4. Zusammenfassung und Urteil.

[36] Nach allem, was im vorhergehenden über die Quellen der kosmogonischen Überlieferungen Europas und Asiens gesagt wurde, ergibt sich, daß der Kern der dualistischen Schöpfungssage im iranischen Gebiet entstanden und unter indischen und gnostischen Einflüssen entwickelt worden ist. Als sicher darf man annehmen, daß die Paulicianer die Sage von Armenien nach Bulgarien brachten, wo sie – wie noch im einzelnen zu zeigen ist – bogomilisch wurde. Als Hypothese, die noch durch die Ergebnisse einer ausführlichen Sagenkritik gefestigt werden muß, stellt sich heraus, daß eine Ursage von Transkaukasien her über den Kaukasus westwärts zu den Slawen und aus dieser Richtung vielleicht nochmals zu den Bulgaren gelangte. Es wird sich im weiteren zeigen, daß sie auch nach Nordasien bis in dessen äußersten Osten und hinüber nach Nordamerika gewandert ist.

Das Ausbreitungsgebiet wird einen ununterbrochenen Zusammenhang erkennen lassen. Als Träger der Überlieferung könnten zwar in erster Linie, da es sich um eine religiöse Sage handelt, irgend welche Sekten in Frage kommen. Außer den Paulicianern ist indessen keine mit Sicherheit nachzuweisen. Das ungeheure Gebiet in Asien und Europa, in dem die Sage sich findet, führt auf die Vermutung, daß es mit dem ebenso ungeheuren Gebiet der mittelalterlichen Mongolenherrschaft identisch sei, wiewohl es hie und da über dessen Grenzen hinausragt. Man beachte dabei, daß es ein iranisches Reich unter mongolischer Dynastie gegeben hat (Helmolts Weltgeschichte III, 367) und daß die Mongolenzeit für Rußland keineswegs eine kurze, blutige Zwischenzeit bedeutet, wie für die meisten andern Westländer; »hier scheint vielmehr das Nomadentum der Steppe zeitweilig mit dem einheimischen Volkstume so verwachsen, daß[36] bis heute unverwischbare Spuren dieses Verhältnisses in der russischen Volksseele zurückgeblieben sind.« (Heinrich Schurtz, ebda. II, 177.) Es gibt indes noch eine dritte Möglichkeit. Ein Kenner wie Radloff hat im Gegensatz zu den Märchenforschern, welche die Mongolen als hauptsächliche Vermittler östlicher Stoffe ansehen, die Tatsache hervorgehoben, daß diejenigen Gegenden, in welche deren Fremdherrschaft so gut wie gar nicht gedrungen ist, oft das dem Osten Zunächststehende bieten. »Es hat glücklicherweise,« fährt er fort, »noch andere Wege als die der Eroberung und Gewaltherrschaft gegeben, um die fröhlichen Schöpfungen morgenländischer Phantasie dem Westen zuzuführen. Wir meinen die Handelswege.« (Proben der Volkslit. I, S. XV.)

Bei dem hohen Alter der iranischen und indischen Sagen-Grundlage ist es sicherlich nicht zu kühn, auf Handelsbeziehungen hinzuweisen, die schon zur Zeit des Darius und vor ihm den Westen und Osten verbunden haben. Drei Straßen waren es vor allem, auf denen der Warenverkehr sich bewegte.1


1. Die indisch-pontische Straße führte von Indien durch das Kabultal und über die Hindukusch-Pässe nach Baktra und weiter durch Hyrkanien zum Kaspischen Meer. Wenn die Waren übergesetzt waren, gelangten sie durch Transkaukasien zum Schwarzen Meer, wo die Kolcher den Vertrieb zu den Nachbarstämmen und zu den Griechen übernahmen.

2. Nach Kolchis führte auch eine südliche Straße, die von Persien durch Medien über Egbatana nordwärts ging.

3. Die zentralasiatische Handelsstraße ging vom Norden des Schwarzen Meeres – von den Wohnsitzen eines iranischen Stammes, der Skoloten! – über den Don, durchzog die Steppe der ebenfalls iranischen Sauromaten und kam nordwärts zu dem finnischen Volke der Permier, überschritt die Wolga und weiterhin den Ural, gelangte in östlicher Richtung zum Altai und drang zwischen diesem und dem Tianschan-Gebirge durch die dsungarische Pforte in das zentralasiatische Hochland ein. Dort im Tarymbecken öffnete sich die Straße nach China. Die rohen Stämme Rußlands und Sibiriens, Finnen, Türken und Mongolen wurden auf diese Weise berührt. Wie nachhaltig gerade iranischer Einfluß auf dieser weit ausgedehnten Handelsstrecke gewirkt haben muß, geht schon daraus hervor, daß einem am Tarymbecken ansässigen Volke von iranischen Kaufleuten der iranische Name Issedonen gegeben wurde. (Schurtz, ebda. S. 142.)


Wenn wir die Wanderung unserer Schöpfungssage im folgenden überblicken werden, so wird sich ergeben, daß diese den zentralasiatischen Handelsweg sehr wohl benutzt haben kann. Gleichzeitig mag mongolischer[37] Einfluß auf Nordasien oder Rassenmischung an der weiteren Verbreitung geholfen haben. Was den westlichen Weg von Transkaukasien her betrifft, so ist bekannt, daß teils iranische Stämme am Kaukasus wohnten und Zoroasters Religion dort herrschte, teils iranische Kolonien in verschiedenen Gegenden Südrußlands angesiedelt waren. Sogar im Kiewer Gouvernement gibt es, wie ich bei Dragomanov ersehe, ein Dorf Ossoti (Dorf der iranischen Osseten), wo eine Statue gefunden worden ist, wie man sie in Gräbern der Osseten antrifft (jetzt im Museum der Universität Kiew). Endlich sei noch auf einen letzten Faktor hingewiesen, der an der Verbreitung der Stoffe Anteil gehabt haben kann, wenn er auch niemals allein in Betracht kommen würde: die nomadisierenden Stämme. Vsevolod Miller hat über kaukasisch-russische Parallelen in epischen Stoffen folgendes festgestellt: Es sind dieselben Sujets in einer gewissen Periode sowohl in die kaukasischen Berge wie in die südrussischen Steppen gebracht worden, und zwar durch die in den nordkaukasischen und südrussischen Steppen nomadisierenden türkischen Stämme. Sie waren das Bindeglied zwischen den beiden Gebieten.2

Indem wir nunmehr die Verbreitung der Schöpfungssagen ins Auge fassen, beginnen wir mit der bogomilischen Sagengruppe, durchqueren alsdann das gewaltige Mittelgebiet der Russen und ural-altaischen Völker und enden bei den Jakuten, von wo uns der Weg nach Nordamerika führt.

Fußnoten

1 Nach Eduard Meyer, Geschichte des Altertums III, 103 f.


2 Etnografičeskoje Obozrênie X, 166–189, XI, 1–20. Derselbe Gelehrte handelt ebendort II, 1–36 über Reflexe der iranischen Sagen am Kaukasus und V, 110–129 über den Einfluß anderer orientalischer Sagen auf das russische Epos. Alle drei Abhandlungen sind mir nicht zugänglich, doch wird jedenfalls die iranische Einwirkung auf den Westen in dem zweiten Aufsatz bestätigt.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 38.
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