Einzelne Werke.

[42] Für die nähere Betrachtung einzelner Werke Mozart's wählen wir zunächst als ein merkwürdiges Beispiel einer Stimmung, wir möchten sagen religiöser Art, die Fuge in F-moll, dem Publicum bekannt als ein vierhändiges Stück für Clavier, ursprünglich aber auf Bestellung für ein Orgelwerk in einer Uhr geschrieben, und zwar im Jahre 1791, also nicht gar zu lange vor seinem Tode. Sie ist wie ein Bußgang, sowie ihn Gretchen macht in der Angst ihrer Seele. Es ist bekannt, daß Mozart in den letzten Jahren seines Lebens mannichfach von Ahnungen des Todes durchzogen und manchmal davon gewaltsam erschüttert wurde. Wie viel davon auf Rechnung seines Körpers kommt, der durch vieles Nachtwachen und angestrengte Arbeit sehr angegriffen war, wie viel andern, geistigen und sittlichen Ursachen zuzuschreiben ist, wird Niemand entscheiden[42] können. Man sagt von Raphael, er sei so früh gestorben, weil er zu viel nach Modellen gearbeitet. Man hüte sich, dieses Wort bloß roh sinnlich zu fassen. Unter Modellen sind die Figuren des Lebens zu verstehen, nach denen jeder Künstler arbeitet, auch der echte Musiker, wie wir sehen werden. Nur in lebenden Wesen und im höchsten Grade nur im Menschen findet sich jene Verwirklichung der Idee, des Geistes, der die Welt erfüllt, und in diese tiefste, heimlichste, vollkommenste Verschmelzung des Sinnlichen und des Geistigen, deren Abbild uns der Künstler geben soll, dringt nur der ein, der sich diesem Wesen hinwiederum ganz mit Seele und Körper hingibt. Daß dieses aber die höchste Anspannung aller unserer Kräfte erfordert, sowohl der geistigen wie der sinnlichen, und daß dieses allerhöchste und stete Genießen und volle Benutzen der Kräfte auch die Lebenskraft vor der Zeit erschöpft, wenn nicht, wie es Goethe, der in gleichem Falle war, noch bei Zeiten that, klüglich eingehalten und gespart wird, das ist es, was jener Ausspruch bedeutet und das haben allerdings Mozart wie Raphael bitter erfahren müssen, als sie der Tod in der Blüthe der Jahre hinraffte.

Mozart lebte durchaus aus dem Vollen, jeder Moment seines kurzen Lebens war reich, reich an Genuß, reich an Schaffen, die nicht von einander getrennt waren. Seine Werke beweisen dies, der Don Giovanni allein ist wie das Leben selbst so reich. Aber gerade diese Oper, die Klänge des Schreckens, die jenen Missethäter zum Gerichte rufen, beweisen auch, daß nicht bloß körperliche Gründe die letzten Tage von Mozart's Leben mit tiefer Melancholie erfüllten. Er hatte tief in die Abgründe der Schuld geschaut. Und so mag ihm auch einmal in einsamer Nacht, wie er an seinem Clavier saß und die Seele frei in Phantasieen sich ergehen[43] ließ, das Bild des Richters über die Thaten der Lebendigen erschienen sein, er mag in einem Überblicke über sein Leben, wie ihn eine solche Stunde gewährt, den tiefen Zusammenhang aller Dinge in innerster Seele empfunden haben und gemahnt worden sein an die schrecklichen Folgen, die eine Störung der sittlichen Ordnung im Menschengemüthe anrichtet. Er war nicht frei von Schuld; wir erinnern nur an die traurige Begebenheit mit der jungen Frau, die seine Schülerin war und von ihrem Manne aus eifersüchtigem Verdachte in einem Mordversuche gräßlich verwundet wurde; der Mann hatte sich gleich darauf selbst das Leben genommen. Man weiß nicht das Maaß der Schuld, das unserem Meister zufiel, aber wohl, daß diese Begebenheit sein Gemüth furchtbar ergriffen hatte und daß er lange Zeit nachher von großer Melancholie befallen war. Mochte die Erinnerung einer solchen Schuld ihm aufsteigen und die durch kranke Nerven überreizte Phantasie sie ins Unendliche steigern, daß er sich im Innersten elend fühlte und des Trostes bedürftig, wer weiß es? Die erwähnte Fuge gemahnt in ihrem tiefen Ernste, daß hier ungewöhnliche Dinge vorgehen, es ist ein gewaltsames Ringen der Seele nach Frieden, nach Versöhnung, die selbst in dem eingeschobenen Andante nur vorübergehend erreicht wird. Zuletzt bricht der Kampf kurz und energisch, wie Mozart's Gewohnheit ist, ab.

Es spricht diese Composition sehr deutlich eine ganz bestimmte Seelenstimmung, und zwar der angedeuteten Art aus, ein Insichgehen der Seele, wie es der religiösen Andacht eigen ist. Bestimmt ist jedoch dieses Gefühl nicht in der Art zu nennen, daß es sich auch außerhalb der Musik durch Begriff und Worte fassen ließe: man kann von einem so definirten Gefühle nicht sprechen, wie vom[44] Stoffe, vom Sujet des Malers und Dichters (vergl. Bischer's Ästh. III, §. 749). Wenn also hier dennoch versucht wird, die specifisch individuelle Empfindung einer Composition anzugeben, wenn von Reue, von Gretchens Kirchgang, von Vorgängen aus Mozart's Leben gesprochen wird, so ist dies bloß als eine Versinnlichung zu betrachten, die bei der Darlegung des Inhaltes von Musikwerken der einzige Weg der Verständigung ist. Wer kann wissen, welche Vorstellungen aus der objectiven Welt dem Componisten vorgeschwebt haben, welches Erlebniß die Anregung zu dieser oder jener Empfindung gegeben hat? Kommt es doch in diesen Regionen der geistigen Arbeit oft genug vor, daß eine Erregung der entgegengesetztesten Art als treibende Kraft für eine Arbeit benutzt wird. »Es ist gewiß, schreibt Goethe an Schiller (Nr. 172), daß mir gegenwärtig die lange Gewohnheit, Kräfte, zufällige Ereignisse, Stimmungen, und wie sich uns Angenehmes und Unangenehmes aufdringen mag, im Augenblick zu nutzen, sehr zu Statten kommt.« Und dennoch wird die Art und Weise, wie sich der Eine das in Tönen dargestellte Gefühl durch Vorstellungen aus der objectiven Welt klar zu machen sucht, dem Andern das Verständniß desselben durchaus erleichtern. Die eigentliche Entscheidung gebührt freilich allein dem gebildeten musikalischen Ohre, und es ist nirgends mißlicher als in Erörterungen des Inhaltes von Werken aus der Musik, wenn dieselben dem Leser nicht vorliegen; denn selbst die Erinnerung, die Vorstellung reicht da kaum hin, wo sie bei Gemälden, bei Statuen genügend ist. Es erscheint bei solchen Erörterungen gar leicht als bloßes Gebilde der Phantasie, was beim Anhören des Werkes als volle Wahrheit erscheinen würde. Und daran hindert nach dem Gesagten in keiner Weise,[45] die Erfahrung, daß »in der Musik jeder die besondern Geheimnisse seiner Brust aufgeschlossen wähnt und es also bei einem Musikstücke soviel verschiedene Vorstellungen gibt als Zuhörer.« Vielmehr gewährt eben »die im Wesen des Gefühls liegende Fähigkeit, nach allen Seiten hin in die Form der Vorstellung mit bestimmtem Inhalte überzugehen«, die Möglichkeit, bloßes Gefühl, eine Stimmung rückwärts durch objective Vorstellungen verständlicher zu machen.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 42-46.
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