I.

[377] Liszt hat während seiner Genfperiode viel geschaffen. Viele Klavierkompositionen liegen aus ihr vor, welche mit seinen Schweizerwanderungen in innigster Beziehung stehen, ja unzertrennlich von ihnen sind. Sie sind keine Reiseerinnerungen, welche nachträglich diesen und jenen Moment des Erlebthabens fixiren – nein, sie sind die Eindrücke selbst, so wie die Natur mit ihrer Poesie sie ihm im Moment des Erlebens gab, die Stimmungen selbst, so wie sie in ihm aufstiegen im Moment des Zusammenklingens mit ihr, doch verdichtet im Ton – keine vorüberrauschenden Improvisati an der Orgel, sondern festgehaltene freie Ergüsse eines phantasieerregten, poetisch fühlenden Geistes.

Seine Schweizerkompositionen bilden den ergänzenden, zugleich auch wesentlichen Theil von dem, was Poet und Literat von seinen vom Lac Léman aus unternommenen Exkursionen späteren Generationen hinterließen. Sie berichten davon, wie tief die Natur seine künstlerische Phantasie ergriff, wie sie sein poetisches Gefühl erregte und wie sie in dem Gestalten seiner individuellen Phantasie widerhallte. Sie sprechen von einem tiefen Gefühl Liszt's für die Natur, das sich gleichsam in Einverständnis mit ihr zu setzen sucht und dadurch, daß es am Eingang der Periode steht, in der die Höhe seines jugendlichen Ungestüms, seines jugendlichen Entflammtseins und poetischen Fühlens zum Ausgleich ihrer selbst[377] trachtete, bedeutsam ist; denn im Gefühl für die Natur giebt sich der echte lyrische Poet zu erkennen, den es treibt hier aus dem ewigen Lebensborn der Lyrik seine innerste Gesundheit zu trinken. Der Lyriker fühlt in der Natur sich selbst mit seinen Seelenzuständen. Ihr stilles Weben, ihr innerstes Erregtsein, ihr Gähren und Stürmen – das sind die Bilder des eigenen bald heimlich still, bald stürmisch bewegten Seins. Und während sie so in ihm nach- und vorausklingt, er in ihr sich sieht und findet, erregt sie zugleich im echten Genius das wunderbare Etwas, welches er im Schlummer und im Wachen in sich birgt, das ihn bewahrt vor den geistigen Krankheiten, denen das Talent so oft unterliegt, das Etwas, das ihn und die Natur wie ein Geheimnis umschlingt und sich durch beide als innere Gesetzmäßigkeit und Objektivität des Schaffens offenbart.

Es ist unverkennbar, daß die Natur nach beiden Richtungen hin – Form und Idee erregend – auf Liszt's schaffende Phantasie eingewirkt hat. Seine Schweizerkompositionen sind der Beleg hierfür. Hier zeigt er sich als lyrischer Dichter, jedoch in anderer Weise als der exklusiv-musikalische Lyriker, welcher nur eine Stimmung der Natur naiv in sich auffängt und in seinen Kompositionen als reines Gefühl, sei es auf dem Gebiet der stärkeren oder der zarteren Gefühle, wiedergiebt. Bei diesem löst sich alles Objektive auf in Stimmung und nur in Stimmung. Die Vorstellung, als dem Gebiet des Gedankens, der Idee angehörend, ist wie ausgelöscht in dem Vibriren des Gefühls.

Nicht so bei Liszt. Seine hierher bezügliche Lyrik, obwohl voll Stimmung, löst sich nicht völlig auf in Stimmung. Wie die Natur an und für sich und im Großen und Ganzen den Sinn für Objektivität und Gesetzmäßigkeit erregt, so spricht sie mehr von einem geistigen Zusammenfühlen mit dem Großen und Erhabenen derselben, mehr von einer Hingabe an ihre Poesie und von einem Festhalten und Sichtbarlassen ihrer Gegenstände, Bilder und Eindrücke als von einem Auflösen aller dieser Beziehungen in ein Gefühl, das der Vorstellung nichts mehr sichtbar läßt und kein Erkennungszeichen mehr an sich trägt von dem, was seine Ursache war. Liszt's Gefühl und Phantasie halten den Gegenstand fest, der sie erregt hat; hiemit nähert er sich dem lyrischen Poeten, welcher in die Vorstellung seines Gefühls Bilder und Momente der Natur aufnimmt, sie in seine Dichtung trägt, um[378] durch sie sein eigenes bewegtes Leben, sein Weh und seine Wonne, seinen Schmerz und seine Leidenschaft auszusprechen. Kein Dichter veranschaulicht diese Seite der Lyrik mehr als Goethe. Die »Ruhe über den Wipfeln«, »Meeresstille und glückliche Fahrt«, »Schäfers Klagelied«, »Mignon« – seine schönsten Lieder drücken durch Anschauungsbilder seine Stimmung und sein Zusammenfühlen mit der Natur auf das vollkommenste und wunderbarste aus.

Dem Tondichter stehen allerdings diese Anschauungsbilder weniger zu Gebote als dem Wortdichter, obwohl auch er durch sie, jedoch in beschränkterer Weise als dieser, vermittels charakteristischer Tonmalerei sich ausdrücken kann. Näher dagegen stehen ihm die Bilder, welche durch das Ohr in seine Vorstellung gelangen und sich im Gegensatz zu der Bezeichnung »Anschauungsbilder« gewiß nicht fälschlich Gehörbilder nennen lassen. Die Natur giebt im Flüstern der Blätter, im Rieseln der Quelle, im Rauschen der Wasser, im Toben der Winde, in der Entfesselung der Elemente, andererseits im Echo, im vielfachen Gesang der Vögel u.s.w. eine Reihe faßbarer Gehörbilder, welche der Tonpoet in seine Phantasie hineinzieht, um durch sie sein lyrisches Empfinden auszusprechen. Gehör- und Anschauungsbilder wie die genannten sind die faßbaren, Allen verständlichen. Tiefer aber liegen diejenigen, welche »geheimnisvoll am lichten Tag« nur dem Geist sich offenbaren, nur zu Sonntagskindern sprechen und ihnen gegenüber kann die Poesie nur selbst reden, nur selbst verstehen – hier fängt das Undefinirbare an.

Es ist sicher, daß dieses Undefinirbare ebenso wie das Definirbare sich in jenen Kompositionen Liszt's wiederfindet. Beide fließen ineinander – ein wortloses, doch kraftvoll wie zart schwingendes Geistesleben, das obwohl in lyrische Schleier gehüllt, doch lichte Durchblicke nach oben und nach den Seiten gewährt. Wie der zwischen Gedanke und Gefühl schwebende lyrische Poet, spricht und haucht er, aber in Tönen einen Theil seines Seelenlebens in Bildern aus, die ebenso durch das Auge wie durch das Ohr in die Phantasie gedrungen sind. Sie geben einen Theil der lichten Durchblicke und lassen zugleich den sich bewegenden Sinn für Objektivität und Gesetzmäßigkeit als Idee und Form erkennen. Denen, die es verstehen sich in die Poesie und in das innere Walten der Natur zu versenken und ihr Versetzen in die Sprache[379] der Tonkunst zu lesen, werden seine Schweizerkompositionen viel erzählen von der einen Rhythmik, die alle Lebens- und Geistesformen, auch die Musik, durchzieht, von dem einen Gesetz, nach dem sie sich, auch die Musik, gestalten und bewegen. Dabei wird vielleicht im Hintergrund derselben die Alpenwelt auftauchen, die nach einer Seite durch ihre zu mächtigem Schwung der Linien sich verbindenden Bergkolosse wie ein verkörpertes Gesetz großartigster Dynamik erscheint, während sie nach anderer durch ihr sonnige Heiterkeit athmendes Idyll der Almen, Matten und Seen den poetischen Zauber bruchloser Einheit der Natur und des Geistes enthüllt.

Konnten auch seine Kompositionen – und namentlich am Klavier – sein inneres und poetisches Zusammenfühlen mit der Natur nicht ganz zur Ausprägung bringen und kam es als völlig übergegangen in seine Individualität erst in seinen späteren Orchesterwerken vollgereist zum Ausdruck – in jenen großartigen und gewaltigen Steigerungen, die wie tönende Bergketten und Bergmassen in mächtigem Crescendo zur Höhe ziehen, in jenem seinen Pastoralstücken angehörenden Weben und Dichten der Töne, das wie ein Spiel des Sonnenstrahls mit Bergesluft friedlich-heitere Stimmung in die Seele zaubert, in jenen Kontrasten zwischen Gewaltigem und Zartem, welche zugleich erschüttern und rühren –: so legen sie doch den tiefen Zusammenklang seines Geistes mit der Natur, mit ihrem Zauber und ihrem inneren Walten unverkennbar dar. Sie weisen auf die empfangenen Eindrücke und auf ihre geistige Verarbeitung hin und endlich, indem sie zeigen, wie seine Phantasie nach Stoffen sich ausdehnte, welche bisher mehr von der Poesie des Wortes als des Tones ergriffen worden waren, decken sie zugleich das Streben nach Objektivität und Gesetzmäßigkeit auf. Im Ganzen setzen sich durch sie die »schöpferischen Keime« organisch fort.

Die Kompositionen seiner Genf-Epoche, welche im innigen Zusammenhang mit den Eindrücken, die seine Alpenwanderungen ihm gegeben, stehen, hat Liszt in drei Bänden unter dem Gesammttitel:


[380] Album d'un voyageur

Compositions pour le Piano,


im Jahr 1842 der Öffentlichkeit übergeben,1 eine Ausgabe, welche im Handel nicht mehr existirt. Diese drei Bände, von denen jeder einzelne die durch Stimmung und Art verwandten Stücke nochmals durch einen Separat-Titel zusammenfaßt, theilen die sämmtlichen Kompositionen hiedurch in drei Gruppen.2 Die erste enthält als erster Band unter dem Titel:


I. Impressions et Poësies


sechs Tonstücke, richtiger gesagt Tongedichte, unter deren charakteristischer Tonmalerei – mit Ausnahme der ersten Nummer »Lyon«, welche, wie bereits bekannt, der vorgenfer Periode angehört – sich der harmonische Zusammenklang der Stimmung des Komponisten mit der Stimmung der Natur in Eins zusammenfaßt.

Die meisten von ihnen haben, um bei dem schon gebrauchten Ausdruck stehen zu bleiben, »Gehörbilder«, welche in der Phantasie des Hörers und mit der Überschrift als Leitfaden ihre Ergänzung in den mit ihnen in der realen Welt verbundenen Anschauungsbildern finden, zu ihren Hauptmotiven. In dem Stück: »Au lac de Wallenstadt« zum Beispiel, ist das sanfte Kräuseln der Wellen das zum Motiv gewordene Gehörbild, das in seiner sich wiederholenden Fortsetzung zum bewegten Bild des Sees wird. Während die gleichmäßige rhythmische Bewegung des Motivs dieses Bild festhält, fühlen wir durch die Harmonie und das melodische Gewebe den Sonnenschein, der über die leisbewegte Fläche sich breitet, die warme Luft, die sie umspielt, den Traum, der sie und die menschliche Seele umspinnt. Nur mechanisch hören wir noch das leise Schaukeln des Wassers – die Seele träumt fort bis zu jenem Hauch des Unbewußtseins, der mit dem niente des Äthers zusammenfließt.

»Au lac de Wallenstadt« gehört zu den vollendetsten lyrischen Poesien in Tönen, zu jenen, von denen sich sagen läßt, daß sie die Natur in ihrem verschwiegenen Daheim belauscht haben. Nichts[381] Fremdes tritt in sie hinein, keine Dissonanz, kein menschlicher Laut: jeder Ton ist Poesie – reine Poesie. Sollte diesem Tonstück ein Pendant aus der Dichtkunst gegeben werden, so wüßten wir nur eines, das in gleichvollendeter Weise die stimmungsvolle Einheit des Dichters mit der Natur ausdrückt, zu nennen: Goethe's »Über allen Gipfeln ist Ruh'«. Beide haben das gleiche volle Eintauchen der Seele in die Stimmung der Natur und beide sinken, das Wort wie der Ton, jenes, nachdem es sich zum Gedanken erhoben, dieser, nachdem er die. Bewegung bis zum Gefühl der Kraft getrieben, vergehend zurück in die Tiefe des Ichs – ein Traum in der Unendlichkeit.

Nicht alle sechs Nummern dieses Bandes stehen durch Anschauungs- und Gehörelemente in demselben unisono mit Naturstimmungen, wie: »Au lac de Wallenstadt« und es haben nicht alle so wie dieses reizende Tonpoëm ein Naturbild festgehalten. Wie der lyrische Dichter sein Inneres oft nur durch ein solches vergleichungsweise ausdrückt und als vorübergehendes Moment seiner Stimmung gleichsam ein Symbol giebt, so treten solche Naturbilder auch in verschiedenen Nummern der »Impressions et Poësies« nur vorübergehend oder die Stimmung steigernd oder auch ihren Charakter andeutend, auf.

In der Komposition: »Les cloches de G ...« zum Beispiel, ist keineswegs ein Glockengeläute als Grundlage durch das ganze Stück festgehalten, wie dort die Bewegung des Sees. Die Stimmung, welche auf einsamer Bergeshöhe, wo nur das sprechende Schweigen der Natur, der Himmel darüber, uns umgiebt, wird durch das plötzliche Heraufschallen der sonoren Glocken aus der Thalestiefe erhöht, gehoben, dabei in ihrem Charakter bezeichnet. Verstummen auch die Glocken – sie vibriren nach in dem Flug der Seele, deren Richtung sie angegeben haben.

Im zweiten Band treten im Gegensatz zu dem ersten die Naturstimmungen weniger charakteristisch auf. Sie sind überwiegend rein lyrisch im musikalischen Sinn. Die Gehör- und Anschauungselemente sind nicht immer so greifbar wie dort und gemahnen mehr an das schon einmal citirte Wort Goethe's, an das: »Geheimnisvoll am lichten Tag« der Natur. Doch geben sie der Vorstellung daneben helle Durchblicke durch da und dort auftauchende Laute und melodische Motive, welche vom Leben in den Alpen unzertrennlich sind, wie die Motive des Kuhreigens, der[382] Hirtenschalmei und andere. Im Ganzen sind es allgemein lyrische Stimmungen, welche der Komponist mit der Gesammtbezeichnung:


II. Fleurs mélodiques des Alpes


zu einem viel verheißenden Strauß bindet. An ein modernes Herbarium darf man bei demselben allerdings nicht denken. Seine neun »Alpenblumen« sind namenlos. Weder eine Überschrift noch ein Motto begleitet sie und so sprechen sie genügend aus, daß sie mit botanischen Errungenschaften nichts gemein haben.

Der dritte Band:


III. Paraphrases3


enthält drei größere Kompositionen: »Improvisato«, »Nocturne« – das eigentlich mit »Nachtscene« bezeichnet sein sollte – und ein Allegro: »Allegro finale« überschrieben. Sie unterscheiden sich inhaltlich wesentlich von den Stücken der anderen Bände. Während jene überwiegend in einer Stimmung bleiben, geben diese auch Gegensätzlichem Raum. Gährung, Geschwitterschwüle, Sturmeswehen, Frieden – Gefühlselemente, welche dort einzeln in einer Komposition zum Ausdruck kamen, gehen hier über den engeren Rahmen der Lyrik hinaus und fassen die lyrische Bewegtheit nicht als Einzelstimmung, sondern in ihrem gegensätzlichen Nacheinander zusammen, so zum Beispiel, wie die Natur es in der Stille vor dem Sturm, im Gewitter und in seinem Verziehen ausdrückt. Diese Stücke sind mehr dramatisch-bewegte Natur- und Seelengemälde als lyrische Blumen und poetische Reiseeindrücke, mehr ausgeprägter Gefühlsgehalt als Stimmung.

Im Ganzen hat das Schweizer-Album musikalisch eine neue lyrische Saite angeschlagen, welche innerhalb der Musik, wenn auch schon erklungen, doch weniger zu einer ganzen Skala verschiedener Töne sich entwickelt hatte. Eindrücke der Natur, in der Weise wie Liszt es gethan hat, in die Musik zu ziehen, war noch nicht gedacht[383] worden und, ehe er diese Kompositionen veröffentlichte, sprachen musikalische Essays zeitgenössischer Schriftsteller von seinen »drei ungeheuren Bänden« wie von einem Buche Salomonis. Der eine sprach von Bergen, Seen, Thälern und Wundern der Natur, welche sie enthalten sollten, ein anderer wollte aus ihnen eine Befähigung Liszt's für die Oper erkennen, ja nannte sie »eine Oper ohne Worte«. Uns gelten sie zunächst als Material zur Darlegung seiner individuellen Entwickelung als schaffender Künstler; denn die Stimmungen und Gefühle, welche er hier in Verbindung mit Natureindrücken zum Ausdruck gebracht hat, legen zugleich die geistigen Grundzüge seiner künstlerischen Eigenartigkeit dar.

Letztere ins Auge fassend, so lassen sich drei Momente derselben deutlich erkennen. Sie treten wohl meist in Verbindung miteinander auf, doch nicht so, daß sie nicht auch unterscheidbar von einander wären. Bald steht das eine bald das andere im Vordergrund, je nachdem es in der Höhe und im Charakter der Stimmung liegt. Diese Momente zeigen sich in ihren Extremen einerseits als eine äußerste Zartheit und Innigkeit der Empfindung und andererseits als eine ebenso titanische wie dämonische Kraft derselben – zwei Extreme, in welchen sein Zusammenfühlen mit der Natur liegt, in denen vielleicht auch, möchten wir sagen: die irdische Seite seines Fühlens sich bewegt. Das dritte dagegen gehört seiner religiösen Grundstimmung an und breitet sich als Weihe- und Feierstimmung über jene oder auch durchzieht oder durchflammt sie mit seinem geistigen Äther. Ebenso treibt es die realen Naturgewalten in das Gebiet des Geistes und stellt sie in den Dienst der Ideale.

Das religiöse Element ist in Folge dessen gegenüber den anderen Gefühlen das verbindende und poetisch idealisirende, das darum auch nicht im Vordergrund steht. Wie ein Geheimnis, das wir nur aus seiner Wirkung halb ahnen halb fühlen, durchzieht es seine Harmonien. Ihm schreiben wir insbesondere nach Seite des Zarten die geistigen Empfindungen zu, welche die Gemüther bei Liszt's gesammter weltlicher. Musik oft so unwiderstehlich überkommen und sich nur vergleichen lassen mit solchen, die uns angesichts einer sich ins Unendliche ausdehnenden Ferne ergreifen, die uns beschleichen bei verhauchendem Abendroth, wo unsere Seele gleichsam in der Ahnung des Unendlichen athmet. Das sind Empfindungen, die einer so hohen und reinen Sphäre angehören,[384] daß sie nur der echte lyrische Genius voll und rein, sei es durch das Wort, durch den Ton oder durch die Farbe zur Offenbarung bringen kann. Am innigsten aber enthüllt sie die Musik. Ihre Geistigkeit ist auch zugleich Wärme und giebt so das durch Wort und Farbe Unaussprechliche wieder; das, was die Sprache mit der Bezeichnung »Sphärenmusik« anzudeuten versucht hat. Solche schwebende Empfindungen sind jedoch nicht zu verwechseln mit der in der Musik so sehr herrschenden Sentimentalität im Sinne jener Gefühlsseligkeit, bei welcher das Gefühl sich selbst Genuß wird und so zu sagen zwischen Luft und Erde schwebt, Psyche zu sein glaubt und doch heimlich mehr Physis ist. Solche Stofflichkeit kennt Liszt's Lyrik nicht. Es ist bezeichnend für sie und gehört zu ihrer specifischen Charakteristik, daß sie mehr dem Gefühl des Geistes – Geist als Inbegriff des Gefühls-, des Phantasie- und Gedankenlebens gedacht – entquillt als dem Gefühlsleben als solchem. Das Band jedoch, das allumschlingende des Geistes, wurzelt in seiner religiösen Richtung.

Die Spuren seines religiösen Gefühls lassen sich im Schweizer-Album nach den verschiedensten Richtungen hin verfolgen. Nicht nur als poetisch-religiöser Hauch, auch in ausgeprägterer Weise macht sich dasselbe bemerkbar. Es setzt die »Glocken Genfs« in Bewegung, es deutet den nächtlichen Frieden des »Nocturno« (der zweiten Paraphrase) an, es ist als Moment des Kraftgefühls »Einer für Alle – Alle für Einen«, welches in der »Chapelle de Guillaume Tell« (No. 3 der »Impressions et Poësies«) zum Ausdruck kommt. In solchen Momenten bildet es den anderen Theil der Elemente, welche in seine Naturstimmungen und Reiseeindrücke »lichte Durchblicke« gewähren.

Am wenigsten faßlich, doch dabei am fühlbarsten durchzieht es die »Alpenblumen«, die sich zum größten Theil auf der harmonischen Basis der Naturharmonien bewegen und sich schon hiedurch in ihrem allgemeinen Charakter als Naturstimmungen kennzeichnen, ihren besonderen jedoch durch Hineinziehen von Motiven, welche bald in der Form des Echos, bald in der Form charakteristischer Naturlaute, die sich historisch mit dem Hirtenberuf und dem Alphorn verknüpft haben, überwiegend als Pastoralstimmungen darlegen.

Ihrem heiteren Element haucht das religiöse den sonnigen Gottesfrieden der Natur ein, der als Weihe sich geltend macht.[385]

Wir betonen das Wort »Weihe«; denn das Pastorale ist undenkbar ohne solche. Sie ist gleichsam der religiöse Athem der Natur, den sie aushaucht, ohne daß er ihr ganz entweicht. Durch dieses zur Weihe werdende Eingehen des Religiösen in die Naturstimmung schafft sich in der Tonkunst der Charakter des Pastorale, welcher den Gedanken der bruchlosen und ungetrübten Einheit zwischen Gott und Natur zur Darstellung bringt.

In diesem Grundton des Pastorale liegt die Grundstimmung und der Grundzug aller späteren Pastorale Liszt's, vom Pastorale seiner »Préludes« an bis zu den beiden des ersten Theils seines Oratoriums »Christus«. In den »Alpenblumen« liegen alle ihre Keime vorbereitet. Sie sind die Vorläufer derselben, doch haben sie als Alpenstimmungen durch das Einflechten von musikalischen ausschließlich den Alpenbewohnern angehörenden Motiven gewissermaßen Lokalfärbung, welche ohne Beziehung zum Pastorale im allgemeinen steht. Die dritte Nummer der »Fleurs mélodiques des Alpes« – sie ist mit »Allegro pastorale« bezeichnet – trägt insbesondere den Charakter eines Schweizer-Pastorale in dem soeben ausgesprochenen Sinn. –

Und nun die titanische und dämonische Kraft der Gefühle! Es ist immer das Göttliche, was den Titan schafft. Und so ist auch Liszt's titanische Kraft in der Kraft und Entzündbarkeit seiner Phantasie zu suchen, welche getrieben von der Leidenschaft feines Temperamentes – der Quelle des Dämonischen – die Höhe und Weite der Grenze, welche dem menschlichen Gefühl und seinem künstlerischen Ausdruck gezogen scheint, wie mit Feuersgewalt überwindet – zu den Neptunisten des Göttergeschlechtes wird Liszt nie zu zählen sein. Diese dämonisch-titanische Kraft zeigt sich bei ihm nicht als elementares Unbewußtsein und blinde Naturgewalt. Sie steht unter der Macht des Gedankens und treibt zum Ideellen hin, indem sie die Gefühle in die Sphäre objektiven Geistes zwingt, über welche sich der Schein des Idealen breitet. Alles Ideale kommt aus dem Religiösen. Und so finden wir auch hier, wo Titan und Dämon sich rühren, den Widerschein des letzteren. Ein Beispiel giebt – aus den»Impressions et Poësies« – die schon erwähnte »Wilhelm Tell-Kapelle«, eine nebenbei gesagt ungenügende Überschrift dieses Tonstückes, die erst durch das beigefügte Motto: »Einer für Alle, Alle für Einen!« etwas aufgehellt wird. Doch selbst ohne dieses würden schon die[386] ersten Takte verrathen, daß dieselbe nur eine historische Ortsbezeichnung ist, welche in des Komponisten Phantasie die energische Gestalt des zum Volksbefreier werdenden Sohnes der Berge heraufbeschwor. In Liszt's Geist scheint der Augenblick lebendig geworden zu sein, wo der innere Aufschrei der Unterdrückung, des Zornes, der Durst nach Rache Entschluß geworden ist und der Schweizerheld auf der Spitze seines Entschlusses stehend voll Gebet und voll Wildheit, voll Gottesmuthes und inneren Aufruhrs dem Moment der That entgegenharrt.

Der innere Aufruhr treibt hier vor bis zur Wildheit sich entfesselnder Naturkraft, doch das Religioso hält ihn vor blindem Austoben zurück. Selbst das letzte wilde Energico trägt in seinen Harmonien den »Mit Gott!« gehenden Entschluß. –

Das Titanische und Dämonische Liszt's tritt hier als wilde Leidenschaft des Individuums auf. Im Zusammenfühlen mit der Natur hat es sich jedoch noch einen besonderen künstlerischen Ausdruck geschaffen, welcher in der Malerei der entfesselten Naturgewalten, speciell des Sturmes, gipfelt – ein Stoff, welchen wohl kaum eine andere Kunst eindringlicher, charakteristischer und erschütternder zur Darstellung bringen kann als die Musik; denn sie hat die Mittel diese Naturerscheinung am Hauptpunkt ihrer Wirkung anzufassen und ihr im Kunstwerk den realsten Schein zu geben. Der Dichtkunst, obwohl sie vor allen Künsten das voraus hat, daß sie den Sturm der Elemente in allen seinen Wirkungen schildern kann, ist gerade diese Seite versagt – nicht darum, weil sie ihn schildert, sondern weil sie es nur durch geistige Mittel, durch die Vorstellung kann. Der Sturm geht uns anders durch Mark und Bein, wenn wir fein Heulen und sein Toben hören, als wenn wir ihn nur an der Bewegung der Bäume oder des Wassers sehen oder auch ihn uns nur denken. Der Maler wie der Musiker sind gegenüber der Wiedergabe seiner Gesammterscheinung beschränkter als der Dichter, können aber innerhalb ihrer Beschränkung eine größere Wirkung als dieser erzielen: sie haben vor ihm die Darstellung voraus.

Der Maler hält dem Auge mit täuschender Ähnlichkeit den Sturm zu Wasser wie zu Land vor; er malt seine hängenden Wolken, seinen Blitz, seine Zerstörungen – fixirt ihn jedoch nur in einzelnen Momenten. Das Wasser und die Bäume bewegen sich nicht, die Wolken bleiben unverrückt dräuend am[387] Horizonte hängen und selbst der Blitz steht fest gebannt in seinem Zickzacklauf – hier ist der Punkt, wo die Gebundenheit der Malerei gegenüber der Darstellung solcher Stoffe, welche wie der Sturm in der Bewegung und in der Zeit wurzeln, sich fühlbar macht. Die Malerei kann in der Wiedergabe desselben die Stimmungen des Dunkeln, des Schweren, des Leidenschaftlichen, des Unheimlichen, des Dämonischen in uns wach rufen, aber die Unbeweglichkeit bei der dargestellten Aufregung der Elemente, die Stille, welche auf dieser Unbeweglichkeit lastet, läßt uns nicht zum freien Aufathmen, nicht zur innerlichen Befreiung von dem heraufbeschworenen Druck der Stimmung kommen.

Hier tritt die Musik ein. Sie wurzelt in der Zeit, in der Bewegung, sie hebt die unheimliche Stille auf und stellt, indem es ihr gegeben ist auch das Vergrollen und Verziehen des Sturmes darzustellen und den hellen Himmel uns wieder fühlbar zu machen, die innere Beruhigung her. Kein Künstler kann darum wie der Musiker die dämonische Gewalt der Natur mit ihrem Donnerwort und mit ihren erhabenen Schrecknissen, aber auch mit dem von ihr befreienden Schlußwort so vor unsere Seele zaubern. Das wenigstens hat uns Liszt gezeigt. Mit ebenso überwältigender Kraft, wie mit unerschöpflichem Reichthum der Phantasie hat er eine Reihe von Sturmgemälden und Sturmmomenten geschaffen, wie kaum ein anderer Meister: auf symphonischem hierher gehörigem Gebiet wenigstens ist er der Meister der Meister geworden! Er konnte von sich sagen, wie es oftmals der Fall war: »Der Sturm ist mein Métier«. – Kein charakteristischer Zug, weder des Sturmes auf dem Meere noch auf dem Lande, ist ihm entgangen: der Sturm in den »Préludes«, in der »Heiligen Elisabeth«, im Oratorium »Christus«, in der für das Klavier komponirten Legende: »der heilige Franziskus von Paula auf den Wogen schreitend« – das sind die sprechenden Zeugen seiner nach dieser Richtung einzig dastehenden Tonschöpfungen.

In ihnen gipfelt nach Seite der Naturmalerei das Dämonische und Titanhafte seiner Kraft, ebenso wie das Zarte und Innige seiner Naturstimmungen sich einen alles hinter sich lassenden Ausdruck im Pastorale geschaffen hat.

Wie die Keime des letzteren im Schweizer-Album zu finden sind, so besitzt dieses auch in der »Nocturne« überschriebenen Nummer den Erstling von Liszt's Sturmgemälden. Und wie bei den anderen Kompositionen desselben ein Gedanke, eine Idee[388] in den Vordergrund tritt und das Religiöse einen idealen Schein über sie breitet, so ist auch der Sturm im »Nocturne« ein Nachtgedicht, das seinen Gedanken hat und dessen Dissonanzen ihre Lösung am Sternenzelt, im Frieden der Religion suchen. In die stille heilige Ruhe der Natur, über welche die Schleier der Nacht sich gebreitet, jagt der Sturm plötzlich hinein und erschreckt und stört sie mit seinen Donnern, seinen Blitzen, seiner Wildheit, doch ohne sie zu vernichten. Er zieht hindurch und vergrollt in der Ferne, während die Ruhe und der göttliche Frieden wieder hergestellt das Schlummerlied der Natur fortsetzen.

Der von diesem ersten Sturmgemälde ausgesprochene Gedanke: »die Leidenschaft unter höhere Gewalten zu stellen«, ist der Grundzug aller hierher bezüglichen Kompositionen Liszt's. Dieser Gedanke stellt sie in die Reihe der Kunstgebilde, welche trotz äußerlicher Großartigkeit nicht durch sie ihre überwältigende Wirkung ausüben, sondern durch die ethische Gewalt, die Wetter und Sturm zwingend im Hintergrund liegt. Liszt's Stürme erinnern an die bedeutsamen, allerdings zunächst in Beziehung zur bildenden Kunst gesprochenen, sich aber trotzdem auf alle Künste beziehen lassenden Worte Winkelmann's4, welche von dem Darsteller des Meeressturmes fordern, daß er »mit der wüthend aufgeworfenen Oberfläche des Meeres seine stille Tiefe sehen lasse, d.h. in der höchsten Leidenschaft eine große und gesetzte Seele zeige«. –

Nach dem Gesagten läßt sich nicht verkennen, daß so verschieden, so ausgeprägt und scharf die drei genannten geistigen Momente der Individualität Liszt's sich im Schweizer-Album auch gesondert von einander ausgesprochen, sie dennoch eine gemeinschaftliche Grundrichtung haben, nämlich: sich an einen Gedanken, an eine Idee, an die objektive Welt des Geistes hinzugeben. Es treibt alles über die Subjektivität des Gefühls und des Gedankens hinaus. Kein Element schließt sich von diesem Streben nach Objektivität aus, selbst das religiöse ist inbegriffen, was für Liszt's weltliche Lyrik – weltliche Lyrik im Hinblick auf seine spätere religiöse – bezeichnend ist; denn es sagt uns, daß es kein von der weltlichen Seite seines Wesens losgelöstes und darum unfruchtbares Etwas sei, sondern daß es hier eingezogen gleichsam Fleisch[389] und Blut ward. Diesem »Fleisch und Blut werden« des Religiösen entströmt der ideale Glanz seiner weltlichen Lyrik, welcher von ihr so untrennbar ist, wie das Herz vom menschlichen Organismus. –

Das Hingeben an poetische Ideen deutet jedoch auf noch andere Dinge hin: auf die Kunstprincipien, welche mit der musikalisch durch Berlioz ins Leben getretenen romantischen Kunstbewegung sich zu entwickeln angefangen hatten. Es ist unverkennbar, daß die Idee der Programm-Musik hinter Liszt's Klavierstücken des Reise-Albums steht, aber versteckt hinter der Lyrik der Naturstimmungen.

Ebenso unverkennbar ist dabei das Streben, das subjektive Gefühl unter eine höhere Ordnung zu stellen – ein Streben, welches das ihm entgegen gefetzte im Subjektiven beharrende Wesen der Romantik aufzuheben sucht. Liszt gab den meisten seiner Kompositionen Überschriften oder ein Gedanken und Stimmung andeutendes Motto – keine Programme, die auch, da sie weder Romane noch breit ausgesponnene poetische Ideen in Töne übersetzten, nicht am Platz gewesen wären. Die Überschrift ist hier das Programm. Bezüglich der Anfechtungen, welche beide damals noch erleiden mußten, schrieb Liszt das Princip vertheidigend an George Sand: »Da des Musikers Sprache mehr wie jede andere sich unbestimmten und willkürlichen Auslegungen leiht, so ist es nicht unnütz und vor allem nicht »lächerlich«, wie man zu sagen beliebt, wenn der Komponist in einigen Zeilen die geistige (psychique) Skizze seines Werkes angiebt, wenn er, ohne in kleinliche Auseinandersetzungen und ängstlich gewahrte Details zu verfallen die Idee ausspricht, welche seinen Kompositionen zur Grundlage gedient.«

Liszt's Bewegungen sind, als nächste Konsequenz seines Anschlusses an die modernen Principien, formell frei. Konnte es überhaupt, als Folge seiner ihm eingeborenen Kräfte, nicht in seiner Natur liegen nach gegebenen Gesetzen und Formeln sich zu bestimmen und seine Kompositionen im Sinne der musikalisch-architektonischen Form und Symmetrie zu entwerfen, so haben ihm jene doch die volle Berechtigung des eigenen Freiheitszuges zum Bewußtsein gebracht und ihm damit die vernünftige Erklärung und Sanktion gegeben. Seine Kompositionen sind im Besitz dieses Rechtes empfunden und gedacht. Sie sind der freie dichterische[390] Erguß eines durch die Natur innerlichst bewegten Geistes, dessen psychologischer Fluß den Fluß der Form ohne architektonische Rücksichten bestimmt hat. Letzterer fließt aus jenem heraus und gestaltet nach den Vorgängen des inneren Lebens und Erlebens, wobei zweifellos das tiefe Zusammenfühlen mit der Natur ihm den Sinn für die innere Gesetzmäßigkeit des Schaffens – das formtreibende Element – ebenso erregte wie entwickelte und ihm über die Unarten hinweghalf, welche damals noch diesem neu auftretenden Princip in romantisch-krankhafter Auswüchsigkeit und Willkür anhafteten. Liszt's Poesien bewegen sich nach Seite der Idee und der Stimmung aus gesundem Boden: die Form mußte darum auch gesund sein. Etwas anderes ist ihre Entwickelung zur Vollendung. Der gesunde Boden bedingt nicht, daß letztere schon erreicht sei: sie kann noch im Werden liegen – doch setzt jede vollendete Frucht einen gesunden Boden voraus. Das innige Zusammenfühlen mit der Natur ist der gesunde Boden für den Lyriker, zugleich eine Vorbedingung zur psychologischen Wahrheit des Inhalts und der Form. Die tiefe Bedeutung, welche für das künstlerische Schaffen überhaupt in demselben liegt, konnte Liszt selbstverständlich damals noch nicht ermessen, aber eine Ahnung derselben tauchte in ihm auf. Es klingt wie unter Schleiern hervor, wenn er zu George Sand sagt, daß »insbesondere der Musiker, welcher sich an der Natur begeistert, ohne sie zu kopiren, in Tönen die zartesten Geheimnisse seiner Bestimmung aushauche, daß er durch sie denke, fühle, spreche«.

Liszt hat mit den Kompositionen seines Schweizer-Albums noch nicht durchweg die Vollendung der Form erreicht: sie zeigen sich im Gegentheil noch formsuchend. Frei von klassischen Doktrinen, dringt jedoch überall ein feines Formgefühl hindurch, welches ebenso das Gleichgewicht der Harmonien wie der melodischen Linie fühlbar sein läßt. Und obwohl der häufige und oft unvermittelte Wechsel der Figuren und der Begleitungsformen, ein hie und da barockes Element, auch manches Fragmentarische auf innere Unfertigkeit hinweisen, so ist dabei das tiefinnere Streben nach formeller Gesetzmäßigkeit stets sichtbar. Im Vergleich zu Früherem ist hier alles geregelter, einheitlicher und überraschend vielseitig, manches, wie das kleine Tongedicht: »Au lac de Wallenstadt« vollendet.

Es bleibt hier noch mit einigen Worten des harmonischen[391] Theils dieser Kompositionen zu gedenken. Harmonien sind Ausdrucksmittel des Gefühls. Je mehr die Gefühle entschieden in ihrer Art sind, je eigenartiger diese Art ist, je vielseitiger sie sich entwickelt, um so ausgeprägter, um so neuer und um so reicher werden die Harmonien des schöpferischen Genius sich zeigen und in innigster Einheit mit jenen stehen: sie werden zu Mitteln seiner Offenbarungen. Die vorzugsweise hervortretenden drei Eigenschaften der musikalischen Gefühlsäußerungen Liszt's – das Zartgeistige, das Titanischdämonische, das Religiöse –, drei verschiedenen Sphären angehörend haben neue harmonische Gebiete von überraschender Geistigkeit, von erschütternder Kraft und reinster Idealität erschlossen. Ein Reichthum neuer Verbindungen und neuer Wendungen tritt in den Schweizerkompositionen auf, so daß er allein schon, abgesehen von seiner kompositorischen und inhaltlichen Bedeutung, auf eine seltene schöpferische Kraft hinweist. Denselben zu analysiren muß jedoch dem nur musikalischen Theil dieses Werkes vorbehalten bleiben. Hier genügt es seine ideellen Quellen gezeigt und auf ihn als auf die Offenbarungsmittel dieser. Quellen hingedeutet zu haben.

In Liszt's musikalischer Biographie ist somit nach den verschiedensten Richtungen hin das Schweizeralbum der erste Markstein des begonnenen Klärungsprocesses, andererseits der vielversprechende Vorläufer eigenartigster Kunstschöpfungen. –

In späteren Jahren – in der Weimar-Epoche – hat Liszt das Album umgearbeitet und Unfertiges und Unbedeutendes beseitigt, wobei sich jedoch auch ereignete, was bei späterer kritischer Durchsicht und Verbesserung von Jugendarbeiten so oft der Fall ist, daß mancher charakteristische Zug des Originals verwischt oder auch gar vertilgt wurde. Das Tell-Stück und die Genf-Glocken der ersten Ausgabe haben zum Beispiel Partien, welche zweifellos ausgeprägter in der poetischen Charakteristik sind als in der späteren Version, doch ist letztere formell und nach Seite der Wirkung dem Original vorzuziehen. – Viele Nummern hat Liszt bei der neuen Ausgabe ganz kassirt. Die revidirten und umgearbeiteten gab er sodann unter dem neuen Titel: »Pélerinage en Suisse« heraus – Meisterschöpfungen in jeder Beziehung.

Um den Überblick über die Nummern beider Editionen zu erleichtern, stellen wir hier die des alten und die des neuen Albums[392] tabellarisch nebeneinander, wobei der Strich das Zeichen für die Nummer ist, welche das letztere nicht enthält:


Album d'un Pèlerinage en5

Voyageur. Suisse.

(Drei Bände.) (Ein Band.)


I. Impressions et Poësies.


1) Lyon.

2) Au lac de Wallenstadt.No. 2.

Au bord d'une Source.No. 4.

3) Les cloches de G.No. 9.

4) Vallée d'Obermann.No. 6.

5) La Chapelle de Guillaume Tell.No. 1.

6) Psaume.


II. Fleurs mél. des Alpes.


1) Allegro.

2) Lento.No. 8.

Le mal du pays.

3) Pastorale.No. 3. Pastorale.

4) Andante con sentimento.

5) Andante molto espressivo.

6) Allegro moderato.

7) Allegretto.

8) Allegretto (d'après Hubert).

9) Andantino etc. etc.


III. Paraphrases.


1) Improvisato (Ranz des vaches).

2) Nocturne (Chant du Montagnard).

3) Allegro FinaleNo. 7. Églogue.

(Ranz des chêvres).


Bei der neuen Bearbeitung und Zusammenstellung dieser Kompositionen hat Liszt, nur allein die künstlerische Wage haltend, die »Paraphrases« gänzlich weggelassen. So interessant und bedeutend sie als Material zur Darlegung seiner individuellen Entwickelung[393] als Künstler sind, so trugen sie doch zu tief die Spuren des Unfertigen, um ein volles Gewicht als Kunstwerk an sich beanspruchen zu können. In letzterer Zeit jedoch sind sie mit manchen interessanten Umarbeitungen des Komponisten wieder im Druck erschienen, allein ohne die früheren Spuren des noch Unausgegorenen ganz überwinden zu können. Mit dieser Umarbeitung zu einer neuen Auflage – Leipzig, C.F. Kahnt6 1877 – hat Liszt jedenfalls nur dem Wunsch der Verlagshandlung nachgegeben – Koncessionen, die sich nicht immer billigen und nicht immer zurückweisen lassen. Die neue Auflage der drei Stücke trägt ihren ursprünglichen Titel:»Trois Airs Suisses«.

Bezüglich der Dedikationen, welche die Stücke der Haslinger-Ausgabe tragen, zeigt sich ebenfalls eine Veränderung. Die Schott-Ausgabe hat gar keine. Die Mottos hingegen, meistens Sentenzen aus »Child Harold« von Lord Byron und dem »Vallée d'Obermann« von de Sénancourt, sind geblieben. Nur die zu »Les cloches de Genève« sind weggelassen. Die früheren Widmungen geben einen nicht uninteressanten Beitrag zu seinen persönlichen Beziehungen und folgen darum hier.


Von den »Impressions et Poësies« ist:


»Lyon«gewidmetà Mr. de

L(amennais).

»Au lac de Wallenstadt«gewidmet–

»Au bord d'unegewidmetà Ferd. Denis.

Source«

»Les cloches de G.«gewidmetà Blandine.

»Vallée d'Obermann«gewidmetà Mr. de

Sénancourt.

»La Chapelle degewidmetà Victor

G. Tell«Schölcher.


Von den »Fleurs mélodiques des Alpes« tragen nur drei Nummern Widmungen, alle drei:

No. 1, 4, 7 sind gewidmet à Mad. H. Reiset.

Die »Paraphrases« dagegen tragen wieder sämmtlich Dedikationen.


»Improvisato«ist gewidmetà Mad. A. Pictet.

»Nocturne«ist gewidmetà Mad. la Comtesse

Marie Potocka.

»Allegro et Finale«ist gewidmetà Mr. le Comte

Theobald Walsh.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880, S. 377-394.
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