theater. Nur war er absolut nicht dazu zu bewegen, sich seine »Vier ernsten Gesänge« anzuhören. Weder kam er in den Tonkünstlerverein, als sie dort von Felix Kraus am 30. Oktober gesungen wurden, noch erschien er im Künstlerzimmer oder bezog seinen Horcherposten bei Bösendorfer, wo Anton Sistermans das [481] Werk am 9. November in die Öffentlichkeit einführte. Wir besitzen darüber wie über anderes Denkwürdige einen Bericht aus der Feder des Sängers selbst. Sistermans schreibt, er habe sich von Frankfurt aus an Brahms, von dessen Erkrankung er nichts wußte, gewendet gehabt, mit der Frage, ob er in Berlin die Gesänge mit Orgelbegleitung vortragen solle, wie man es dort von ihm wünschte. Außerdem aber habe er ihn in allerbescheidenster Form gebeten, in seinem Wiener Konzert dasselbe op. 121 am Klavier zu begleiten. Darauf erhielt er unter dem Poststempel Wien, 5. 10. 96 folgende Karte: »Verzeihen Sie, aber ich habe noch nicht darüber nachgedacht, ob man jene Gesänge auch mit andern Instrumenten als dem Klavier begleiten kann. Verzeihen Sie noch viel mehr, daß ich nicht nachzudenken brauche – ob ich nicht lieber ein angenehmstes Vergnügen entbehre, wenn ich den Frack deshalb anziehen soll! Ihr ergebener J. Brahms.«

Nach früheren Begegnungen mit Brahms glaubte Sistermans eine solche Bitte wagen zu dürfen. »Ich hatte das Glück«, schreibt er, »Brahms bei Stockhausen kennen zu lernen, es wird 1890 oder 91 gewesen sein. Ihm zu Ehren fand in Frankfurt damals ein Kammermusikabend statt, wo die Schüler Stockhausens Brahmssche Quartette aufführen sollten. Er war bei den Proben anwesend, und ich mußte ihm zwei von den Magelonen-Liedern extra vorsingen. Voll heiterer Laune hatte er für jeden ein gutes, ein witziges oder auch ein boshaftes Wort. Dann brachte ich ihm in Wien einen Gruß Stockhausens und sang ihm bei sich zu Hause viele seiner Lieder vor, Magelonen-Romanzen, ›Auf dem Kirchhof‹ und anderes. Ich wollte damit fortfahren, aber er legte Schuberts ›Winterreise‹ aufs Pult und ließ nicht eher locker, als bis wir damit fertig waren. Zur Belohnung holte er mir einige Schubert-Manuskripte aus seinem Bibliothekzimmer, und ich durfte sie als Vorlage benützen, als ob es gewöhnliche Notenblätter wären – der ›Wanderer‹ war auch dabei. Darüber wurde die gewohnte Essensstunde versäumt, und er ging eilig mit mir in den ›Roten Igel‹. Später besuchte ich ihn mit meiner Frau in Wien; da führte er uns in den Wurstelprater, nahm mich auch in Philharmonische Konzerte mit, wenn es sich traf. Es interessierte ihn immer, vom musikalischen Leben und Treiben in fremden Gegenden [482] und Städten zu hören, die ich bereist hatte. Einmal im Café Stadtpark, nach der sehr erfolgreichen ersten Aufführung einer Dvořákschen Symphonie, sprach er sich voll Anerkennung über das neue Werk aus. Er beneide den Komponisten überhaupt um die Frische seiner Erfindung, nur mache ihn diesmal der große Erfolg mißtrauisch. ›Ich habe‹, sagte er, ›wenn ein Werk von mir so unmittelbar beim Publikum einschlug, immer bei mir selbst gedacht: Du mußt schon mal was Besseres geschrieben haben!‹ Nicht leiden konnte er, wenn man ein ganzes Konzertprogramm mit seiner Musik ausfüllte. Ich hatte einmal vor, alle Magelonen-Romanzen hintereinander zu singen. Davon wollte er nichts wissen, und als er zu bemerken glaubte, daß ich seine Äußerung nicht für so ernst gemeint hielt, wurde er sehr ungehalten. Das einzige erlaubte, den ganzen Abend füllende Liederprogramm eines und desselben Komponisten wäre ›Die schöne Müllerin‹.

Im Dezember 1896 sang ich in einem Grieg-Konzert im Großen Musikvereinssaale Lieder mit Orchester und Klavier. Am nächsten Morgen empfing er mich mit den Worten: ›Ah, Sie Tenorist!‹ Irgend jemand hatte ihm gesagt, ich kaprizierte mich darauf, hoch zu singen, wogegen Brahms gleich bemerkt habe, Grieg sei daran schuld gewesen, weil der an seinen Tonarten hinge. Das war am Abend nach dem Konzert im Gasthause verhandelt worden. Er sagte dann weiter, er wäre in dieser Beziehung nicht so diffizil. Die Hauptsache sei, daß dem Sänger sein Stück bequem liege, und wäre es ihm ziemlich egal (bis zu einer gewissen Grenze natürlich), in welcher Tonart seine Lieder gesungen wurden.21 Auch fügte er hinzu, daß er nicht immer egal höre. Es hinge von Stimmungen usw. ab, ob er hoch oder tief höre. Während seiner Krankheit im Winter 1896/97 war ich wieder einmal mit ihm im Philharmonischen Konzert. Als ein Mendelssohnsches Werk gespielt wurde, behauptete er, alles zu hoch zu hören, weil seine Stimmung sehr tief wäre.

Am 5. November also trat ich mit den ›Ernsten Gesängen‹ bei Bösendorfer auf. Bei meinem Besuch, den ich ihm vorher machte, hatte er mir versprochen, ins Künstlerzimmer zu kommen, [483] war aber ausgeblieben. Den Tag darauf wandte er zur Entschuldigung vor, daß ich mein Programm am Konzerttage geändert hätte In der Tat hatte ich, weil mir die Auswahl und Reihenfolge meiner Vortragsstücke Bedenken erregte, die Gesänge von der Mitte ans Ende gerückt und statt einiger unbedeutender Novitäten eine Schubert-Nummer eingeschoben. ›Grade das junge Gemüse hätte ich gern gespeist‹, versicherte er, ›und nun haben Sie es weggeworfen‹! Ich hatte die Noten von op. 121 mitgebracht und bat ihn, mich zu begleiten. Da sagte er, ich möge lieber ihn begleiten, er wäre zu Tisch gebeten. Bald darauf ging ich wieder, mit den Ernsten Gesängen gewappnet, zu ihm. Mir lag so viel daran, sein Urteil zu vernehmen, von dieser und jener Bemerkung Nutzen zu ziehen, die tempi festgestellt zu wissen. Zum dritten Male wich er aus und schlug vor, Frau v. Hornbostel um das Arrangement einer kleinen Soiree anzugehen. Die Soiree wurde sofort anberaumt und eine gewählte Gesellschaft von etwa dreißig seiner wärmsten Verehrer zusammengebeten. Wer aber nicht kam, war Brahms. Gerade im kleinen Kreise riefen die Gesänge einen unbeschreiblichen Eindruck hervor. Brahms redete sich damit aus, daß er sich nicht im engen Raume zwischen hundert Menschen herumdrücken könnte. Ich begriff endlich, daß er diese Gesänge nicht hören wollte, oder daß er es vielleicht doch wollte, im letzten Augenblick aber von einer Art Furcht oder Scheu verhindert wurde, seinem Wunsch nachzugeben. Denn ich habe keinen Grund anzunehmen, daß er sie gerade von mir nicht hören wollte.«

Bei meinem letzten Besuche fand ich ihn sehr niedergeschlagen und weich gestimmt, viel zutraulicher als sonst. Er beklagte sich über seinen Zustand und sagte: »Es dauert so lange.« Auch erzählte er, daß er keine Musik hören könne, der Flügel bleibe geschlossen, nur Bach lesen, das wäre noch das einzige. Er deutete auf den Flügel, wo das Notenpult oben auf dem zugeklappten Deckel stand mit einer Bachschen Partitur. Es war mir, als ob er da doch empfand, es ginge zu Ende. Ein paar Monate vorher, kurz vor Weihnachten, war das noch gar nicht der Fall. Da sagte er mir einmal: »Es haben mich wieder zwei Ärzte untersucht, es fehlt mir gar nichts, bin ganz gesund, nur ein bißchen gelb.«

[484] Sein letztes Weihnachtsfest verlebte Brahms bei Fellingers, deren Hausarzt Dr. Fröschl ihn in Behandlung genommen hatte.22 Eine als Terrakottastatue verkleidete Attrappe bescherte ihm Delikatessen und ein gehäkeltes Jäckchen, das er sofort anzog. Er revanchierte sich mit einem Exemplar der »Ernsten Gesänge«, das die Widmung trug »Für gesunde Leute«. Der Herzog von Meiningen erfreute ihn mit einer neuen Sendung seiner türkischen Zigaretten. In seinem Antwortschreiben nennt Brahms die ihm von dem Geschenke auferlegte Dankespflicht »eine schöne, sanfte und starke Gewalt«, die ihm endlich die Feder in die Hand zwinge, und fährt fort:

»Ich sollte mich schämen, daß sie nötig ist, doch freue ich mich ihrer mehr – zu sicher bin ich des Gefühls, wie gern und oft ich geschrieben hätte.

[485] Indem ich mich der ersten Zigarette freue, schreibe ich dies und muß dabei denken, daß für den ernsten Menschen und Raucher Tabak kein gewöhnliches Geschenk ist! Bis zur letzten werde ich keine der lieben, majestätischen Zigaretten in die Hand nehmen, ohne der gütigen zu gedenken, die sie mir anbietet, und ein freundliches Auge dazu lächeln zu sehen.

So sage ich Euer Hoheit von ganzem Herzen meinen Dank für den überaus willkommenen Beweis Ihrer fortgesetzten gütigen Gesinnung ... Von mir und meinem kleinen Leiden mag ich kaum reden. Besseres kann ich nicht melden« ...

Von allen Seiten wurde Brahms mit Aufmerksamkeiten überhäuft, und sein Keller erhielt Proviant auf Monate hinaus. Simrock und Deichmanns versorgten ihn mit kleinen Champagnerflaschen, von denen er täglich eine nach dem häuslichen Nachtmahl im Bette trank, Frau v. Beckerath sandte köstliche Proben ihres Rüdesheimer Weinguts, Dr. Viktor v. Schnitzler den berühmten »Kaiserwein«. Er habe, wie Brahms in seinem Dankbriefe nach Köln schreibt, das erste Glas dem Töchterchen des Gebers geweiht, beim zweiten des Heldengreises gedacht, dessen Namen den köstlichen Rheinwein ziert, und nun hoffe er, dies komme auch dem in der Mitte Stehenden zugut. »Solche Medizin lobe ich mir, die man auch in gesunden Tagen forttrinken kann. Zum Glück habe ich auch sonst keine nötig, nur Geduld.«

Geistige Genüsse verschafften ihm andere nahe und ferne Freunde. Von Simrock bestellte er sich Lessings »Laokoon« in einer Schulausgabe – »dazu werden die Halben noch eins so gut schmecken!« Außerdem neu erschienene Bücher über Krieg und Sieg von 1870/71, worüber er niemals genug lesen konnte, Widmann ließ ihm regelmäßig die von ihm redigierte literarische Sonntagsbeilage des Berner »Bund« und alle Feuilletons zugehen, die er geschrieben. Kurz vor Weihnachten hatte er ihn mit seiner »Maikäferkomödie« überrascht, einer tiefsinnigen, die Tendenz der »Ernsten Gesänge« streifenden Dichtung, welche die Weltprobleme aufrollt und in den engen Erlebnissen des armseligen harm- und schuldlosen Insektenvölkchens das Schicksal des stolzen Menschengeschlechtes widerspiegelt und humoristisch beleuchtet. Brahms war entzückt von dem poetisch-philosophischen [486] Geiste und der musikalischen Sprache des Werkes, ohne daran Anstoß zu nehmen, daß er zu sich sagen mußte: »De te fabula narratur«.

Auch mir hatte Widmann ein Exemplar des Buches geschickt, und wir sangen unserem Schweizer Freunde ein Lobesduett. Auf den Schlußmonolog des Maikäferkönigs, der, an einer Nadel aufgespießt, sterbend noch die Herrlichkeit der Erde preist, machte mich Brahms besonders aufmerksam. Die Verse lauten:


»Bald liegen, jenen gleich, so steif auch wir.

Komm, laß uns beten für den armen Gott,

Der das Gefäß der Welt, das schön er schuf,

Mit Duft und Lieblichkeit nicht konnte füllen ...

Du armer König aller Könige,

Der du den Lebensstoff der Welt verwaltest,

Doch kärglich, weil er nicht für alle reicht,

Und doch dein Ehrgeiz grenzenlos im Zeugen,

Der du darum ihn spärlich spendest nur,

Kein Leben schenkst, das nicht zuvor vergiftet

Du mit dem Keim des Todes, – armer Gott!

Du selbst vielleicht träumst nur als schweren Traum

Die Welt und liegst in Banden, die dich fesseln, –

Ich bleibe doch dir gut, ich danke dir.

Du gabst mir dieses Leibes kleine Hütte,

Aus der du jetzt mich wieder rauh vertreibst.

Sei's! – Ich verzeihe dir die Welt,

Wie man verzeiht dem Weibe, das uns log,

Um seiner argen Schönheit willen.«


Dem Dichter schrieb Brahms: »Ihr wunderschönes Maikäferspiel hat mir gleich zwei köstliche Abende verschafft, und ich hatte den Kopf voll, was ich Ihnen sagen wollte – denn das Stück zeigt ja nach allen Seiten der Windrose, und man weiß nicht, was man zuerst und zumeist loben und bewundern soll. Geschieht dies nun von anderer Seite recht würdig und schön, so glauben Sie nur, daß niemand freudiger beistimmt als Ihr von Herzen grüßender J. Br.« Von Simrock ließ er sich gleich sechs Exemplare des Buches kommen und verschenkte sie zu Weihnachten. Große Freude hatte er über den Bismarck-Kalender, den ihm Frau Klara Simrock einbescherte. »Meiner war scheußlich«, schreibt er an Simrock, »und hat mich jedes Blatt das Jahr über geärgert; [487] es war ein Hamburger Produkt und brachte täglich den Speisenzettel und schlechte Verse, (nur) jeden Monat ein paar Bismarcksprüche – dieser aber ist solides Berlin und lauter Bismarck. Jeden Morgen wird's mich erquicken, mit einem Wort von ihm begrüßt zu werden.« Niemals vergaß er, das Blatt mit dem fälligen Datum abzureißen, und noch aus dem Bette stand er wenige Tage vor seinem Tode auf, um zu lesen, was Bismarck ihm am 30. März zu sagen hatte.

Weihnachten hatte ihn in hoffnungsfrohe Feststimmung versetzt, wozu außer der werktätigen Teilnahme guter Menschen die Entdeckung nicht wenig beitrug, daß er »wieder rundlicher« wurde. Wir kennen die freundliche Fee, die ihm zu dieser Illusion verhalf.23 Am meisten freute es ihn, daß er von seinen beiden Ärzten am 22. Dezember »feierlich freigesprochen« worden war, bis auf weiteres, d.h. bis Ende Januar. Die Fermate auf dem oben reproduzierten Kurplane, welche 120 fl. kostete, gilt als Zeichen des Stillstands. »Sehr vergnügt«, schreibt er an Simrock, »bin ich nicht grade, aber schließlich: Du hattest es im vorigen Jahr doch schlimmer, und Sorge soll ich ja aber durchaus nicht nötig haben.«

Zwischen Weihnachten und Neujahr wollte ich für eine Woche nach Baden bei Wien reisen, um dort in der Stille eine kleine Arbeit zu vollenden. Der in milden Sonnenglanz getauchte, reine Wintertag erweckte in mir den Gedanken, auf dem Wege zur Südbahn bei Brahms vorzusprechen und ihn zum Mitkommen zu bewegen. Seine Lust an Ausflügen und Spaziergängen, der er noch ohne allzu fühlbare Ermüdung nachhängen konnte, hatte sich nicht verringert. Er wäre auch sehr gern auf einen Tag mitgekommen, denn er teilte meine Vorliebe für die schöne alte, an den Südabhängen des Wienerwaldes gelegene Schwefelstadt, wo Beethoven an der Neunten Symphonie komponierte. Doch die Zusage zu einer Einladung, die er für den Mittag angenommen, hielt ihn in Wien zurück. Als ich gegen 10 Uhr bei ihm eintrat, saß er gerade beim Schreibtisch und las. Er legte das Buch, Otto Gildemeisters gesammelte Aufsätze, die ihm ein Freund [488] als Neuigkeit vom Büchermarkte mitgebracht hatte, beiseite und sprach mit hellem Entzücken von diesen Zeugnissen eines vornehmen und unabhängigen Geistes. – Ob ich den Verfasser kenne? »Ja, im März 1890, bei Gelegenheit von Heyses 60. Geburtstage, den wir in Gries bei Bozen feierten, habe ich seine Bekanntschaft gemacht.« Der Zufall wollte es, daß ich Byrons »Don Juan« in Gildemeisters formvollendeter Übersetzung als Reiselektüre mit mir führte, von der ich Heyse bei meiner Ankunft vorschwärmte. »Da kannst Du Deine Komplimente gleich an den rechten Mann bringen«, erwiderte Heyse, »in einer Stunde trifft Gildemeister mit dem Berliner Eilzuge bei uns ein und macht hier Station auf seiner ersten (!) italienischen Reise. Übermorgen ist sein 67. Geburtstag, zwei Tage vor dem meinen«

Von diesem merkwürdigen Zusammentreffen mußte ich Brahms ausführlich erzählen, und es freute ihn, zu hören, daß der Verfasser des deutschen Ariost und Dante sich als ein urfideles Haus auftat, das einen guten Schluck würzigen Terlaner Weines vertrug und mit seinen 67 Jahren heiter und frisch wie ein Jüngling über die Alpen in das Land seiner ungestillten Sehnsucht davondampfte. »Das ist ein Deutscher, ein Niederdeutscher! Übrigens habe ich mir jetzt ernstlich vorgenommen, nach Bozen und Meran zu gehen, die ich noch immer nicht kenne. Im Frühjahr kommt es wohl dazu.«

Da ich mich verabschieden wollte, bat mich Brahms, bei ihm zu bleiben, bis er ausgehen würde. Ich verschob meinen Ausflug auf den Nachmittag und zeigte ihm einen Brief Widmanns, den ich am Morgen empfangen hatte. Der Dichter der »Maikäferkomödie« bildete sich ein, Brahms könnte ihm seine satirische Anspielung auf den im »Deutschen Requiem« benutzten Korintherbrief übelnehmen. Das war keineswegs der Fall.24 Auf dem Tische lag der unlängst erschienene dritte Band der Baechtoldschen Keller-Biographie, den auch ich zum Fest erhalten und sofort durchgelesen hatte. »Ich war froh«, brummte Brahms »aus dem Elend der zwei ersten Bände herauszukommen. Erfreulich ist dieser Mann nicht.« (Im stillen hatte sich mir bei [489] der Lektüre zuweilen die Bemerkung aufgedrängt, wie ähnlich das Wesen von Keller und Brahms in vielen Dingen war.) »Dankbar bin ich dem Verfasser eigentlich nur dafür, daß er mich immer wieder zu seinem Dichter fortgejagt hat. Wenn die Biographie anfing, mich zu langweilen oder zu ärgern, warf ich das Buch weg und nahm mir die Kellerschen Werke vor. Das ist doch noch was.«

Es ist interessant, diese mündliche Äußerung mit der schriftlichen zu vergleichen, die Brahms vierzehn Tage vorher an den Schweizer Literarhistoriker, der ihm sein biographisches Werk geschickt hatte, in Briefform abgehen ließ, woraus zu ersehen, wie verschieden ein und derselbe ein und dasselbe mit anderen Worten sagen konnte, je nachdem er grob oder höflich sein wollte. »Verehrter Herr Doktor«, schrieb Brahms am 11. Dezember an Baechtold, »zu der Vollendung Ihres Werkes gratuliere ich von Herzen und danke allerschönstens, daß Sie mir den Vorzug gönnen, es aus Ihrer Hand zu besitzen.

Wieder habe ich den Eindruck, daß es fast ein Opfer war, den ersten und den zweiten Band zu geben, ohne daß der Leser den Ausblick auf den so schön versöhnenden und abschließenden dritten Band hat. Mir ist, als könnte ich jetzt erst Ihr Buch mit rechtem Behagen von neuem anfangen, erst jetzt dankbar empfinden, welchen Schatz Sie uns mit diesem Werke gegeben haben.

So freue ich mich jetzt erst eigentlich, wie des Neuen, so des Ganzen!...«25 Merkwürdig war es, daß er sich über die köstlichen [490] Briefe Kellers an Marie Exner in zornigen Eifer hineinredete, um so merkwürdiger, als er sie mir vor sechs Jahren mit innigem Vergnügen aus seiner eigenen Abschrift vorlas.26 Es schien ihn zu verdrießen, daß ein Mann wie Keller soviel goldenen Humor für eine Verehrerin übrig gehabt haben sollte, wovon nun ein so großes Wesen gemacht werde. Vielleicht auch mochte inzwischen ihm irgend etwas an der Sache mißfallen, oder jemand ihn verletzt haben, was nun den daran wahrscheinlich höchst unschuldigen Urhebern angekreidet wurde. »Das muß man ja nicht für bare Münze nehmen oder gar für einen Beweis freundschaftlicher Anhänglichkeit. Ich habe es selbst gehört, wie Keller über diese Brieflasten seufzte und schimpfte. Kenne das auch aus eigener Erfahrung. Da bombardieren einen die Frauenzimmer mit Briefen. Endlich muß man doch nach vierzehn Briefen einmal antworten. Je wütender man ist, desto süßer schreibt man dann.«

Beim Abschied versprach er, nächster Tage zu uns zum Speisen zu kommen und ich fuhr nach Baden, in Gedanken mehr mit dem daheimgebliebenen Freunde als mit meiner Arbeit beschäftigt. Im Jahre 1895 hatte ich ein Tagebuch geführt, aus dem ich in früheren Kapiteln mancherlei mitteilen konnte. Nun nahm ich mir vor, von 1897 an das Unterbrochene fortzusetzen. Für die letzten Monate im Leben unseres Tondichters bieten sich diese Tagebuchaufzeichnungen als ergiebige Quelle an, die nur weniger fremder Zuflüsse bedarf, um das Gedächtnis jener traurigen [491] Zeit zu beleben. In der Besorgnis, die Frische des Eindrucks durch den breiten Vortrag des Erzählers abzuschwächen, lasse ich die Blätter des Buches selbst sprechen und füge nur, wo es nottut einige Randbemerkungen hinzu.

Auf der ersten Seite stehen die eigenhändig eingeschriebenen Namen: Josef Joachim, Johann Kruse, Emanuel Wirth, Robert Hausmann, Ignaz Brüll, Ludwig Ganghofer, Wilhelm Singer. Johannes Brahms beendet die Reihe mit energischem Schlußstrich. Dazu gehört die Notiz: Das alte Jahr, in dem ich leider kein Tagebuch geführt habe, versammelte die hier Verzeichneten an seinem letzten Tage um meinen Mittagstisch. Brahms war wieder schwächer, weil er sich am Morgen mit Spaziergang und Quartettprobe zu viel zugemutet hatte. Das Mahl aber mundete ihm, und er rief einmal in gehobenem Tone aus: »Eine Frau zu sein, die gut kochen kann, ist doch das Höchste!«27 – Joachim gab mit seinem Quartett drei Kammermusikabende, denen er am 2. Januar einen »außerordentlichen« vierten nachschickte. Ehe er nach Wien kam, hatte er Brahms gebeten, sein f-moll-Quintett im zweiten Konzert mit ihm zu spielen, das ein Schubert-Brahms-Abend sein und noch ein Streichquartett von Brahms bringen sollte. »Ich weiß«, hieß es in seiner Aufforderung, »wie ungern Du so etwas unternimmst, und will nicht zudringlich werden, denn daß Du mir und den Kollegen gern eine Freude machtest, nehme ich an. Aber antworte mir; ich werde es richtig verstehen, wenn Du ablehnen mußt. Womöglich tue es nicht, lieber Brahms: wer weiß, wie lange wir es noch vermögen, miteinander zu musizieren!« – Brahms aber hatte geantwortet: »Unter gar keinen Umständen! Und wenn Ihr vier liebe, liebliche Geliebte wärt, wie Ihr ernste verehrte Männer seid!«

[492] 2. Januar 1897. Um 1/2 11 Uhr zu Joachim ins Hotel Tegetthoff. Generalprobe zum heutigen Quartettabend. Hausmann erzählt, daß Brahms, der vergebens erwartet wird, bei der Vorprobe seinesG-dur-Quintetts (am 31. Dezember) still im Nebenzimmer gesessen sei und dann, sehr befriedigt von der Reproduktion, gesagt habe: »Es ist kein so übles Stuck und eine meiner besten Kammermusiksachen.« Ein vornehmes Publikum, mit der Kronprinzessin Stefanie an der Spitze, füllte den Saal. Von einem Stück zum andern wächst der Enthusiasmus der Zuhörer und erreicht nach dem Adagio von Brahms den Höhepunkt. Joachim läßt sich zu keiner Wiederholung bewegen, wie ungestüm immer sie verlangt wurde. Nach dem Finale des Quintetts heißt es, Brahms sei im Künstlerzimmer anwesend. Und nun bricht ein förmlicher Tumult los. Joachim zieht den Widerstrebenden herein. Erschütternder Anblick, als er Hand in Hand mit dem Freunde vier- oder fünfmal auf dem Podium erschien. Ein Orkan des Beifalls durchtobte den Saal. Viele stiegen auf die Bänke, um ihn zu sehen, die Herren schwenkten die Hüte, die Damen wehten mit den Taschentüchern, Jauchzen und Hochrufe ertönten, mit Schluchzen und halbersticktem Weinen untermischt, als die Gestalt wie ein dem Grabe Erstiegener sich vor der ergriffenen Menge zeigte. Die Künstler waren dann noch bis 2 Uhr nachts bei Dr. Kupelwieser. – Hausmann bewunderte die zähe Ausdauer, mit der Brahms von einem Feste zum andern geht; er selbst, obwohl er gesund und kräftig sei, hielte es kaum aus.

3. Januar. Zu Mittag mit Brahms, Gustav Walter, Exzellenz Holbein und Fabers bei Millers. Brahms sieht sehr schlecht aus, beteiligt sich aber lebhaft an der Unterhaltung und äußert seine Freude, daß ihm alles »so gut bekommt«. Nach Tisch nickt er, wie gewöhnlich, beim schwarzen Kaffee ein.

7. Januar. Mittags Brahms mit Singer, Schneegans, Rosl K. und Doller bei uns zu Tische. Brahms, in sehr gemütlicher Stimmung, teilt der Gesellschaft seelenvergnügt mit: »Vorgestern habe ich meine Ärzte honoriert. Jetzt frage ich nach keinem mehr und kann nun wieder essen, was ich will.« Unser schlesisch-polnischer Heringssalat seine besondere Wonne.

9. Januar. Das lange besprochene solenn Brahms-Diner [493] im Hause unseres Freundes Theodor Kantor. Prächtiger Tisch, mit Blumen garniert und Früchten beladen, am oberen Ende der Ehrengast zwischen zwei jungen Damen. Alles sehr fidel. Der unglückliche M. bringt einen gerührten Toast auf Brahms aus, »daß ihn der liebe Gott uns noch recht lange erhalte«. Wir glauben, in die Erde sinken zu müssen. Brahms aber verzieht nur einen Augenblick das Gesicht, als ob er einen plötzlichen Stich empfunden, ohne dem Sprecher seine Dummheit nachzutragen oder eine Verstimmung zurückzubehalten. Das war der einzige störende Zwischenfall. Sonst verlief das kleine, Fest in schönster Harmonie. Brahms fühlte sich so wohl und frisch in der lustigen Gesellschaft der jungen Leute, daß er zu unserm Erstaunen erklärte, nicht allein mit in unsere Loge ins Volkstheater zu kommen, sondern auch nach dem Theater noch im Gasthause mit uns soupieren zu wollen. Er verfolgte die Novität, Freund Ganghofers »Meerleuchten«, mit der angeregtesten Aufmerksamkeit und klatschte demonstrativ Beifall hinunter. Beim Nachtmahl besprachen wir die Vorzüge und Mängel des Stückes, und ich bedauerte, daß es keinen stärkeren mittleren Akt habe, auf den es, wie wir gesehen, gerade ankomme. Seiner löblichen Gewohnheit getreu, die Abwesenden in Schutz zu nehmen, ergriff Brahms sofort Partei für Ganghofer und fuhr mich an: »Warum haben Sie ihm das nicht früher gesagt? Er hat Ihnen, denke ich, das Manuskript mitgeteilt?« – »Habe ich, aber es hat nichts genutzt. Guter Rat hilft keinem produzierenden Künstler; man erzürnt oder verwirrt sie nur, und sie machen dann doch, was sie wollen.« – Wer diesen Tag mit Brahms erlebt hätte, ohne zu wissen, wie es um ihn steht, würde ihn für den gesundesten Menschen gehalten haben. Als er gegen 1/21 Uhr sich endlich zum Heimweg anschickte, wies er den Wagen ab und bestand trotz des heftig wütenden Sturmes darauf, zu Fuße zu gehen. Ich brachte ihn nach Hause und hatte Mühe, Schritt mit ihm zu halten, so schnell lief er.

17. Januar. Im Gesellschaftskonzert nach Chorliedern von Brahms eine spontane, wie auf Verabredung dargebrachte allgemeine Huldigung. Der Doppelsinn der Strophe:


[494] »Fahr wohl,

All Liebes, das nun scheiden soll!

Und ob es so geschehe,

Daß ich nicht mehr dich sehe,

Fahr wohl!«


ging den Anwesenden tief zu Herzen. Vom Beifallsgeschrei an die Brüstung der Direktionsloge gerufen, verneigte sich Brahms müde mit seinem verwüsteten Gesicht. Für einen Moment trat entsetztes Schweigen ein, dann löste der gewaltsam wiederholte Applaus die peinliche Spannung.

18. Januar. Ein verwickelter, labyrinthischer Gassenirrgang führte mich spät zu Conrats. Alles sitzt schon bei Tisch, und Brahms schilt auf den Herumtreiber, der gewiß wieder beim Antiquar ein paar unnütze Schwarten eingeschachert habe, ohne sich darum zu bekümmern, ob der Braten anhänge und die Mehlspeise verbrenne. Er hat seinen Spaß an einem Bericht über den neuen Bayreuther Gurnemanz (Dr. Felix Kraus), der sich bei Frau Cosima dadurch einzuheben glaubte, daß er ihr einen ganzen Abend Brahmssche Lieder vorsang. Brahms sagt, daß er die vorige Nacht kein Auge zugetan habe. Gleichwohl ist er ziemlich munter und sieht wieder etwas voller aus. Wie gern glaubte man an das günstige Symptom! – Während wir zusammen tafelten, war in der Stadt das Gerücht ausgesprengt, Brahms liege im Sterben.

22. Januar. Brahms, der von der Schubert-Ausstellung im Künstlerhaus begeistert ist, animiert uns, sie zu besuchen.

23. Januar. Zu Brahms, um ihm über die Eindrücke der Ausstellung zu berichten. Frau Soldat-Röger macht ihm ihren Abschiedsbesuch. Sie urteilt nicht gerade schmeichelhaft über einen vielprotegierten Kollegen. Ich scherze: »Wir Kritiker sind doch die reinen Lämmer den Künstlern gegenüber, wenn sie sich gegenseitig abschätzen!« Brahms, der den geschmähten Geiger nie gehört hat, fährt auf: »Ein Kerl, der den Aristokraten gefällt, taugt gewiß nichts.« Als ich ihn, nachdem Frau Röger gegangen, in unsere Cottage-Baupläne einweihe, die er sich genau detaillieren läßt, sagt er in bedauerndem Tone: »Sie sind also ein vermögender Mann«. – »Aber ich habe Ihnen doch genau erklärt, wie [495] man mit einem klugen Spar-und Amortisationssystem ganz gut ohne Kapital bauen, schlimmstenfalls auch Hypotheken aufnehmen kann.« – »Unsinn, Hypotheken, was ist das? Kenne ich nicht und glaube ich nicht. Sie sind ein vermögender Mann!« Darauf wird er mit einem Male ganz weich, phantasiert von den Freuden, die ein eigener Garten gewähren müsse, und sagt, auch er habe manchmal an so was gedacht. Dann klagt er mit gedämpfter Stimme, daß es gar nicht besser mit ihm werden wolle. Ich tröste ihn schweren Herzens, ermahne ihn zur Geduld und rede ihm seine trüben Gedanken aus.28 Unlängst habe ein neuer Arzt, den einer seiner Freunde heimlich aus der Fremde verschrieben,29 nach eingehendster Untersuchung versichert, daß ihm nichts Ernsthaftes fehle. Er, Brahms, glaube ihm zwar die ehrliche Meinung, verzweifle aber zugleich an der Urteilsfähigkeit und der Kunst der Ärzte. Einzig freue ihn, daß er im Frühjahr nicht wieder nach Karlsbad zu gehen brauche, da er, wenn es nötig sein sollte, den Brunnen in Wien trinken dürfe. Unter diesen und andern Gesprächen wurde es 1/21 Uhr – seine gewöhnliche Ausgehzeit – und ich fragte ihn, ob er nicht mitkommen wolle. Nein, er denke noch ein Stündchen zu schlafen, er sei so müde. Wie elend muß er sich fühlen, wenn er seinem armen Körper dergleichen bei ihm sonst unerhörte Zugeständnisse macht!

25. Januar. Gestern war Geheimrat Wendts siebzigster Geburtstag, der in der Aula des Karlsruher Gymnasiums mit einem Festaktus feierlich begangen wurde. Brahms mußte sich mit einer Depesche begnügen.30

[496] 26. Januar. Julius Röntgen besucht uns auf ein Plauderstündchen. Er ist, trotz der Erkrankung Messchaerts, von Amsterdam für einen einzigen Tag nach Wien gekommen, um das f-moll-Quintett bei Rosé zu spielen. Sein Entsetzen über die reißenden Fortschritte, welche die Krankheit bei Brahms gemacht hat seit dem November, wo er ihn zuletzt sah. Der kürzlich herzitierte Utrechter Arzt habe sich zu Professor Engelmann höchst ungünstig geäußert. Auch Röntgen will in der außerordentlichen Milde des Patienten ein schlechtes Zeichen erkennen. Wir müssen uns gefaßt machen, ihn bald zu verlieren. Heute ist er nicht, wie er anfangs gewollt, zur Probe gekommen, sondern hat sich, genau wie neulich, vor Tische ausgeruht, war dann aber bei Fellingers auch wieder bald müde.

28. Januar. d'Alberts, Brülls, Schneegans, Singer, Rosl und Doller mit Brahms bei uns zu Mittag. Brahms ist in sehr gereizter Stimmung und läßt sie besonders an d'Alberts aus, obwohl wir das ihm sympathische junge Paar auf seinen schriftlich ausgesprochenen Wunsch eingeladen hatten.31 (U.a. fand er es langweilig, daß d'Albert noch immer dieselbe Frau habe.) »Nach Ihrem Konzertprogramm«, schoß er gegen den verlegenen Künstler los, »frage ich lieber gar nicht; es wird wohl wieder ein hübsches Zeug beisammen sein.« – »Zum Beispiel Ihre Händel-Variationen«, erlaubte ich mir einzuwenden. Brahms nahm den Scherz, sofort heiter umgestimmt, dankbar auf und rief: »Na also, habe ich es nicht gesagt?« d'Alberts schwärmten vom Starnbergersee, wo sie in der Nähe von Bernried ein Haus für den Sommer gepachtet haben. Wir ergehen uns gemeinsam im Lobe der schönen Uferlandschaften, und Brahms meint, er brauche nicht erst von uns zu erfahren, was dort los sei, da er einmal einen ganzen Sommer (1873) in Tutzing gewohnt habe. Wie sonderbar, daß [497] ich in dem selben Sommer, ohne von Brahms zu wissen, sein Zimmernachbar gewesen bin (einige Tage hindurch im oberen, sehr ländlichen Gasthofe), und daß ich mich erst jetzt daran erinnerte, ihn (zum erstenmal in meinem Leben) mit Hermann Levi auf dem Dampfschiffe gesehen zu haben. Ein Jahr später lernte ich ihn persönlich und überhaupt von Angesicht kennen, ohne daß mir die frühere Begegnung eingefallen wäre, und jetzt erst tritt mir das Bild des stämmigen, bartlosen Mannes, wie er in eine auf einem Klappstuhl sitzende Dame (Klara Schumann?) heftig hineinredet, wieder vor Augen.

1. Februar. Heyse erkundigt sich besorgt nach Brahms. Es sind bedenkliche Gerüchte über ihn in München verbreitet.

2. Februar. Mit Brahms, Goldmark und Frau Hermine W., der Schwester von Marie Brüll, die früher manchmal mit Brahms vierhändig gespielt, bei Brülls zu Tisch. Brahms ist wieder munterer und lacht über eine Menge von Schnurren, die er und Goldmark erzählen. d'Alberts, denen zu Ehren das Mahl angerichtet worden war, hatten abgesagt.

6. Februar. Früh bei Brahms. Dr. Josef Breuer, Brülls Hausarzt, hat ihn in Behandlung genommen und über seinen Zustand beruhigt. Infolgedessen ist er besserer Laune, und seine Stimmung hebt sich. Armer Betrogener, der sich von menschenfreundlichen Ärzten so gern täuschen läßt, wenn er gleich vorgibt, nichts von ihrer Weisheit zu halten! – Er zeigt mir ein kalligraphisch geschriebenes, zierlich in Leder gebundenes Manuskript von beträchtlichem Umfange: eine chronistische Zusammenstellung seiner sämtlichen Gesangstexte, nach den Dichtern geordnet. Dr. Ophüls in Krefeld, ein glühender Verehrer Brahmsscher Musik, ist der Sammler und Schreiber. Er hatte sich an mich gewendet, um biographische und literargeschichtliche Daten über einzelne, bereits verschollene Dichter zu erhalten. Leider konnte ich ihm nur sehr mangelhafte Aufklärungen aus eigenen Mitteln geben, da Brahms, obwohl er eine solche Sammlung von Texten selbst gewünscht hatte, keine Auskünfte erteilen wollte.32 Seine Dichter schienen [498] mit den Liedern abgetan für ihn, ihre Lebensumstände kamen nicht in Betracht. Teils hatte er Menschen und Bücher, aus denen er geschöpft, wirklich vergessen, teils war es ihm unbequem, sich in ihrer Vergangenheit zu orientieren. Aber das mit Fleiß und Liebe gearbeitete Buch machte ihm ersichtliche Freude, und es gefiel ihm, als ich es eine originelle Anthologie nannte, die mehr wert sei als die gewöhnlichen Blütenlesen und Perlenreihen in Goldschnitt.33 – Vom Allgemeinen aufs Besondere übergehend, kam er wieder auf die Keller-Biographie zurück und sagte, er werde niemals mit ihr fertig. »Denn so oft von einer Dichtung die Rede ist, lege ich Bächtold beiseite und nehme Keller vor. Da ist dann kein Ende zu finden. Und dafür bin ich dem Literarhistoriker dankbar, er mag im übrigen sein und schreiben, wie und was er will.«

9. Februar. Brahms hat uns die Freude gemacht, wieder eine Einladung unserer, Freunde anzunehmen, und wir treffen ihn dort in der gewohnten kleinen Gesellschaft. Er ist sehr aufgeräumt, gesprächig und mitteilsam, hat auch wieder Lust zu streiten, wie in früherer Zeit. Dr. Breuer hält noch vor, und der neue Vorrat hoffnungsvoller Lebensfreude ist noch nicht erschöpft. Bei und nach Tische wandelt ihn keine Spur von Ermüdung an. Gegen einen gemeinschaftlichen Bekannten, der es durch irgendeinen faux pas mit ihm verdorben, hat sich eine Menge Zündstoff angesammelt, der nun zur Explosion kommt. Eine Eigentümlichkeit seines sonst so gerechten Charakters ist in der Krankheit bis zur schroffsten Härte ausgebildet worden: der unantastbare und doch so empfindliche Glaube an die Sicherheit seines persönlichen Urteils. Wehe, wenn gar jemand seine Menschenkennerschaft, auf die er sich mit Recht etwas einbilden durfte, dadurch in Zweifel zog, daß er ihn hinters Licht führte! Der Betreffende hat es für immer bei ihm verschüttet. Blind und taub gegen Entschuldigungen, Einwände und Rücksichten, geht er mit dem Frevler, der den Grund seines Zornes nie erfährt, ins Gericht und verdammt ihn ungehört ohne Gnade und Barmherzigkeit. Ähnlichkeit mit [499] Beethovens Charakter. Fast hätte ich mir, der ich für den von ihm Angegriffenen Partei nahm, obwohl ich die Reizbarkeit meines Opponenten schonte, seinen heftigsten Unwillen zugezogen, und ich schwieg endlich, um ihn nicht noch mehr aufzubringen. »Da könnte ich grob werden«, eiferte er weiter, »hab' ich mir aber auch längst abgewöhnt.«

10. Februar. Mit Brahms, Goldmark, Singer, Brüll und Hegenbarth bei Schwarz zu Mittag. Alles in guter Laune, Brahms so unverwüstlich in komischen Geschichten, daß man den Ernst seines Leidens hätte bezweifeln können. Der tragikomische Heiratsroman, der sich damals im Hause eines stadtbekannten Wiener Künstlers abspielte, hatte einigen gefürchteten Lästerzungen willkommenen Stoff zu boshaften Witzen gegeben; diese wurden in der Runde reproduziert und neue hinzugefügt. Einer der Anwesenden behauptete, daß Brahms imstande wäre, das Thema in einer Weise zu variieren, die seine Passacaglien und Chaconnen bei weitem übertreffen würde. »Ja«, sagte Brahms, »die Melodie wäre schon recht, aber den Takt kann ihr keiner beibringen.« – Trotz seiner zunehmenden Unsicherheit beim Gehen – er rennt manchmal geradenwegs in Pferde und Wagen hinein und gibt auf kein im Wege stehendes Hindernis acht – war es nicht möglich, ihn in eine Droschke zu bringen. Er mußte seinen Spaziergang über den Ring haben und war am populären Kammermusikabend des Rosé-Quartetts pünktlich auf seinem Posten in der Direktionsloge, um dem ihm von Frankfurt her bekannten Ehepaar Lazzaro und Julia Uzielli eine Artigkeit zu erweisen. Nach dem »Ständchen« winkte die Sängerin zu ihm hinauf, und das Publikum applaudierte so lange, bis sie das Lied wiederholte, während Brahms sich zurücklehnte, um nicht bemerkt zu werden.

11. Februar. Mittags Brahms bei uns in gewohnter Tafelrunde. Noch immer leidlich vergnügt, hat er melancholische Anwandlungen und jammert über das elende Dasein. Beim Essen gibt er wiederholt seinem innigen Behagen an den Tafelfreuden Ausdruck. Plötzlich sagt er, zum Fenster auf den alten Friedhof hinauszeigend (wir hatten damals eine Gartenwohnung in der Rossau): »O wenn ich dort läge!« Es tritt eine unheimliche allgemeine Stille ein, bis meine Frau mit dem Scherz: »Das [500] wäre allzu umständlich, da müßten wir Ihnen den Heringssalat immer in den Garten hinunterschicken!« die Spannung löst. Zum Gluck hatte jeder die Absicht gemerkt und sich schnell gefaßt. Brahms wollte offenbar aus dem Eindruck, den das Impromptu auf uns machte, entnehmen, wie wir über seine Krankheit dächten.34 Von der Anstrengung, mit der sich meine Frau zu dem Scherz zwang, merkte er nichts. Mit überströmender Herzlichkeit bedankte er sich noch einmal bei mir, daß ich ihm den Dichter Wilhelm Raabe empfohlen hatte, und nahm sich dessen »Horacker« mit. Beim Weggehen drückte er mir den Gulden, den ich ihm gestern geliehen, wie ein Trinkgeld in die Hand und amüsierte sich königlich über mein Erstaunen. Sein Gedächtnis ist noch immer sehr gut; nur in seinen Erzählungen wiederholt er sich, wie Holtei, der seinen Anekdotenschatz musterhaft bewachte und verwaltete, in den letzten Jahren.

12. Februar. Widmann träumt von einer italienischen Reise, die wir mit Brahms zusammen unternehmen sollen, und fragt, was ich davon denke!

13. Februar. Um 10 Uhr früh bei Brahms. Ich höre ihn Klavier spielen und hätte gern im Schlafzimmer gewartet, um – vielleicht zum letztenmal von seiner herrlichen Kunst zu genießen. Aber er hatte durch die Glastür gesehen, daß jemand da war, und stand auf. Ein Band Händelscher Suiten lag vor ihm aufgeschlagen. Anfangs glaubte ich, er sähe die Kantate durch, die morgen im Gesellschaftskonzert gesungen werden soll; ich wollte mir die Partitur von ihm ausleihen. Er aber sagte: »Alles Entbehrliche habe ich schon zu Mandyczewski (in die Musikvereinsbibliothek) geschickt.« Das »schon« tat mir weh. – Der Kupferstecher William Unger hat von England aus den Auftrag erhalten, eine Porträtradierung von Brahms nach dem Leben her zustellen. Brahms will ihm nicht sitzen: »Ich habe den schönsten [501] Vorwand an meiner Krankheit und werde ihm schreiben, es ginge nicht, da mein Rundbogen- in den Spitzbogenstil übergegangen sei.« – »Fahren Sie nur so weiter fort in der Kunstgeschichte«, erwiderte ich zuversichtlich, »dann kommen Sie da an, wo wir Sie bald zu sehen wünschen: bei der Renaissance!« Er lächelte und seufzte, als ich das sagte, dann sah er mich durchdringend an, und ich schlug wie ein ertappter Sünder die Augen nieder. Es ist fürchterlich, heucheln und lügen zu müssen, auch wenn man es aus barmherziger Liebe tut. »Um halb sieben stehe ich täglich auf«, begann er wieder in klagendem Tone, »ganz wie sonst; aber ich bin dann schon nach dem Frühstück so müde, daß ich mich gleich wieder hinlegen möchte. Der Arzt hat mir das viele Spazierengehen untersagt und mich auf später vertröstet, wenn ich mich wieder frischer fühlen werde.« Traurig ging ich fort. Brahms begleitete mich bis vor die äußere Tür Auf dem Vorsaal überrannte uns ein Redaktionsdiener mit der Nachricht, daß Friedrich Mitterwurzer gestorben sei. Ich war wie vom Donner gerührt. Auf Brahms machte die Botschaft gar keinen Eindruck, und er warnte mich neckisch: »Na, da trinken Sie nicht zu viel, wenn Sie heute noch einen Nekrolog schreiben müssen – ein angenehmes Geschäft!«

16. Februar. Julie war heute morgens in der Karlsgasse und kommt mit schlechten Nachrichten heim. Brahms hat sich von Millers, die doch nicht weit von ihm wohnen, den Wagen ausgebeten, um nach Hause zu fahren.35 An Widmann geschrieben, er möge schleunigst nach Wien kommen, wenn er den Freund noch einmal sehen wolle.

18. Februar. Herrlicher Vorfrühlingstag. 17° Wärme. Zu Brahms. Im Laufe einer Stunde kommen und gehen viele Menschen. Mit jedem redet er ein paar freundliche Worte. Als wir wieder allein sind, spreche ich meine Verwunderung darüber aus, daß er diese ihm meist gleichgültigen, langweiligen und beschwerlichen Besuche vorläßt. »Was soll ich sonst anfangen?« entgegnete er sehr [502] traurig. »Sie bringen mir wenigstens immer eine Art von Abwechselung und Zerstreuung. Ich kann doch nicht den ganzen Tag auf dem Sofa liegen. Zum Spazierengehen bin ich zu schwach. Mit dem Lesen will's auch nicht mehr: es strengt mich an, und ich schlafe gleich ein. Auch das Sprechen wird mir schwer, seit ich gestern mit dem schiefen Gesicht aufgestanden bin.« Ich war schon darauf vorbereitet, ihn mit einer Lähmung der linken Gesichtshälfte zu sehen, und tat, als bemerkte ich nichts. Mund und Auge sind verzogen, und er kann keine Hautmuskel bewegen. Der Arzt hat ihm eingeredet, es sei Rheumatismus, war aber ein leichter Schlaganfall. – Über ein Geschenk der Baronin von Heldburg bezeugt er große Freude, noch mehr über die Art, wie sie ihm den Dank dafür erleichtern wollte. Den gehäkelten Hausschuhen, welche die Füße nicht erhitzen wie gewöhnliche Pantoffeln, lag eine adressierte Postkarte mit der Empfangsbestätigung bei. Er brauchte nur zu unterschreiben.36 Marie Schumann ist in Wien, und Brahms will sie morgen besuchen. Unter anderem teilte er mir noch mit, daß er die Jodkur wieder aufgegeben habe, weil sie ihn zu stark angriffe, und daß er jetzt, anstatt der ihm früher gestatteten kleinen Flasche Champagner, abends eine Tasse Tee trinke.

19., 20. Februar. Als ich Brahms verabredetermaßen mit dem Wagen abholen wollte, um mit ihm zu unseren Freunden [503] zu fahren, fand ich einen Zettel von seiner Hand vor, das schöne Wetter habe ihn unwiderstehlich ins Freie gelockt, und er sei lieber – einen dreiviertelstündigen Weg – zu Fuß gegangen. FrauDr. Truxa erzählt mir, daß der Ärmste weder frühstücke, noch zu Abend esse. Oft lege er sich, nachdem er aufgestanden sei, gleich wieder zu Bett. Gestern seien schon zwanzig Leute dagewesen, ehe ich und die andern kamen. Er wisse ganz genau, was er von der Teilnahme der meisten, die jetzt alle seine Freunde sein wollen, zu halten habe, und spreche sich oft sehr abfällig über sie aus. Wenn er allein sei, besonders des Abends, starre er stundenlang, das Gesicht in beide Hände gestützt, vor sich hin usw. Bei Kantors werde ich schon erwartet. Brahms hat im Vorübergehen Frl. Schumann besucht, die im Michaelerhose wohnt. Alles gibt sich bei Tische Mühe, die Unterhaltung in Fluß zu bringen; aber der jammervolle Anblick des vom Tode gezeichneten Gastes lähmt die Geister. Selbst Singer scheint seine gute Laune verloren zu haben und kann sie nicht finden. Brahms meint, er wolle nicht wieder ausgehen, er gehöre nicht mehr unter Menschen. Wir reden es ihm aus, und unterwegs im Wagen, da er wieder trübselig davon anfängt, suche ich ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß er sich täglich ein paar Stunden zerstreuen müsse: »Es geht doch nicht, daß Sie ganz allein bleiben!« – – ›Ja, Sie haben recht, es geht doch nicht, geht wirklich nicht!‹ stimmte er bei, wie von einer geheimen Angst geschüttelt. – Frau von Holstein schreibt, daß vorgestern meine von Kößler komponierten »Sylvesterglocken« als »weltliches Requiem« neben Brahms' »Ernsten Gesängen« in einem Novitätenkonzert des Gewandhauses aufgeführt worden sind – ein merkwürdiges Zusammentreffen. »Läutet, ihr Glocken, unseren Toten!«

22., 23. Februar. Noch einmal in der Schubert- Ausstellung, die am 28. geschlossen wird. Physiognomische Beobachtung: Das hervorstehende Kinn bei der Mehrzahl der Schubertschen Zeitgenossen (Grillparzer, Schober, Bauernfeld, Castelli, Vogl). Brahms mit Wagen zu uns abgeholt. Er soll sich von heute an täglich elektrisieren lassen und ist infolge der Aussicht auf eine neue, erfolgreiche Kur wieder munterer und zu allerlei nachdenklichen Gesprächen aufgelegt. Zu meiner physiognomischen »Entdeckung« [504] meint er, der vorgeschobene, affenartige Unterkiefer sei zu allen Zeiten verbreitet gewesen. Seitdem die Männer Bärte tragen, falle dieses Merkmal unserer »göttlichen« Abkunft weniger auf. Jeder sehe übrigens durch die Brille eines Vorurteils. Man lerne erst sehen, wenn einem ein unbarmherziges Schicksal die Brille von der Nase reißt. Er spielt das Gleichnis ins Moralische hinüber. Wie wenige Menschen halten auf die Dauer, was sie anfangs versprechen, und wie bald bekommt man sie satt, wenn kein persönliches Interesse mehr sie uns verbindet! Es ist alles eitel, wie der Prediger sagt. Das Eitelste aber das Objekt ohne Illusion. »Die faden Artigkeiten und dicken Schmeicheleien, die mir versetzt werden, sind mir so ekelhaft, daß ich mich halten muß, um nicht rasend zu werden. Erfahrung und Menschenkenntnis macht jeden zum Misanthropen.« – Wir sprechen von der politischen Lage und der kretensischen Verwicklung. Er freut sich über die entschiedene Haltung Deutschlands und Kaiser Wilhelms. Man solle doch die Baronin Suttner als Friedensengel mit dem Palmenzweige nach Griechenland schicken! In einer Welt, die durchaus auf den Kampf gestellt sei, werden die Friedensfreunde nie etwas erreichen. Moltkes Auffassung des Krieges auch die seinige. Pessimistische Schwermut und leidenschaftlicher Zorn bei dem Gedanken an die Zukunft der Menschheit. Interessenwirtschaft und Pfaffenherrschaft überall und immer. Die Götter und die Güter wechseln, die Pfaffen und die Interessen bleiben. Unmöglichkeit, das soziale Problem zu lösen und die Massen durch Bildung zu befreien. Die miserable Durchschnittsnatur des Menschen. Degeneration führt zum Typus und zur Intelligenz der Affen zurück. Dies alles unterwegs, zu Wagen und zu Fuß. – Bei Tische läßt Singer sämtliche Raketen seines Humors und Witzes steigen, und es hebt ein allgemeines lustiges Schimpfen und Gelächter an. – Widmann schreibt mir, er könne von Bern nicht abkommen und wolle den Herzog v. Meiningen bestimmen, daß er Brahms in die Villa Carlotta einlade. Ich mache ihm sofort die Unzweckmäßigkeit dieser schönen Idee klar.

26. Februar. Diner bei Rosl. Brahms hat die Equipage verschmäht und kommt zu Fuß, gleichzeitig mit Schneegans. Ich bringe ihn im Wagen nach Hause, und er bedankt sich immer [505] wieder in rührender Weise bei mir, da er merkt, daß ich seinetwegen die Gesellschaft verlassen habe. Eine solche selbstverständliche Bagatelle nennt er ein Opfer!

2. März. Vor Brahms' Hause treffe ich mit dem Wiener Musikverleger Albert Gutmann und dem Konzertdirektor Hermann Wolff aus Berlin zusammen. Sie erzählen, daß sie gestern mit Brahms eine Stunde im Prater spazieren gegangen sind (die Millersche Equipage fuhr nebenher). Er sei munter und guter Dinge gewesen. Auch heute geht es ihm erträglich: aber sein überlebendiges Wesen hat etwas von künstlich hervorgerufener Exaltation.

7. März. Vor dem Philharmonischen Konzert war Julie bei Brahms. Seine Gesichtsmuskeln sind beweglich geworden, und er glaubt wieder an Genesung. Ausgehen aber und bei Freunden speisen wolle er nicht mehr, er habe das Gefühl, allen unerträglich zu sein. Julie benimmt ihm seinen Argwohn, und er verspricht, Donnerstag zu uns zu kommen. »Laden Sie nur auch R. dazu; er hat Probe und sagt ab!« – Hans Richter bewährt sich als genialer Dirigent bei Brahms' e-moll-Symphonie; seine Auffassung und Ausführung kongruieren mit dem Geiste des gewaltigen Werkes. Beschämt gedenke ich meiner ehemaligen Zweifel, mit denen ich Brahms bestimmen wollte, die Symphonie zurückzuziehen und umzuarbeiten.37 O, ich usw.! Brahms wohnte dem Konzert im Hintergrunde der Direktionsloge bei. Seine Anwesenheit war nicht unbemerkt geblieben. Nach dem ersten Satze brach tosender Beifall los, und Brahms mußte sich endlich an der Brüstung der Loge zeigen. Als sein dunkles Haupt wie ein Geist aus der Versenkung über der Galerie emporstieg, erhob sich das Orchester von seinem Sitze, und alles grüßte und winkte zu dem Drobenstehenden hinaus. Noch zweimal ging es wie ein Erdbeben durch den Saal, nach dem Andante und dem grandiosen Finale. Das Publikum folgte dem Beispiele der Musiker und machte, außer sich vor Schmerz und Begeisterung, den widersprechendsten Gefühlen Luft. Am Schlusse des Konzerts ging Brahms in das Versammlungszimmer der Musiker und dankte in [506] bewegten Worten dem Dirigenten und dem Orchester für die »ganz wundervolle« Aufführung seiner Symphonie. Man hörte die brausenden Hochrufe der Musiker über die Stiegen bis ins Atrium hinunter. Es war wohl der größte Triumph, den Brahms in Wien erlebte, und er fiel zusammen mit seinem letzten Konzertbesuche.

11. März. Brahms wieder in der gewohnten, durch Brülls erweiterten Tafelrunde bei uns. Er scheint elender zu sein als zuvor, ißt und trinkt nur noch zum Scheine, steht mitten in der Mahlzeit vom Tisch auf, legt sich in meinem Arbeitszimmer auf den Diwan und kommt erst zum schwarzen Kaffee wieder. Schleicht dann in Schneegans' Überzieher, den er mit dem seinigen verwechselt, traurig fort und läßt uns in tiefer Niedergeschlagenheit zurück.38

12. März. Karl Reinecke, dem Brahms einen Besuch gemacht hat, erzählt bei Brüll, er sei in Leipzig einmal angegriffen worden, weil er zu schnelle Tempi im »Deutschen Requiem« genommen habe. Als er sich deshalb mit einer Anfrage an Brahms wendete, erwiderte ihm dieser, die Metronomisierung, von der er nichts verstehe, sei von Reinthaler ausgeführt worden!

13. März. Reinecke spielt mir in seinem Hotel neue Lieder und Variationen vor. Ich begleite ihn dann zu Brahms, der über den Besuch sehr erfreut scheint. Spaß mit der ebenfalls anwesenden Frau Soldat-Röger, die ich schon zum dritten oder vierten Male bei Brahms treffe. »Nun begleiten Sie Frau Soldat«, sagte Brahms zu mir, »die wartet schon darauf.« Am Abend wollte er die Premiere der Straußschen Operette »Die Göttin der Vernunft« besuchen.39 Heuberger holt ihn mit Wagen zu Fabers ab. Beim Weggehen begegnet uns Musikdirektor Gustav Jenner aus Marburg auf der Treppe. Er ist von dem Schrecken über den Anblick seines Lehrers und Freundes so betroffen, daß er kein Wort herausbringt.

[507] 20. März. Mit Julie zu Brahms. Vor der Tür unten begegnen uns Simrock und Mühlfeld, die von Brahms herunterkommen. Simrock ist vorgestern abends eingetroffen und reist schon morgen wieder zurück. Die Tränen rinnen ihm übers Gesicht, wie er von Brahms und der entsetzlichen Veränderung spricht, die seit Oktober, wo er ihm und uns noch im Hotel Impérial ein Diner gegeben hatte, mit dem Kranken vorgegangen ist. Auch Mühlfeld ist ganz niedergedrückt. Oben werden wir vom Dienstmädchen abgewiesen mit dem Bescheid, der Herr sei ausgegangen. Vermutlich hatte ihn das Wiedersehen mit jenen beiden zu sehr angegriffen, so daß er den Befehl gab, niemand vorzulassen. Bei unserer Freundin K. hat er sich für Donnerstag angemeldet; Mittwoch will er bei uns speisen.

21. März. Am Nachmittag war ich von Herrn Karl Wittgenstein zur Generalprobe des Soldat-Röger-Quartetts eingeladen, die in seinem schönen Hause in der Alleegasse auf der Wieden stattfand. Eine ansehnliche Gesellschaft hatte sich versammelt: außer der Familie des Hausherrn auch die seiner nächsten Angehörigen, die Kupelwieser, Oser, Brücke, Frau Marie Wittgenstein, die Schumann-Schülerinnen Klara Wittgenstein und Betty Oser, ferner Erich und Helene v. Hornbostel, Marie Schumann, Josef Labor, Mandyczewski, Jenner und viele andere, lauter musikalische, musikliebende Menschen und Brahms-Verehrer.40 Alles war auf das vom Wiener Tonkünstlerverein prämiierte Esdur-Quartett für Klavier, Klarinette, Violine und Violoncell von Walter Rabl neugierig, das im letzten Kammermusikabende des Soldat-Röger-Quartetts unter Mitwirkung von Marie Baumayer und Richard Mühlfeld zum erstenmal gespielt werden sollte,41 und [508] alles freute sich auf das Brahmssche Klarinettquintett, das die Hausfrau ihren Gästen versprochen hatte. Aber nur die erste Hälfte des Verheißenen ging in Erfüllung. Denn als Brahms kam, bestand er darauf, daß das Damenquartett streng die Probe des bereits festgestellten Programms einhielt, mit dem Bemerken, daß er sich auf Webers Klarinettquintett in B viel mehr freue als auf sein eigenes, oft genug gespieltes und gehörtes. Sein Erscheinen wirkte auf die lebenslustige bunte Gesellschaft wie der Eintritt des steinernen Gastes. Die im Musiksaal versammelten vielen reizenden Mädchen und jungen Frauen stoben wie ein aufgescheuchter Schwarm von Tauben auseinander, als das dunkle, verfallene Gesicht, dem der Stempel des Todes aufgedrückt war, in der Tür erschien. Brahms nahm allein in einer Ecke des Saales Platz, und da niemand sich neben ihn zu setzen wagte, aus Furcht, ihn zu belästigen, machte er den Eindruck eines scheu gemiedenen, grauenvollen Schreckbildes. Ohne viel von der Umgebung Notiz zu nehmen, verfolgte er die Produktion mit erloschenen Augen und verdüsterter Miene, nur ein paar unwillkürliche Bewegungen der Hände verrieten den inneren Anteil, den er daran nahm. Als die Musik vorüber war, ging er mit mir fort. Frau Poldy, die Dame des Hauses, begleitete uns die große Freitreppe hinunter bis zur Einfahrt und befahl dem Diener, einen Wagen zu holen. Brahms lehnte dankend ab: »Es ist ja nur um die Ecke!« und hing sich in meinen Arm. Der seinige war so gut wie fleischlos, und ich fühlte die Knochen durch den Paletot. Jeder Schritt kostete eine neue Anstrengung letzter Kräfte, und er schleppte die Füße, die ihren Dienst verweigerten, nach. Sein Stöhnen ging mir durch Mark und Bein. Dabei gab er sich die größte Mühe, seine Schwäche zu verbergen. Er wollte weder zur Last fallen noch bedauert werden und kämpfte einen ebenso heroischen wie vergeblichen Kampf gegen den siegreichen, tückischen Feind, der seinen Körper zerstörte und auflöste. Einmal nahm [509] er einen Anlauf, sein gepreßtes Dulderherz durch Klagen zu erleichtern. »Das ist der weiteste Weg, den ich seit Neujahr mache«, ächzte er mit schauerlicher Ironie, »darum fällt er mir auch so schwer.« Dann, den Ton ändernd und die Stimme senkend, flüsterte er: »Ich sage Ihnen, es ist jammervoll!« Erschreckt fragte ich, ob ich nicht doch nach einem Wagen laufen sollte. Da entzog er mir, gleichsam gekränkt, seinen Arm und stieß heftig hervor: »Nein, lassen Sie! Es ist schon vorüber.« Er lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer eines Hauses, als wollte er die Karlskirche be trachten, sah sie auch lange an, und, von dem Anblick bewegt und vom Ausruhen gestärkt, wies er mit der Hand hinüber: »Wie schön ist die Kirche, sehen Sie nur! Und dort hinten stand einmal das Haus zum goldenen Mondschein, zum goldenen« – er betonte das Wort besonders, obwohl es, soviel ich weiß, nicht zum »Mondschein« gehört – »wo Schubert zechte und sang. Kennen Sie was Ähnliches in Deutschland wie die Karlskirche mit den beiden Säulen und ihrer grünen Kuppel?« Ich erinnerte ihn an Dresden, den Zwinger, die katholische Kirche und das japanische Palais. »Ach, das ist alles ja recht schön, aber noch lange keine Karlskirche!« – Wir sprachen dann, bei abermaligem Stillstand und Anlehnen an eine Wand, über den dreißigjährigen Krieg und den niemals wieder herzustellenden Schaden, den er der harmonischen Entwickelung der deutschen Kultur zugefügt. Immer wieder blieb er nach zwei Schritten stehen und ruhte sich aus. So brauchten wir über eine Viertelstunde zu dem kurzen Wege, den man sonst in zwei Minuten zurücklegt. An der Ecke der Karlsgasse bot ich ihm noch einmal den Arm an. Er wies mich ab: »Ich komme schon ganz gut allein zu mir hinaus. Sie gehen wohl jetzt geradeaus. Ich muß mich niederlegen. Na, adje!« Sein Abschiedsgruß klang sehr weich und war von einem tiefen Seufzer begleitet. Offenbar hatte er gefürchtet, ich könnte oben bei ihm sitzen bleiben, und schämte sich, mich an der Zimmertür wegzuschicken; er war sterbensmüde. Ich stand noch eine Weile vor seinem Hause still und blickte ihm nach, bis er schwankend entschwunden war.

24. März. R. bringt betrübt einen Absagebrief von Brahms. Er fühle sich so schwach, daß er nicht zu ihnen kommen könne. [510] Auch mir hat er, da er heute bei uns speisen sollte, eine Karte geschickt, auf der mit zitteriger Schrift zu lesen stand: »Mittwoch leider unmöglich Ihrem immer mehr auf den Hund kommenden J.B.«42) Infolgedessen gehen wir gleich nach Tische hin, um Erkundigungen einzuziehen. Da er gerade schläft, führt uns Frau Truxa in ihre Wohnung. Sie erzählt viel von ihm, u.a. daß sie den Weihnachtsbaum seit vielen Jahren immer habe in sein Zimmer stellen müssen, wo Brahms dann ihren Jungen einbescherte. Als sie es am letzten heiligen Abend mit Rücksicht auf seine Krankheit unterlassen habe, sei er gekränkt gewesen. Sie hatte Mühe, ihn mit der Notlüge zu beschwichtigen, der Baum wäre noch gar nicht gekauft. Seit Anfang der Woche verkehre Brahms nur noch mit Faber, Fellinger und Miller, die ihn mit der Equipage abholten und heimbrächten. Er mache sich ein Gewissen daraus, Fellingers, für Geschäftszwecke bestimmten Wagen zu benutzen. Miller habe ihm eingeredet, er fahre sowieso jeden Tag spazieren, und Brahms tue ihm einen Gefallen, wenn er mitkäme. Seine Scheu, jemand zu inkommodieren, sei seit seiner Erkrankung noch gewachsen. Jetzt esse er fast gar nichts mehr und lebe von einem Teller Suppe, den er jeden Abend auslöffle. Austern und Kaviar, die sich mit der Jahreszeit nicht mehr vertrügen, seien seine letzte konsistente Nahrung gewesen.

25. März. Wir hören von Millers, bei denen Brahms heute doch noch mit Mühlfeld und Mandyczewski zu Tische war, daß er sich gar nicht habe trennen können und mehr als einmal gesagt habe: »Ach, lassen Sie mich noch ein bißchen, es ist so schön hier!« Er will morgen wiederkommen.

26. März. Sein gestriges Versprechen hat Brahms nicht gehalten. Es heißt, daß er bettlägerig geworden ist.43

[511] 27. März. Frau Truxa, die bei Brahms in der Tür steht, bestätigt, daß er sich gestern niedergelegt hat. Nicht auf Anraten des Arztes habe er es getan, sondern aus freien Stücken, und dazu gesagt, er wolle sich ein paar Tage ausruhen und Kräfte sammeln. Seine Bettniederlage betrachtet er als eine Art Sühnopfer, das er der Krankheit schuldig ist, und wähnt, er werde sich bald wieder erheben. Ich fürchte, daß er nicht mehr aufstehen wird, und daß ich ihn am Sonntag zum letztenmal gesehen habe. Da es ihn angreift, Besuche zu empfangen und zu sprechen, verzichtete ich darauf, bei ihm einzutreten, und ging mit einem Gruße fort. – Brülls, die ihn eingeladen hatten, erhielten folgende Karte: »Ich stehe der Tage überhaupt nicht auf und bitte mich für morgen zu entschuldigen. Herzlich J. Br.« Diese Zeilen sind das Letzte, was Brahms geschrieben hat.

28. März. Nach dem Männergesangsvereinskonzert spreche ich wieder in der Karlsgasse vor. Es scheint zu Ende zu gehen. Frau Truxa klagt über die Zudringlichkeit und Taktlosigkeit der Leute, die sich mit ihr zanken, weil sie nicht zu dem Patienten hineingelassen werden. Brahms sei meist vollkommen apathisch. Nur vor seiner Pflegerin zeige er sein ganzes Elend, das er, wie ein eigensinniges, ängstliches Kind, sogar vor dem Arzte zu verbergen suche. Mit diesem, wie mit Miller und Faber – Fellinger ist in Berlin – spreche er überlaut, während er sonst nur flüstere, weil ihn jedes Wort, das er spricht oder hört, anstrenge. Nach jedem Besuche liege er wie tot da und lasse sich mit Wein laben. Frau Truxa fürchtet, die schwierige Position, in der sie sich befindet, nicht aufrechthalten zu können. Mit dem Gedanken, neulich von Brahms für immer Abschied genommen zu haben, habe ich mich bereits vertraut gemacht. Ich will ihn nicht mehr sehen, weder im Leben, noch im Tode.

30. März. Julie erkundigt sich bei Frau Truxa. Brahms interessierte sich noch gestern für den Erbschafts- und Meineidsprozeß des Hofrates Z., der ganz Wien beschäftigt, und stritt mit ihr: ein Hofrat werde in Österreich trotz überwiesenen Verbrechens nicht verurteilt werden. Als Z. doch von den Geschworenen verurteilt wurde, und Frau Truxa sagte, diesmal habe sie ausnahmsweise recht, fragte er eifrig: »Was hat er [512] denn bekommen?« – »Ein Jahr.« – »Dafür hätte ich's auch getan!«44 Um 11 Uhr mittags habe er gefragt, wie spät es ist? – »11 Uhr.« – »Mittags oder nachts?« – Er hat eingewilligt, daß eine Wärterin für die Nacht aufgenommen wird, aber erst, als Frau Truxa erklärte, sonst müsse sie bei ihm wachen. Die Medizin aber habe er dann doch nur von ihr gereicht haben wollen.

31. März. Bei Brahms treffe ich mit Heuberger und Hanslick zusammen. Um sich der Leute zu erwehren, die persönlich nachfragen und zum Krankenbette geführt werden wollen, hat Frau Truxa einen Einschreibebogen aufgelegt, der sich mit vielen Unterschriften bedeckt. Eine leichte Besserung.

1. April. Julie hört zu unserer Betrübnis von Frau Truxa, daß neue Schwäche eingetreten ist.

2. April. Auf dem Wege zu Brahms begegnet mir Viktor v. Miller. Seine rührende Entschuldigung, daß er die Pflege des Kranken nicht anderen, nicht uns überlassen habe. Er besitze doch eine Equipage und könne, da er in der Nähe wohnt, das in seiner Küche zubereitete Essen immer selbst noch warm, wie es vom Feuer kommt, in die Karlsgasse hinüberbringen. Dr. Breuer, der von niemand nach dem Stande der Krankheit befragt werden will, erkennt in den häufig eintretenden Blutungen aus Darm und Magen das bedenklichste Symptom. Käme eine solche Blutung wieder, so wäre es aus. Oben treffen wir Fabers im Zimmer der Frau Truxa. Die Katastrophe scheint sich vorzubereiten. Faber sagt, daß Brahms gar keine Verwandte mehr besitzt. Nur die Stiefmutter mit einem Sohne aus früherer Ehe leben in Holstein. Am Abend bringen Julie und Frau Marie Brüll schlechte Nachrichten. Es haben sich Fieberdelirien eingestellt, und Brahms muß mit Gewalt im Bette zurückgehalten werden.45

3. April. Um 91/2 Uhr bringen uns Brülls die Trauerbotschaft: [513] Brahms ist vor einer Stunde gestorben. Frau Marie traf gerade dort ein, als Frau Truxa weinend aus dem Sterbezimmer trat. Die letzte Nacht waren der junge Dr. Breuer und Frau Truxa bei ihm. Er schlief sehr unruhig, aber die Delirien hatten nachgelassen, und er ging schmerz- und ahnungslos hinüber.

Über die Nacht vom 2. zum 3. April schreibt HerrDr. Robert Breuer aus Unterach vom 19. Juli 1912:

»Seit ich denken kann, hatte ich eine unbegrenzte Verehrung für den Musiker Brahms. Und gerade in seiner letzten Lebenszeit hatte ich mich in seine Musik, vor allem in seine Kammermusik, so hineingefühlt, daß sie mir – von Beethoven abgesehen – über alles ging.46 Ich war denn auch tief unglücklich, als ich erfuhr, daß Brahms offenbar schwer krank sei. Als mein Vater seine Behandlung übernommen hatte, und es bald klar wurde, daß es unaufhaltsam dem Ende zugehe, sagte ich einmal meinem Vater: Ich wäre sehr glücklich, wenn ich Brahms irgendeinen kleinen Dienst leisten könnte. Wenn's ihm einmal schlecht geht, und wenn Du mich irgendwie bei ihm brauchen kannst, dann, bitte, sag' mir's.

Am 2. April fragte mich mein Vater, ob ich die Nacht über bei Brahms bleiben wolle. Er habe eine schwere Darmblutung gehabt, blute noch und werde wohl nicht mehr lange aushalten können. Es sei recht wahrscheinlich, daß er während der Nacht ärztlichen Beistand brauchen werde.

Abends um 1/210 Uhr gingen wir zu Brahms. Ich war im Laufe der Jahre ziemlich oft in den Häusern Billroths und Chrobaks mit ihm beisammen gewesen, hatte mich aber immer ängstlich ferne von ihm gehalten, und er kannte mich nicht. So stellte mich mein Vater ihm vor und sagte, ich wolle bei ihm bleiben, wenn er es erlaube. Brahms war sehr freundlich und dankte uns beiden. Auf meines Vaters Frage, ob er Schmerzen habe, antwortete er nein, er fühle sich nur sehr matt. Er schlummerte auch bald ein, und mein Vater ging.

Brahms sah furchtbar abgemagert aus, seine Hautfarbe [514] war womöglich noch dunkler geworden, seit ich ihn, einige Wochen vorher, zum letzten Male in der Direktionsloge des Musikvereinssaales gesehen hatte. Er fieberte leicht, der Puls war sehr beschleunigt und sehr schwach.

Ich zog mich in das Arbeitszimmer zurück, wo mir Frau Truxa auf dem Sofa ein Lager improvisiert hatte, und sah mich, ehe ich mich hinlegte, um. Ich besah mir die Bilder an den Wänden, das Doppelporträt von Robert und Klara Schumann, das Bildnis Cherubinis, auf dem Brahms die affektierte Muse mit braunem Karton verdeckt hatte, und die andern. Auf dem Klavierpult lag aufgeschlagen eine Motette von Bach in der großen Bach-Ausgabe. Die aufgeschlagenen Seiten waren, wie viele andere, am Rande mit Notizen von Brahms' Hand versehen. – Gegen 1/211 Uhr legte ich mich auf mein Bett.

Gegen Mitternacht meldete mir Frau Truxa, Brahms sei erwacht und scheine ihr unruhig. Ich ging zu ihm und fragte, ob er Schmerzen habe. Ja, antwortete er, er fühle eine schmerzhafte Spannung im Leibe. Ob es ihm recht sei, wenn ich ihm eine Injektion mache? ›Ja‹, sagte er, ›bitte, tun Sie's, wenn Sie es für gut halten.‹ – Ich machte ihm eine Morphiuminjektion, er dankte und schlummerte wieder ein.

Gegen 4 Uhr wurde der Kranke wieder unruhig. Ich fragte ihn, ob er vielleicht Durst habe. Er bejahte, und ich goß ihm ein Glas Rheinwein ein. Da setzte er sich mit ganz geringer Unterstützung fast vollständig auf, faßte das Glas mit beiden Händen und trank es in ein paar langsamen Zügen aus. Dann sagte er, tief aufatmend und mit einem Ausdruck aufrichtigen Behagens: ›Ach, das schmeckt schön!‹ Das waren die letzten Worte, die ich ihn sprechen hörte. Er schlummerte bald wieder ein, und auch ich legte mich wieder nieder. Als ich gegen 1/27 Uhr geweckt wurde (ich hatte darum gebeten, denn ich war damals Unterassistent an der Klinik und mußte früh wieder im Spital sein) lag Brahms in tiefer, schlafähnlicher Bewußtlosigkeit. Der Puls war nahezu unfühlbar geworden. – Ich habe Brahms nicht mehr lebend gesehen: um 1/48 Uhr mußte ich gehen. Er soll nachher noch einmal erwacht sein und gesprochen und geklagt haben. Ich weiß darüber nichts zu sagen.

[515] Die Nadel, mit der ich Brahms die Injektion gemacht habe, liegt in meinem Schreibtisch aufbewahrt. Das Andenken an seine rührende, gütige Dankbarkeit gegen mich während dieser Nacht werde ich nie verlieren, und die Klangfarbe seiner vorletzten Worte werden mir immer im Gedächtnis bleiben.«

Dem anschaulichen Berichte des Herrn Dr. Robert Breuer möge das gewichtige ärztliche Gutachten seines Vaters folgen. Herr Dr. Josef Breuer schreibt:

»Ich hatte die Ehre, Brahms in den letzten Monaten seines Lebens ärztlich zu behandeln. Als ich ihn das erstemal untersuchte – wenn ich nicht irre, am 1. Februar 1897 – konnte die vollständige Hoffnungs- und Trostlosigkeit der Sachlage keinen Augenblick zweifelhaft bleiben. Es war weit vorgeschrittener Leber krebs. Dabei hat der Arzt kaum die Möglichkeit, für das körperliche Befinden des Patienten und den Verlauf der Krankheit irgend Wesentliches zu leisten, wenn man von Linderung, manchmal auch Behebung einzelner Beschwerden absieht. Die Aufgabe des Arztes ist in der Hauptsache eine psychische.

Brahms – wie die meisten Schwerkranken – war in tiefster Seele ganz klar über die Sachlage; aber er wollte, sobald es nur immer möglich war, über diese Klarheit einen Schleier breiten, nicht immer sehen, was er wußte, und was ihn verhindert hätte, auch in erträglichen Zeiten aufzuatmen, wenn es immer klar vor seinem Bewußtsein gestanden wäre.

Dieses Streben zu unterstützen, die halbbewußte Selbsttäuschung zu vertiefen, oft erst zu ermöglichen, das ist in solch traurigem Fall die Leistung, die dem Arzte einzig möglich ist. Ich glaube nicht, daß man recht täte, sie geringzuschätzen.

Bei Brahms war diese Aufgabe zunächst erleichtert durch die große Reserve, die er anfangs beobachtete. Wahrscheinlich in dem Furcht, allzuviel beachtet zu werden, bestimmte er selbst den Tag des nächsten Besuches, in relativ langem Intervall. Dadurch war die größte Schwierigkeit vermindert, die darin besteht, daß all die psychischen Mittelchen des Trösters sich in der häufigen Wiederholung abnützen, und die Behauptungen und Versicherungen, täglich vorgebracht und täglich von den Tatsachen widerlegt, allmählich absurd werden. Es ging eine Weile erträglich.

[516] Als der rapid vorschreitende Krankheitsverlauf in immer intensiverer Gelbsucht, Nahrungsekel, Wassersucht immer schwerere Leiden brachte, wurde die Behandlung intensiver, realer, aber auch in Linderung der Beschwerden effektiver.

Am 2. April trat die erste in einer Reihe von rasch aufeinander folgenden Magen- und Darmblutungen ein, die am nächsten Morgen den Tod herbeiführten, zugleich das Leben und das Leiden des großen Künstlers früher beendeten, als es sonst durch den unerbittlichen Verlauf dieser Krankheit geschehen wäre. Ich konnte diese Abkürzung des Jammers nicht beklagen.«

Bei einem Besuche, den wir mit Brülls am 5 April im Trauerhause machten, ergänzte Frau Truxa den Bericht des Herrn Dr. Robert Breuer dahin, daß Brahms für die Handreichungen, die der Arzt und sie ihm geleistet, nur immer »Danke, danke« gesagt habe, und »Danke, danke« seien auch seine letzten Worte gewesen. Als sie früh gegen 1/29 Uhr an sein Bett trat und ihn scheinbar schlafend daliegen sah, habe sie ein so tiefer Jammer mit dem Kranken überkommen, daß sie laut aufschluchzen mußte. Da habe Brahms die Augen geöffnet, sie eine Weile stumm und traurig angesehen, mit einem unvergeßlichen Blick, während ihm Tränen über die Wangen liefen, habe dann noch einmal tief Atem geholt und sei tot zurückgesunken.47

Eugen von Miller junior machte, ehe der Leichnam in den Sarg gelegt wurde, am Nachmittag des 3. April eine photographische Aufnahme (siehe die Beilage), welche das edle Profil des Meisters in seiner Schönheit deutlicher als irgendein nach dem Leben abgenommenes Bild hervortreten und neben dem tiefen Ernst auch den tiefen Frieden des Todes wohltuend erkennen läßt. Ludwig Michalek entwarf eine gerötelte Bleistiftskizze, Karl Kundmann [517] formte die Gipsmaske des Toten. Da der Körper sehr rasch in Verwesung überging, wurde der Sarg schon am 4. April geschlossen und verlötet.

Die »Gesellschaft der Musikfreunde« versandte folgenden Partezettel: »Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien gibt hiermit die tiefbetrübende Nachricht von dem am 3. April 1897, vor mittags 9 Uhr, erfolgten Hinscheiden ihres


Ehren- und Direktionsmitgliedes

Herrn

Dr. Johannes Brahms.


Das Leichenbegängnis findet am Dienstag den 6. April d.J. um 1/23 Uhr nachmittags vom Trauerhause: IV Karlsgasse Nr. 4, aus statt.

Die Einsegnung erfolgt um 3 Uhr in der evangelischen Kirche A. B. (I Dorotheengasse 18). Über die Beerdigung erfolgt demnächst weitere Mitteilung.

Wien, am 4. April 1897.«

Mit den Kosten für das Begräbnis hatte die Gesellschaft auch die Sorgen für alle Äußerlichkeiten der Feier übernommen und diese Last, wie es ja kaum anders sein konnte, auf eine bewährte Entreprise des pompes funèbres abgewälzt. Dadurch erhielt das Ganze einen zwar pompösen, aber steifen offiziellen Charakter. Selbstverständlich setzte der dirigierende Oberstzeremonienmeister des Todes seinen Stolz darein, daß nichts fehlte, was die Etikette eines so ungewöhnlichen Leichenbegängnisses erster Klasse verlangt. Dank dem Eifer der Unternehmung verwandelte sich das einfache freundliche Schlafzimmer, in welchem Brahms unter dem Bildnisse seines heiligen Sebastian (Bach) entschlummert war, sofort in ein düsteres Prunkgemach Decke und Wände wurden mit schwarzem Tuch ausgeschlagen, der glänzende Metallsarg unter einen Baldachin gestellt und mit dicken brennenden Wachskerzen umgeben, die in schweren silbernen Kandelabern steckten. Auf einem Samtkissen prangte die goldene Ehrenbürgerkrone, von einem andern blinkten die Ordenssterne des Verewigten, auf einem dritten ruhte eine goldene Leier. Brahms würde gelacht haben, wenn er die mit Federhüten, Mänteln und Degen [518] einherschreitenden Hidalgos gesehen hätte, die ihn die ausgetretene Stiege auf die Straße hinuntertrugen, wo der gläserne Galawagen mit einem Vorspann von sechs panaschierten Rappen seiner wartete. Die Kränze der Stadt Hamburg und der Stadt Wien bedeckten den Sarg.

Am 6. April nachmittags 1/23 Uhr setzte sich der Trauerzug in Bewegung. Voran ritt ein Standartenträger in altspanischer Tracht, der sein mit Lorbeer umflochtenes Banner emporhielt. Ihm folgten Laternenreiter, welche sechs unter der Last unzähliger Kränze, Palmenzweige und Sträuße schwankende Blumenwagen geleiteten. Hinter dem mit einer Lyra gekrönten Leichenwagen schritten drei Hausoffiziere der Entreprise mit den obenerwähnten roten Samtpolstern. Zu beiden Seiten des Sarges gingen Diener der Gesellschaft der Musikfreunde und Diener der »Concordia« mit Windlichtern und Initial-Wappenschildern.

Dem Sarge schlossen sich die Trauergäste an, zunächst das Direktorium der Gesellschaft mit dem Präsidenten Generalintendanten Freiherrn von Bezecny, den Vizepräsidenten Dr. v. Billing und Hofrat Koch von Langentreu, nebst Geheimrat Nikolaus Dumba. Erschienen waren sämtliche Professoren des Konservatoriums, viele Mitglieder des Singvereins und der Wiener Singakademie, das Böhmische und das Wiener Damen-Streichquartett, das Quartett Winkler, der Vorstand und Ausschuß des Wiener Journalisten- und Schriftstellervereins »Concordia« Ferdinand Groß und Edgar von Spiegl, die Vorstände des Wiener Männergesangvereins, des Niederösterreichischen Sängerbundes, des Schubertbundes, des Tonkünstlervereins, des Wiener Evangelischen, Akademischen und Slawischen Gesangvereins. Von außen kamen hinzu Deputationen des Hamburger Senats, der Berliner Philharmoniker mit Felix Weingartner, der Berliner Akademie der Künste, der Hochschule für Musik, der Amsterdamer Musikgesellschaft, des Budapester Konservatoriums, der Ungarischen Kunstakademie, des Baseler Gesangvereins, der Philharmonischen Gesellschaften in Laibach und Budapest, des Leipziger Gewandhauses und der »Pauliner«, des Karlsbader Kurochesters, der Züricher Musikgesellschaft. In Vertretung der Familie des Herzogs von Meiningen nahmen Richard Mühlfeld und Bram-Eldering an der Feier teil Herzog Georg und [519] Freifrau v. Heldburg hatten einen Kranz von kolossalen Dimensionen geschickt. Unter den Leidtragenden befanden sich ferner in eigener oder fremder Mission Marie Schumann, Lillian und Georg Henschel, Adele Strauß, Rosa Paumgartner-Papier, Edith Walker, Aglaja Orgeni, Professor v. Schrötter, Josef Lewinsky, Emerich Bukowies, Franz Jauner, Ludwig Bösendorfer, Josef Bayer, J.P. Gotthardt, Hermann Grädener, Dr. Fellinger, Karl und Louis Wittgenstein, Adolf Kirchl, Hans Kößler, Anton Rückauf, Theodor Helm, Gustav Schönaich, Robert Hirschfeld, Josef Hellmesberger, Eduard Strauß, Heinrich Barth, J.N. Fuchs, Richard v. Perger, Wilhelm Gericke, Viktor v. Miller, Artur Faber, Emil v. Franz, Anton Sistermans, Josef Ritter, Heinrich v. Herzogenberg, Anton Dvořák, Fritz Simrock, Artur Nikisch, Ferruccio Busoni, Emil Sauer, Iwan Knorr, die Professoren Uzielli, Engesser, S. Bachrich, J.M. Grün, Anton Door, Julius und Richard Epstein, Robert Fuchs, Eusebius Mandyczewski, Richard Heuberger, Eduard Schütt, Hermann Wolff u.a.m.48

Der lange Zug, den die Zöglinge des Konservatoriums abschlossen, nahm seinen Weg von der Karlsgasse, durch die Technikerstraße über die Schwarzenbergbrücke zum gegenüberliegenden Ufer der Wien und hielt vor dem Musikvereinsgebäude. Ein viel tausendköpfiges Publikum bildete Spalier; zeitweilig schien die Passage vollständig gehemmt. Das Haus war mit Traueremblemen geschmückt. Vom Giebel wehte eine riesige schwarze Fahne. Schwarzes Tuch mit mäandrischer Silberbordüre verkleidete alle Türen hoch hinan, nur das mittlere Eingangstor blieb frei. Darüber erhob sich ein zeltartiger, schwarzverhängter Vorbau; auch die stützenden Säulen waren dicht umflort. In den Laternen brannte das Gas, und eine Bogenlampe ergoß ihr mildes Licht auf die Rednerbühne, vor welcher der Leichenwagen stillstand. Hinter den Opferflammen der Außentreppe unter dem Baldachin hatten sich die Herren und Damen des Singvereins versammelt; dort faßten auch das Direktorium der Gesellschaft und eine Abordnung der benachbarten [520] Genossenschaft der bildenden Künstler Posto. Dr. v. Billing und Johann Nepomuk Fuchs hielten Ansprachen und legten im Namen der Gesellschaft der Musikfreunde, des Professorenkollegiums und der Schüler des Konservatoriums drei Kränze zu Füßen des Toten nieder. Dann erklang wieder das Chorlied »Jahr wohl!« mit welchem Brahms am 17. Januar im Gesellschaftskonzert begrüßt worden war, ohne zu wissen, daß es ein Abschiedsgruß für ewig sein würde, und ein Schauer tiefster Ergriffenheit zog mit den rührenden Tönen über den weiten stillen Platz. Die Kunst hatte das beengende Zeremoniell siegreich durchbrochen. Nun erst fühlten alle Teilnehmer der Feier, was sie miteinander verband, und nichts mehr vermochte sie dieser wehmütig beglückenden Empfindung zu berauben.

Weiter zogen wir über den Kärntnerring an der Oper vorüber, durch die Tegetthoffstraße und Plankengasse in die protestantische Kirche der Dorotheengasse. Hier hatten sich das offizielle Wien, die Vertreter der städtischen Ämter und kaiserlichen Behörden eingefunden, Sektionschefs, Räte, Herrenhausmitglieder, Magistrat und Burgermeister: Graf Latour, Landmarschall Freiherr v. Gudenus, Sektionschef Janockowich, Freiherr v. Weckbecker, Graf Pejacsevich, Ludwig Lobmeyr, Dr. Karl Lueger und Dr. Neumayer, daneben auch Gelehrte und Künstler, Karl Kundmann, Wilhelm Jahn, Karl Goldmark, Karl Glossy. Der Kirchenchor sang den Choral »Jesus, meine Zuversicht«, den niemand kannte, und in den niemand einstimmte, weil alles katholisch war;49 der Wiener Männergesangverein unter Eduard Kremsers Leitung »Der du von dem Himmel bist«. [521] Zwischen den Liedern widmete Pfarrer Dr. v. Zimmermann dem Toten den warmen, von jedem dogmatischen Beigeschmack freien Nachruf:

»Ein Hoherpriester im Heiligtum des wahrhaft Schönen ist in das Allerheiligste der Verklärung eingegangen, ein gewaltiger Herrscher im Königreiche der Töne hat sein Zepter niedergelegt, eine Seele voll wunderbarer Melodien hat ihren letzten Seufzer ausgehaucht, und ein edler Mensch hat sein Erdenwallen vollendet! Es hat große Künstler gegeben, die kleine Menschen waren, wie es immer große, edle Menschen gibt, die klein sind im Können. Hier war das Schönste. In Brahms waren beide groß und edel, der Mensch und der Künstler! Harmonie war alles in diesem Leben!

Lange blieb er seinem Vaterlande ein Fremdling. Die Lorbeeren und Palmen, die ihm schon 1853 feierlich und öffentlich in Aussicht gestellt wurden, wuchsen langsam, wie das nun einmal der Palmen Natur zu sein pflegt. Und der jugendliche Meister trug wohl selbst daran schuld. Denn nie war sein Streben dahin gerichtet, durch schimmernde und schillernde Tontändeleien, durch leicht sich einschmeichelnde Weisen rasch welkende Kränze der Volksgunst zu pflücken – wer Palmen will, muß warten können; zuletzt siegt ja doch das Hohe und wahrhaft Schöne, und er wartete und schuf wartend. Aber als nun das Deutsche Requiem seinen Siegeszug durch die deutschen Lande hielt, da grüßte alles, was ein Ohr hatte, zu hören, und ein Herz, zu empfinden, den hohen Meister mit Erfurcht, der uns zum Träger solch hoher Offenbarung geworden.

Als vor wenigen Wochen sein edles Haupt zum letztenmal an der Stätte seiner Triumphe sichtbar ward, und die Begeisterung einer dankbaren Menge den schon vom Tode Gezeichneten jubelnd umrauschte, da mochte es ihm wohl zu Gemüte sein, als ziehe er in einen Lorbeerhain des Friedens und der reinen Ruhe ein. Nicht als hätte er je nach Ruhm und Beifall gegeizt, wohl aber erfüllte [522] ihn des Mannes höchster, edelster Stolz: sich verstanden zu sehen von Verständigen. Wir dürfen ihn glücklich preisen ob dieses Abschiedes.

Neben seiner Kunst gab es ein Dreifaches, das sein edles Herz mit starker Liebe umfaßte. Da war zuerst seine deutsche Lutherbibel, aus deren unerschöpflichem Born er als echter Protestant so gern Leben und Kunst getrunken. Das andere, das er liebte. war das Kind und der kindliche Sinn: Kindern, armen oder reichen, eine Freude zu bereiten, war ihm selbst die reinste Freude. Und das dritte, wofür sein Herz schlug, das war die Armut; wo er verborgen Duldenden, mühselig Ringenden, Darbenden, Hilflosen emporhelfen konnte, da wurde der Mann, der für sich sparsam bis an die Grenze des Geizes war, zum barmherzigen Samariter, der Wunden heilte und verband, zum opferfreudigen Wohltäter bis an die Grenzen der Verschwendung. Und seltsam – wie ein Rätsel will es uns dünken: Er, der geschaffen war, zu lieben und geliebt zu werden, ging allein, ohne Weib und Kind seinen Lebensweg.

Doch ist er nicht leer ausgegangen! Ein reicher, voller Blütenkranz der Freundschaft und der Fürsorge schmückt zum Ersatze seine Tage bis zum letzten, schwersten, und jedem unter euch, ihr trauernden Freunde, war es Gewinn, diesen Genius zu bewirten, denn er ließ die Gaben seines ernstfrohen Sinnes euch als schönstes Gastgeschenk zurück.

Und nun wird er nicht mehr über eure Schwelle schreiten! – Sein Scheidegruß ist zum Geistesgruß geworden: ›Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle!‹ Mit diesen Worten hat der verklärte Meister in seinem letzten der ›Ernsten Gesänge‹ von seiner großen Gemeinde Abschied genommen. Und fürwahr: er hat zu uns geredet mit Menschen- und mit Engelzungen, und sein Sang war kein tönendes Erz, seine Musik keine klingende Schelle, sondern herzerhebendes, seelenvolles Tönen, wie Klänge aus einer höheren Welt, denn er hatte der Liebe ein reiches und ein volles Maß.

Meister Johannes Brahms ist nicht gestorben, sein Geist hat den Tod überwunden und ist aufgefahren in die lichte selige Welt reiner Harmonie des Friedens.«

[523] Schubert-Goethes Nachtlied erklang, und seine Melodie bekräftigte die Aussage des künstlerisch empfindenden Geistlichen ...

Nach der Kunst trat die Natur in ihr Recht. Als wir um halb sechs Uhr auf dem Zentralfriedhof anlangten, hatte sich der kalte Nordwest, der den Tag über wehte, gelegt, und die sich zum Untergange neigende Sonne durchbrach noch einmal strahlend und erwärmend das düstere Gewölk. Der Duft der ersten Veilchen würzte die milde Luft, und die Finken schlugen in den knospenden Bäumen. Im Rondel der Unsterblichen entfaltete sich der letzte und ergreifendste Teil der Feier. Simrock, Fellinger, v. Miller, Rob. Fuchs, Mandyczewski, v. Perger, Brüll, Door, Heuberger, Georg Henschel und Kalbeck geleiteten den Sarg mit Fackeln bis zum Ehrengrabe. Beim Beschreiten des geweihten Kreises mußte ich unserer Pilgerfahrt zu Billroth denken, dessen Damen mit Marie Schumann der Beerdigung beiwohnten, und wie nun der heimliche, halbausgesprochene Wunsch des Freundes, in der Nähe von Beethoven und Schubert zu ruhen, in Erfüllung gegangen war.

Am offenen Grabe erhob Perger seine von Schmerz erbebende Stimme: »Ein lang gefürchteter, erschütternder Augenblick ist für uns gekommen. Wir müssen uns trennen von dem, was an dem großen, geliebten Meister Johannes Brahms sterblich war. Dieser geheiligte Platz, dieses grünende Mausoleum deutscher Tonkunst, es wird nun auch die irdischen Reste unseres erhabenen Zeitgenossen aufnehmen in seinen stillen, kühlen Grund. Dem Verein der Wiener Tonkünstler, dessen Begründer und geistiger Führer der Verewigte gewesen, wird die Ehre zuteil, an dieser Stelle die letzten Abschiedsgrüße zu bringen, sowohl im Namen aller heimischen Kollegen, als auch in dem der Musiker des gesamten Auslandes, deren Vertreter hier anwesend sind.

Er, der die ganze Welt so reich beschenkt und beglückt hat, was ist er zunächst uns Musikern gewesen! In dem Lichte, welches sein schöpferisches Genie, sein durchdringender Kunstverstand ausstrahlt, konnten wir so recht emporschauen zu seiner unvergleichlichen Meisterschaft, zu seiner hohen, unbeugsamen künstlerischen Gesinnung. Durch zahllose Wege und Irrwege, welche heute das Reich der Tonkunst durchkreuzen, leitete uns die Fackel, welche ihr erster Priester hoch und fest in Händen hielt. Würdige geistige [524] Brüder fand er freilich erst heute an dieser Ruhestätte, in dieser Nachbarschaft; aber seinen mitlebenden Berufsgenossen war er trotz des großen Abstandes, der ihn über sie erhob, stets der einfache teilnehmende Freund und Berater, ein Förderer aufstrebender Talente, ein sicherer und treuer Helfer in Not und Bedrängnis.

Kollegen! Unsere Pflicht ist es, das heilige Vermächtnis des Meisters treu zu bewahren. Geloben wir uns in dieser Stunde und an dieser Stelle, fest zusammenzuhalten und in seinem Sinne zu wirken, wie zu streiten. Seine Werke, schon jetzt Eigentum der kunstliebenden Menschheit, sollen durch unsere Arbeit immer mehr zu Ohren und Herzen dringen.

Nun aber zum Abschied! Es muß ja sein! Erfüllt ist, was du, Gottbegnadeter, in jenem schönen Liede gesungen: Hier ruhst du in dieser großen ernsten Feldeinsamkeit; die Lichtwolken ziehen über dir hinweg, und dein Unsterbliches zieht selig mit ihnen dahin durch ewige Räume.«

In diesem Augenblick war es, als sollte sich der Himmel über uns auftun und ein Engel herniederschweben, um die Seele des Entschlafenen heimzuführen nach ihrem Sterne.

Nicht nur in Wien, sondern auch in vielen anderen Städten des In- und Auslandes, selbst in solchen, die niemals in direkte Berührung mit Brahms gekommen waren, wurde sein Tod wie ein persönlicher Verlust beklagt, und in der Vaterstadt Hamburg befahl der Senat, die Flaggen der im Hafen vor Anker liegenden Schiffe auf Halbmast zu hissen. Der von Konzertgesellschaften und Musikervereinigungen veranstalteten Trauer- und Gedächtnisfeierlichkeiten nebst Nekrologen, Gedenkreden und Denkschriften war eine Legion, so daß man ohne allzu starke Übertreibung sagen kann, in deutschen Landen sei im April 1897 der österlichen eine zweite (musikalische) Karwoche vorangegangen.

Einige der nächsten Freunde des Verewigten, die, in der Ferne zurückgehalten, nicht zur Beerdigung kommen konnten, drückten durch besondere Kundgebungen ihre Teilnahme aus. Zu ihnen gehörten Joachim, Engelmann, Wüllner, Widmann und Stockhausen. Max Klinger, der am Begräbnistage eigenhändig einen sinnig geflochtenen Kranz auf der Gruft des Freundes niederlegen wollte, [525] war durch ein ärgerliches Mißverständnis seiner Wiener Hotelbediensteten an der Ausführung seines liebevoll ausgedachten Vorhabens verhindert worden und, ohne jemand von seiner Anwesenheit zu benachrichtigen, in schmerzlich-zorniger Enttäuschung sofort wieder nach Leipzig zurückgereist. Der siebzigjährige Stockhausen telegraphierte dem Verfasser aus Frankfurt: »Wie gern hätte ich Ihnen heute am Grabe des unsterblichen Freundes die Hand gedrückt! Gehe in Gedanken den letzten Weg mit Ihnen allen.« Josef Viktor Widmann aber ergoß seine trauernde Seele in einen an mich gerichteten Brief, der mit den Worten schließt:

»Im ganzen aber begreife ich nun besser als je zuvor die Freudigkeit, mit der treue Mannen eines großen Helden sich an der Bahre den Tod gaben, um den geliebten Herrscher ins Schattenreich zu geleiten. Wenn wir noch den Glauben hätten, den jene besaßen, daß man in Walhall sich wie einst im Leben zusammenfinde zu frohem Gelage, so wäre es nicht schwer, ihrem Beispiel zu folgen.


Praeeunte imperatore quid decebit militem?


Und auch Konrad Ferdinand Meyers Gedicht liegt mir im Ohre:


›Wir Toten, wir Toten sind größere Heere

Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!‹


Die dunkle Pforte, durch die wir alle müssen, wie ist sie neuerdings geweiht durch einen solchen, der den Größten der Vorzeit gleicht, und den wir lebendig in unserer Mitte hatten und als Freund lieben durften!«

Ja, der nun auch schon durch die dunkle Pforte seinem und unserem Helden nachgegangene Freund hat recht.

Davon möchten die Blätter dieses Buches auf jeder Seite Zeugnis gegeben haben »zu ewigem Gedächtnis«.

Der von Widmann gerühmten Vasallentreue wäre gewiß niemand würdiger gewesen als Johannes Brahms, der treueste aller Treuen. Treue war der Grundzug seines ganzen Wesens, seines idealen Mannescharakters, seines Wirkens und Schaffens. Treu gegen Vaterland und Heimat, Volk und Stamm, Eltern und Geschwister, Freunde und Genossen, blieb er auch sich selbst getreu und seiner heiligen Kunst, in der er lebte, webte und war. [526] Von Jugend auf bis ins hohe Alter gewohnt, in ihr ein unantastbares, von großen Ahnen ererbtes Vermächtnis zu erblicken und zu hüten, das den Empfänger fördert, indem es ihn verpflichtet, fühlte er sich in der Bescheidenheit seines frommen Herzens nur zu ihrem Verwalter berufen und wurde eben dadurch ihr Erneuerer und Mehrer. Die erhabenen Vorbilder aber, zu denen er hinaufsah wie zu Göttern, welche die Welt seiner Erlebnisse und Träume, seiner Gedanken und Empfindungen regierten, neigten sich gnädig zu ihm und zogen ihn mit Liebesarmen empor zu den Sitzen der Weisheit und Schönheit als ihren ebenbürtigen Gefährten.

Fußnoten

1 IV 391f.


2 Jedenfalls hatte er sich mein Argument, das ihm einleuchtete, sofort angeeignet, da er am 8. Mai in dem oben zitierten Brief an Simrock den Konditionalsatz »daß die Polizei sie verbieten könnte« ergänzte: »wenn die Worte nicht alle in der Bibel ständen«.


3 Litzmann a.a.O. S. 609.


4 Die Anstalten waren schon getroffen, die Verse 1–12 des neunten Kapitels zur Komposition bereits abgeteilt. Die Verse 3, 5, 6, 8 und 9 sollten ausgelassen werden.


5 III 284ff.


6 Vgl. III 132 und 138.


7 Briefwechsel II 261.


8 Vgl. III 480.


9 II. Korinther 12, V. 2–4.


10 Man kann die Verdunklung auf der zweiten Momentaufnahme vom 15. Juni (S. 22 der Fellingerschen »Brahms-Bilder«) wahrnehmen.


11 Wahrscheinlich hat Dr. Hertzka die in dem Brief an Sistermans erwähnte Trinkkur verschrieben.


12 Ophüls, der damals seine Sammlung der »Brahms-Texte« in Angriff nahm, fahndete nach biographischen und literarischen Daten über »C.O. Sternau«, von dem der Liedertext zu dem Soloquartett »An die Heimat« op. 64 Nr. 1, sowie das Motto zum Andante der f-moll-Sonate op. 5 herrührt, und wandte sich an Brahms. Dieser verwechselte den verschollenen Dichter von »Mein Orient« mit dem Grafen Ernst zu Bentzel-Sternau, dem Verfasser des »Goldenen Kalbes«. Vgl. I 121 Anm. – Der letzte Satz des Briefes spielt auf eine meiner Humoresken (»In der Krankheit«) an.


13 Diese und einige andere Mitteilungen über »Brahms in Karlsbad« sind einem so betitelten Artikel Karpaths entnommen, der am 17. August 1897 im »Neuen Wiener Tagblatt« erschien.


14 D.h. für ihn zu kochen, falls er auch im Winter noch leichterer Kost bedürfte und nicht ins Speisehaus zum »Roten Igel« gehen könnte.


15 Die oben genannten Planeten Seling und Janetschek. Er wollte lieber allein gehen, die Pfade des Wanderers seiner »Rhapsodie«.


16 L. Karpath a.a.O.


17 Siehe I 264.


18 Vgl. IV 134.


19 Das nachgelassene Werk erschien im Jahre 1902 bei Simrock als œuvre posthume unter dem Titel: »Op. 122. Elf Choralvorspiele für die Orgel« in zwei Heften und gleichzeitig in einer von Mandyczewski besorgten Ausgabe zu vier Händen.


20 Alois Janetschek war es auch, der den ersten Anstoß dazu gab, daß das Haus »Brüssel« in »Brahms« umgetauft wurde, und daß es eine Marmortafel mit Medaillonporträt erhielt, die am 10. Juli 1898 feierlich enthüllt wurde, in Gegenwart des Bürgermeisters R. Becker, des Stadtrats, der Kurkapelle, des Musikvereins, des Männergesangvereins und der Herren Nikolaus Dumba, Dr. Fellinger, Labitzky, Horowitz und Janetschek.


21 Vgl. das Gespräch über Tonarten III 442f.


22 Auf einer von Brahms hinterlassenen Schreibtafel befinden sich folgende Notizen, die einen Überblick über die ihm von den Ärzten verordneten Kuren gestatten:


Dr. Fröschl Ischl Wien 26

Kaiserbad 21. Oktbr.7

23.8

26.9

30.10

2. Novbr.11

4.12

6.13

8. 10. 13.14–16

16. 18. 20.17–19

23 25. 27.20–22

1. Dcbr. 3.24 Bäder elektr. 10. KapitelHalt.

4. Dcbr. Karlsbader (Brunnen trinken)

14. Dcbr. 25. Bad

23. Dcbr. 26. Bad Dr. Tilg 4. J. 10. Kapitelbis Ende

Januar bezahlt 120 fl.

14. Jan. Priesnitz

I 1. Febr. 11 Uhr Dr. Breuer

II 8. Febr. 11 Uhr Dr. Breuer (Jod)

III. Febr. 11 Uhr Dr. Breuer

IV 15. u.s.w. am 17. 22. 25. 27.

IX. 1. März 5. 7. 10. 13. 16. 18. 21. 24.

(Achtzehn Jodbäder)


23 Siehe oben S. 481.


24 Vgl. II, 237 Anm.


25 A. Steiner im Neujahrsblatt der »Allgemeinen Musik-Gesellschaft in Zürich« von 1898, S. 33. Dort teilt der Verfasser auch vier andere an Baechtold gerichtete Briefe mit und vermißt in der ersten Hälfte des vorletzten, dem oben zitierten vorangehenden, einen Kommentar. Steiner meint, er glaubt sich zu erinnern, daß Baechtold selbst nicht recht daraus klug wurde. Er hatte ihm den zweiten Band der Keller-Biographie geschickt, und Brahms erwiderte darauf, indem er ihm die »Volkslieder« als Gegengeschenk avisierte: »Aber wenn er sich nicht weiter auszusprechen Mühe gibt, werden Sie den leisen Dank anerkennen? Ich erwarte, daß dies bei den weiteren Bänden eine leichtere Freude sein wird als beim ersten, wo so manches Peinliche es ungemein erschwert. Daß ich sie mir aber machen werde, bezweifle ich dennoch. Ich hoffe indes, daß Sie für einiges, jedenfalls unklare Geschwätz über Ihre Arbeit und Ihren Helden Ersatz finden in einigen Noten, die ich Ihnen (ausnahmsweise mit besonderem Vergnügen) zusenden werde. Es ist eine Sammlung deutscher Volkslieder mit Klavier ...« Sollte eine dunkle Stelle in diesen, allerdings etwas gewundenen Sätzen vorhanden sein, so würde sie durch unser Gespräch aufgehellt. Es kam Brahms schwer an, sich für etwas zu bedanken, was ihm so wenig gefiel wie die ersten Bände von Baechtolds Keller-Biographie. Sein »leiser« Dank, sagt er, mag sich nicht bemühen, ausführlicher zu werden. Hoffentlich würde dies bei den noch folgenden Bänden eine leichtere Freude sein. Aber er muß schon jetzt sagen, daß er sich diese Freude wahrscheinlich nicht machen werde. Es war ihm peinlich, gegen den Helden und dessen Biographen allerlei vorzubringen. Anstatt also unklares Geschwätz niederzuschreiben, läßt er lieber die Volkslieder den schuldigen Dank abstatten, und er darf ausnahmsweise etwas Musikalisches mit besonderem Vergnügen verschicken, weil es nicht von seiner Komposition ist.


26 Vgl. III 28 Anm.


27 Als meine Frau ihm mein Referat über seine im Konzert Sistermans vorgetragenen »Ernsten Gesänge« zuschickte, mit der Bemerkung, vielleicht werde ihn der »Kleine Anzeiger« des »Neuen Wiener Tagblattes« interessieren, antwortete er ihr: »Verzeihen Sie doch recht sehr, daß ich gestern nicht, wie ich vorhatte, Ihnen recht schön gedankt habe für die Freude, die mir Ihr Kleiner Anzeiger gemacht hat. Aber es war wieder einmal Ihre Küche weit vollkommener als jene Noten und Buchstaben, und so vergaß man über jene gern und fröhlich diese ernsten und traurigen. Verzeihen Sie das und haben hiermit zwiefachen Dank ...«


28 Max Friedländer, der zur Zentenarfeier Schuberts nach Wien gekommen war, traf Brahms in ähnlicher Stimmung und Verfassung bei Hanslick: er fühlte sich elend und fror. Friedländer suchte ihn mit der Aussicht auf eine Frühjahrsreise nach Italien zu erheitern. Da sagte Brahms: »So kurze Reisen mache ich nicht mehr, die überlasse ich Ihnen, junger Mann. Ich werde nächstens eine weitere antreten.«


29 Wahrscheinlich Professor Narad aus Utrecht.


30 Als sich Wendt besorgt bei ihm nach seinem Befinden erkundigte, schrieb ihm Brahms Anfang Februar: »Lieber Freund, leider geht es mir immer weniger gut, und bin ich viel zu unlustig, matt und müde, um Briefe zu schreiben. Zu meiner großen Freude habe ich viel über Ihre schönen Festtage gelesen, grade die Karlsruher Zeitung jedoch nicht. Sie machen mir also durch die Übersendung eine kleine Nachfeier, und bitte ich darum! Sonst aber entschuldigen Sie Ihren herzlich grüßenden J. Brahms.«


31 Meine Frau erhielt am Tage vorher folgendes Briefchen von Brahms: »Ganz unter uns teile ich Ihnen mit, daß d'Albert mit Frau heute (Mittwoch) abend eintreffen und im Hotel Bristol absteigen. Es könnte doch sein, daß Sie ihnen mit Ihrer Küche imponieren möchten, oder Sie ihn oder er Sie gern sähe! Ihr J. Br.«


32 1885, als zwischen Brahms und Simrock wegen des thematischen Kataloges verhandelt wurde, schob der Autor dem Verleger die Idee einer derartigen Sammlung ironisch zu. (Siehe S. 91.) Später wurde er anderen Sinnes.


33 Das Werk ist ein Jahr nach Brahms' Tode unter dem Titel »Brahms-Texte« bei Simrock im Druck erschienen.


34 Ein ähnlicher Vorfall hatte sich acht Tage früher bei Fellingers ereignet. Als Brahms am 4. Februar allein zu Tisch bei ihnen war, um die Testamentsangelegenheit zu besprechen, sagte er plötzlich: »In ein paar Wochen bin ich längst da unten.« Frau Maria fiel sofort ein mit der Frage: »Sind Sie zu Cornaros eingeladen?« (sie wohnten im Parterre) und machte damit der peinlichen Situation ein Ende.


35 Millers, Fellingers und Fabers stellten fortan ihre Equipagen Brahms täglich zur Disposition und begleiteten ihn, wenn es ihre Geschäfte erlaubten, in den Prater, wo er dann in der Hauptallee immer ein Stück promenierte.


36 Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, brieflich zu danken, und schrieb: »Verehrteste, wie alles, was Sie tun, war auch die Ihrer Sendung beigelegte Karte ein Muster liebenswürdigster Freundlichkeit. Aber sie genügt mir nicht, meine Bewunderung und meinen Dank auszusprechen. Auch muß ich erzählen, wie's herging damit.

Ich saß behaglich am Abendtisch, die Hausschuhe, wie gewöhnlich, als immer noch lästig abgestreift, und doch, wie gewöhnlich, nicht recht zufrieden mit dem, was übrigblieb. Da kam die letzte Post. Mit Liebe besah ich die Arbeit Ihrer Pfleglinge, und mit Dankbarkeit zog ich sie an. Heureka! Da war's ja, was mir immer gefehlt! Wärmer als jeder Schuh, und doch spürte man's nicht; entzückend, meisterhaft, idealisch!

Haben Sie tausend Dank, und für eine Wiederholung dankte ich gerne noch. Dann aber macht hoffentlich Frühlingsanfang allem ein Ende!

Von mir kann ich nichts Besseres melden, vergesse aber nicht, daß ich andern gegenüber gar nicht Grund habe zu klagen. Nur Geduld braucht's, und die hat einer schwer, der nicht gewohnt ist, an seinen Körper zu denken« ...


37 III 453ff.


38 Am 19. März schrieb er mir: »Lieber Kalbeck, was soll ich denn mit dem rätselhaften Oberrock anfangen, der schon so lange daliegt, daß er ganz vergessen ist. Kann ich ihn irgendwohin schicken, oder darf ich ihn Sonn- und Feiertags tragen?«


39 Er wohnte der Vorstellung in Hanslicks Loge bei, mußte aber vor Schluß weggehen, weil ihn das Zuhören zu sehr anstrengte.


40 Zum ersten Male fehlte in dem durch Liebe zur Kunst verbundenen Kreise die treue Brahms- und Joachim-Freundin, Frau Anna Franz, geb. Wittgenstein. Sie war am 22. September gestorben.


41 Auf Brahms' Veranlassung hatte der Wiener Tonkünstlerverein im Januar 1896 zwei von Brahms aus eigenen Mitteln erhöhte Preise ausgeschrieben »zur Förderung der Kammermusik-Literatur für Blasinstrumente« für die besten Kammermusikstücke, bei denen mindestens ein Blasinstrument verwendet wird. Brahms gehörte zu den Preisrichtern und versäumte, trotz seines leidenden Zustandes, keine der Proben, welche mit den eingesendeten Arbeiten veranstaltet wurden. Als Sieger ging Walter Rabl, der Schüler Karl Nawratils, hervor, ein damals ganz unbekannter, junger Musiker. Brahms hielt, trotzdem er wünschte, daß Simrock das Werk drucke, es für geboten, den Verleger zu warnen. »Ich muß mich nur hüten, weil ich nur zu geneigt bin, passable Werke zu überschätzen (im ersten Augenblick) – man sehnt sich gar so sehr nach etwas Erfreulichem!«


42 Siehe das Faksimile der Beilage!


43 Dr. Breuer benachrichtigte Fellingers am 25. März, Brahms habe Blutungen gehabt, und der Zeitpunkt, ihn zu sich zu nehmen, was längst beabsichtigt war, sei jetzt gekommen. Bald darauf aber schickte der Arzt eine Karte des Inhalts, der Transport sei nicht mehr möglich. An die Stiefmutter schrieb Brahms, nachdem er zu Bett gegangen war, am 26. März: »L.M. Der Abwechselung wegen habe ich mich ein wenig hingelegt und kann daher unbequem schreiben. Sonst habe keine Angst: es hat sich nichts geändert, und wie gewöhnlich habe ich nur Geduld nötig. Herzlich Euer Johs.«


44 Nach Aussage der Frau Dr. Truxa ist dieser Rechtsstreit das Letzte gewesen, wofür Brahms Teilnahme zeigte. Danach trat der rapide Verfall seiner Kräfte und damit seine, stellenweise mit Bewußtlosigkeit verbundene gänzliche Apathie ein.


45 Von Dr. Fellinger geholt, war Professor Nothnagel am Vormittag zum Konsilium erschienen.


46 Dr. Robert Breuer, der Schwiegersohn Brülls, ist selbst vortrefflicher Geiger und Kammermusikspieler.


47 Sechs Jahre darauf hat Frau Truxa am 70. Geburtstage des Meisters in der »Neuen freien Presse« unter dem Titel »Am Sterbebette Brahms'« einen kleinen Aufsatz veröffentlicht, der im wesentlichen mit der obigen Aussage übereinstimmt und nur in einigen Nebendingen von ihr abweicht. Der Eintritt des Todes wird (irrtümlich) auf 9 Uhr morgens festgesetzt. Brahms habe sich aufzurichten versucht und sprechen wollen, sei aber langsam unter ihren Händen zurückgesunken und habe, während große Tränen über seine eingefallenen Wangen rollten, mit auf sie gerichtetem Blicke seinen letzten Atemzug getan.


48 Die aus verschiedenen Wiener Zeitungen zusammengetragene Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch was das Zeremoniell anbetrifft, folgte der Verfasser den damals erschienenen öffentlichen Berichten.


49 In den Zeitungen war zu lesen, der Kirchenchor hätte Mendelssohns »Es ist bestimmt in Gottes Rat« gesungen. Eigentümlich ist der Zufall, daß ich bei einem meiner letzten Gespräche mit Brahms von den (mit der religiösen Mode fortschreitenden) Veränderungen im Texte gerade dieses protestantischen Kirchenliedes gesprochen hatte, im Anschluß an die Widmannschen Bedenken. (Vgl. S. 489.) Brahms wußte natürlich, daß die Brandenburgische Kurfürstin Louise Henriette (1627–67) das Gegenteil von dem gedichtet hat, was heute gelehrt, geglaubt und gesungen wird. Bei ihr heißt es: »Dann wird eben diese Haut mich umgeben, wie ich gläube, Gott wird werden angeschaut dann von mir in diesem Leibe, und in diesem Fleisch werd' ich Jesum sehen ewiglich.« Heute steht in den Gesangbüchern der Gemeinde: »Dann wird mich statt dieser Haut ein verklärter Leib umgeben, Gott wird werden angeschaut dann von mir in jenem Leben, und in jenem Leib werd' ich Jesum sehen ewiglich«. Brahms sagte ironisch, es scheine also auch unter den Gläubigen und Gelehrten noch nicht so recht sicher, wie es eigentlich bei der Auferstehung zugehen werde.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 4, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1915, S. 441-529.
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