B. Die Sage vom Tiberiasmeer.

[44] In Nord- und Ostrußland ist eine Volkssage kosmogonischen Inhalts und apokryphen Charakters verbreitet, die unter dem Titel »Rolle göttlicher Bücher« (Svitok božestvennych knig) schon in Handschriften des 15. und[44] 16. Jahrhunderts aufgezeichnet ist oder auch Sage vom Tiberiasmeer genannt wird.1

Von der Schöpfung wird folgendes berichtet:2


Als es weder Himmel noch Erde gab, existierte einzig und allein das Tiberiasmeer, und es war uferlos. Der Herr stieg durch die Luft an das Tiberiasmeer und sah am Meer einen Wasservogel (Quackente) schwimmen, und das war Sataniel. Der Herr sagte zu ihm, als ob er ihn nicht kannte: »Wer bist du?« Sataniel meldete sich: »Ich bin Gott.« – »Und wie nennst du mich?« Sataniel antwortete: »Du bist Gott der Götter und Herr der Herren.« Hätte Sataniel nicht so zu Gott gesprochen, so würde ihn Gott dort am Tiberiasmeer zugrunde gerichtet haben. Und der Herr sprach: »Sataniel, tauche ins Meer und bringe mir Erde und Feuerstein.« Sataniel gehorchte, tauchte ins Meer und brachte Erde und Feuerstein. Der Herr nahm Erde und Sand, streute es über das Tiberiasmeer und sprach: »Es werde auf dem Meere die Erde, dick und breit.« Und er nahm von Sataniel den Feuerstein und brach ihn entzwei, und das in der rechten Hand befindliche Stück behielt der Herr bei sich, das in der Linken gab er Sataniel. Und der Herr nahm einen Stab und fing an, auf den Stein zu schlagen, und er sprach: »Es sol len aus diesem Stein Engel und Erzengel in meiner Gestalt und nach meinem Ebenbild, körperlos, herausfliegen.« Und sogleich begannen die Kräfte des Feuers herauszufliegen, und der Herr schuf Engel und Erzengel und alle neun Rangordnungen. Und als Sataniel sah, was der Herr getan, fing auch er an auf den Stein zu schlagen, den ihm Gott aus der linken Hand gereicht hatte, und auch bei Sataniel begannen seine, Sataniels, Engel herauszufliegen, und er schuf sich eine große Schar. Und der Herr machte Sataniel zum Obersten über alle Rangordnungen der Engel, und der Herr erschien bei der neunten Rangordnung (?).3 Als Sataniel Gott von allen Engeln gepriesen sah, wollte er Gott gleich sein und faßte in seinem Hochmut den Gedanken: Ich will meinen Thron auf den Wolken errichten und werde dem allerhöchsten gleichen. Da Gott seinen bösen Hintergedanken erkannte, wollte er ihn samt seiner ganzen bösen Schar auf die Erde stürzen, und er ließ Michael gegen Sataniel los. Michael kam, aber das Feuer Sataniels sengte ihn. Und er kehrte zum Herrn zurück. »Sieh, ich tat, was du mir befohlen hast, aber das Feuer Sataniels sengte mich.« Der Herr machte Michael zum Mönch (d.h. machte ihm die Tonsur)4 und gab ihm den Namen Michael, Sataniel aber nannte er Satan. Und der Herr schickte (abermals) seinen Engel Michael und befahl ihm, Sataniel mit dem Szepter zu schlagen und ihn samt seiner[45] bösen Schar auf die Erde zu stürzen. Sataniel wurde das »el« weggenommen und dem Michael gegeben, und von da an hieß dieser Erzengel Michael, Sataniel aber Satan. Und der Herr schickte Michael gegen Satan, und Satan wollte noch immer nicht Michael bis zu seinem Thron herantreten lassen, und er war mißmutig (?). Da kam Erzengel Michael und schlug ihn mit dem Szepter und warf ihn auf die Erde samt sei ner ganzen Schar, und seine Scharen fielen drei Tage und drei Nächte, wie die Tropfen des Regens, herab. Am dritten Tage ward eine Versammlung der Engel, und der Herr setzte den Erzengel Michael über alle Engelscharen, und die Engel sagten (?)5 und der Himmel wurde geschlossen (?). Wo jemanden das Feuer erwischte (?), manche in Bergen, manche in Abgründen, andere durch die Luft fliegend, manche schwimmend, wo es einen erwischte, da weilt er noch bis auf den heutigen Tag.

Bei Porfyriev heißt es so: Und Gott sprach zu dem Taucher (= Vogel): Wer bist du? – Ich bin Gott. – Und wer bin ich? – Du bist der Gott der Götter. Und Gott sagte: Woher bist du? Da sagte ihm der Vogel: ich bin von den Unteren. – Und ich, woher? – Von den Oberen. – Und Gott sagte: Gib mir vom Unteren. Taucht der Vogel ins Meer und bringt Schaum wie Schlamm und bringt ihn Gott. Gott nahm den Schaum in die Faust und streute ihn hierhin und dorthin, und es wurde Erde, und Gott befahl den Flüssen und Quellen zu entspringen, und Gott nannte den Vogel Satanael: Sei du mir ein Fürst der Himmelskräfte und über allen Mächten.

Bei Pypin-Spasović, ebenso bei Afanasiev, poet. vozzr. II, 462 f., der im wesentlichen mit Barsov übereinstimmt, wird das uferlose Tiberiasmeer erst von Gott am Anfang der Dinge geschaffen. So heißt es bei Pypin, S. 108:

Und der Herr sprach: es sollen werden eherne und steinerne Säulen der Finsternis, und auf dem Steine die Erde, und es entstand am untern Grunde Sand, und auf dem Grunde schuf Gott mit seinem Worte Steine und Kiesel... und auf dieser Erde (diesem Boden?) das Meer von Tiberias, und Ufer hatte es nicht.

Im übrigen finden wir alles ebenso wieder: den Teufel als Ente (gogol) – »sie hatte sich im Meeresschlamm verwickelt« ist nicht unwichtig – die charakteristische Bemerkung: wenn Satan nicht so gesagt hätte, so hätte ihn Gott gleich auf dem Meere von Tiberias vernichtet, das gehorsame Untertauchen Satanaels, das Herauf bringen von Sand und Kiesel, das Ausstreuen auf dem Tiberiasmeer mit den schöpferischen Worten, das Entzweibrechen eines Kiesels, die Entstehung beider Engelscharen, Satanael und Michael im Kampf.

Eben solche Übereinstimmungen zeigt eine Abschrift Buslaevs (Pypin, S. 109), wo es heißt, daß aus dem Steine, den Satan aus dem Meeresgrunde holte, »reine Geister« durch Gottes Schläge und eine zahllose Schar »fleischlicher (unreiner) Geister« hervorgerufen wurden.[46]


Varianten.


I. Der Teufel taucht vergeblich, beim dritten Male sagt Gott, er werde auf dem Grunde ein Heiligenbild auf einem Stein erblicken: die Jungfrau mit dem Kinde. »Laß dich von dem Kindlein segnen und nimm dann den Sand.« Der Teufel tat es und brachte den Sand herauf, woraus dann die Erde in bekannter Weise geschaffen wird. Nachdem Gott sich entfernt hatte, nahm der Teufel einen Hammer in die Rechte, schlug damit an einen Stein und schuf Engel, so lange bis der Arm müde wurde. Als er dann mit der linken Hand schlug, kamen Teufel her aus. Er schlug fort, bis beide Parteien etwa gleich stark waren. Als Gott zurückkam, blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Amen zu sprechen, und das Erscheinen der unreinen Geister hörte auf, es sprang nur Feuer heraus, wie es noch jetzt geschieht, wenn man mit Eisen auf Stein schlägt. Darauf wurde der Teufel hochmütig, wollte die Welt mit Gott teilen und rühmte sich seiner Kraft. Ein Wettstreit begann, Gott baute sich den Himmel, der Teufel baute sich einen noch höheren, usf. bis sieben Himmel da waren, aber der Teufel stieg immer höher. Erst als Gott Amen sprach, ward ein Ende, Gott befahl nun Michael, den Teufel mitsamt seinen Himmeln und seiner. Heeresmacht auf die Erde zu schleudern. Michael ging, aber der Teufel lieft ihn nur auf eine Werst heran.

Da schickte Gott Michael zum zweiten Male, aber der Teufel jagte ihn noch weiter weg; zum dritten Male geschah dasselbe, und Michael sprach: Er wird mich versengen. Gott aber sagte zu ihm: Geh zum Schwarzen Meer hinunter, da wirst du am Ufer ein Heiligenbild sehen, die Jungfrau mit einem Kindlein. Laß dich von dem Kleinen segnen und geh dann auf den Teufel los. Der Erzengel tat es und stieß den Teufel, seine Himmel und seine ganze Macht hinunter. Die teuflische Macht fiel wie feiner Regen 6 Wochen lang nieder, und viele fielen auf die Erde, noch mehr blieben in den Lüften [vgl. die Geschichte im Svitok nach Handschrift von Gregorović: Michael schlägt den Teufel mit dem Stab, und da Feuer von diesem ausgeht, kehrt er zu Gott zurück. Als Gott ihn zum Mönch geschoren und ihm das Priestergewand mit dem Kreuz angelegt hat, stürzt Michael ihn und das teuflische Heer in die Hölle. Drei Tage und drei Nächte fiel er, wie Regen gingen die teuflischen Mächte nieder. Gott sprach dreimal Amen, und der Himmel wurde geschlossen. Die noch in der Luft hängenden Teufel fallen als Funken auf die Erde].


  • Literatur: Russisch: Veselovskij, 68 = Trudy Etnograf. Otd. Imp. Obšč. estestvoznanija kn. III, 1, 87. Čtenija 1886, IV, S. 1–2.

II. Derselbe Typus: die schwarze und weiße Ente auf dem kosmischen Meer, Satan holt die Erde, aus der Gott die ebene Erde schafft, der Teufel die Berge; aus dem Stein werden die himmlischen Heerscharen und die Teufel geklopft; es entsteht Krieg: Satan, der anfänglich siegt, wird von Michael gestürzt. Wo das Teufelsheer hinfällt, entstehen Wasser-, Wald-, Hof-, Scheunengeister usw.


  • Literatur: Russisch: Veselovskij 68 = Djenj 1862, 52; Ribnikov IV, 219–20.

III. Der Herr sagt zu Satanael: Mein liebster Geist, laß dich ins Wasser hinunter und nimm vom Boden eine Handvoll Erde. Zweimal taucht er, indem er einen starken Sturm erzeugte, aber das Wasser spülte die Erde weg. Gott sagte; Mein lieber Geist, komm zu mir und bitte mich in Demut um meinen Segen[47] zu dem großen Werke. Darauf holte Satan Erde. Gott säte sie. Der Himmel bläute sich. Die Sonne strahlte, und die Sterne funkelten usw. Gott freute sich, daß die himmlischen Heerscharen ihn lobten. Der Teufel sprach: Mich müßt ihr loben und meine Mühen. Dreimal rief ihn Gott, daß er sich vor ihm neige. Schließlich sprach er: »Hebe dich weg von mir, stolzer Satan.« Mit ihm ging ein großer Teil der himmlischen Mächte. Wo Satanael mit den Flügeln rauschte, da bildeten sich Schluchten, wo er Wasser ließ, Flüsse und Bäche, wo er mit dem Fuße stampfte, entstanden Berge; wo er atmete, kam Feuer aus der Erde. Gott schickte gegen Satan Michael, den er Michael archistrategos nannte, den Heerführer der himmlischen Mächte, gab ihm eine feurige Lanze, ein geschmiedetes Schwert, eine geschmiedete Brünne, einen geistlichen Helm mit Pfaufedern und segnete ihn mit der Rechten. Es folgt ein furchtbarer Kampf. Michael siegt und wirft den Feind unter die Erde.


  • Literatur: Russisch: Veselovskij 71 = Trudy Etnografičeskago otd. Imp. Obšč. estestv. kniga ES: Sbornik svêdjanij dla izučenija sbita krestjanskago naselenija Rossij I (Moskva 1889). Iz russkoi narodnoi kosmogonji 120–121.

IV. Der Herr begann die Welt zu schaffen. Wo soll nun das Volk leben? Da ließ er das Meer auseinanderfließen und wollte die Erde schaffen. Der schlaue Teufel kam herbei und sagte: Du schaffst alles, die Welt und das Weltmeer, laß mich wenigstens die Erde schaffen. Säe, sagte Gott, aber der Teufel säte ohne Erfolg. Er mußte dreimal tauchen und brachte schließlich ein Sandkorn herauf. Gott säte darauf die Erde mit Gräsern, Bäumen und anderen Herrlichkeiten. Der Listige sprach da zum Herrn: Wir wollen leibliche Brüder sein. Du wirst der jüngere Bruder sein, ich der ältere. Gott lächelte in sich hinein. Der Teufel sagte: Herr, so wollen wir gleiche Brüder sein. Aber der Herr lächelte wieder. Nun Gott, so sollst du der ältere Bruder sein, und ich der jüngere. Nimm mich bei der Hand, sagte der Herr, drücke mir die Hand mit aller Kraft. Der Teufel tat es, aber er wurde von der Anstrengung müde. Gott stand dabei und schmunzelte. Da nahm der Herr den Listigen an der Hand, und er setzte sich sofort. Da machte der Herr das Zeichen des Kreuzes über ihn, und der Teufel rannte weg.


  • Literatur: Veselovskij 65 = [Jakuškin bei Buslaev, odž. I, 437.] Großrussisch. Vgl. hierzu den Glauben der Tscheremissen, daß der böse Keremet der jüngere Bruder des guten Juma sei.

V. Sagenbruchstücke mit dem Motiv des Herausklopfens der Engel und der Teufel.

a) Littauisch:


Am Anfang der Welt, als Gott die Engel schaffen wollte, hielt er Feuerstein und Stahl in Händen und schlug Funken. Soviel Funken er schlug, soviel Engel entstanden. Der Teufel tat dasselbe, aber er schuf keine lebenden; den von ihm geschaffenen Menschen nennt man deshalb den Seelenlosen, denn er hat keine Seele.


  • Literatur: Veselovskij 73, Mitteilung von Wolter.

VI. Bruchstücke, in denen statt des Hämmerns das Verspritzen von Wasser erscheint (vgl. dazu S. 18).

a) Polnisch:


Am Anfang war der Himmel, wo der ewige Gott des Lichtes herrschte. Mit ihm, aber unter ihm, saß der Fürst der Finsternis. Zuerst schuf Gott das[48] Wasser, das bis zu den himmlischen Gemächern reichte. Gott heiligte es, tauchte einen Wedel hinein und sprengte damit nach rechts und links. Rechts erschienen Engel, links Geister der Finsternis. Nach Gottes Befehl sank das Wasser. Und Gott gründete auf ihm die Erde, indem er kreuzweise zwei Riesenfische übereinanderlegte und ein Körnchen [Sand] auf ihren Rücken warf.


  • Literatur: Veselovskij 73 = Kolberg, Lud. Serya VII, cz. III, S. 3.

b) Ukrainisch:


Gott befiehlt dem Teufel, seine Finger ins Meer zu tauchen und, ohne sich umzusehen, Wasser hinter sich zu werfen. Der Teufel war ungehorsam, sah sich um und erblickte seinesgleichen. Darauf setzte er den Versuch fort und es entstand eine unsägliche Menge Teufel. Čubinsky, Trudy, I, 191.

Variante ebda. S. 143: Der heilige Petrus lehrt den Teufel – aus Dankbarkeit, daß er ihn kreuz und quer über die Erde gefahren hat – sich Helfer zu schaffen: Stehe am Sonnabend früh auf, nimm Wasser, spritze hinter dich. Sovielmal du spritzt, so viel Teufel werden entstehen. (Vgl. unten S. 60.)


c) Übertragung auf Adam in einer ebenfalls ukrainischen Fassung:


Adam war es langweilig im Paradies, und Gott dachte daran, ihm einen Gefährten zu geben. Dies ist besser als eine Frau! Er befahl also Adam, seinen kleinen Finger mit Tau zu benetzen und hinter sich wegzuspritzen. »Es wird ein Gefährte erscheinen, doch sich dich beim Schütteln nicht um.« Adam vergaß das aus irgend einem Grunde, benetzte alle seine fünf Finger mit Tau und schüttelte seine Hand hinter sich ab. Es erschienen fünf Teufel. Die fingen an, ihre Pfoten zu benetzen und hinter sich abzuschütteln. So vermehrten sie sich, bis der Himmel voll Lärmens war. Da befahl der Herr den Engeln, sie zu vertreiben.


  • Literatur: Podolisches Gouvernement, nahe den Balkanslawen.

VII. Sagen vom Sturz der Teufel:


a) Als der Erzengel Gabriel von unserem lieben Gotte den Auftrag erhielt, ihm neue Engel zuzuführen, da war er in der Wahl nicht sehr genau und machte auch solche Seelen zu Engeln, die nicht sanftmütig genug und wenig friedfertig waren. Die Folge davon war, daß die Engel sich gar oft entzweiten. Erzürnt darüber befahl Gott dem Erzengel Michael, viele der Engel in die Tiefe zu stürzen. Da kam ein Teil von ihnen unter die Erde, ein anderer auf diese, ein dritter blieb zwischen den Sternen schweben.

Wenn die Engel unter der Erde jammern und klagen, so empfinden wir das als Erdbeben. Wenn die auf der Erde weinen, so sind ihre Tränen so heiß, daß anhaltende Dürre entsteht. Wenn aber die, welche zwischen den Sternen schweben, Tränen vergießen, so sehen wir diese als Sternschnuppen auf die Erde herabfallen.


  • Literatur: H.v. Wlislocki, Märchen und Sagen der Bukowinaer und Siebenbürger Armenier, 1892, S. 51 f.

b) Der Herrgott hatte den Teufel mitsamt seinen Gesellen aus dem Himmel geworfen, einige waren unter die Dornen gefallen, und es wurden Schlangen daraus.


  • Literatur: Ztschr. f. österr. Volksk. V, 1899. S. 63. Weiteres siehe Kap. 4.

[49] c) Der Sturz des Teufels ist in einer bulgarischen Erzählung auch mit dem babylonischen Turmbau in Verbindung gebracht:

Der Teufel will es Gott gleich tun und schafft ein Paradies in der Nähe des göttlichen Paradieses. »Meister, es ist so schwer, wenn wir die Lobgesänge der Engel hören. Warum hast du das Paradies so nahe an Gottes Paradies gemacht? Suche dem abzuhelfen.« Der Teufel befahl seinen Teufeln, einen Turm zu machen, der bis in den Himmel rage. So wollten sie Gott stürzen, damit die Engel nicht mehr sängen. Und sie bauten einen Turm, aber auf Gottes Befehl neigte sich der Turm zur Seite, so daß die Teufel nicht ins himmlische Paradies gelangten. Da befahl er die Umarbeitung des Turmes. Dreimal geschah das Gleiche, beim vierten Mal ließ Gott ihn samt den Teufeln herein. Der Teufel wollte Gott mit dem Pfeil erschießen. Der Pfeil prallte aber ab und traf des Teufels Kopf. Alle Teufel wollten entlaufen. Dabei brachen sie ein Bein, und seitdem sind die Teufel einbeinig. Gott stürzte sie in den Ort der Verdammnis herunter. Das teuflische Paradies verwandelte sich in Dornen und unfruchtbare Steine, und es bildete sich ein Abgrund zwischen dem teuflischen und dem göttlichen Paradies. (Vgl. Manichäer, oben S. 25.)


  • Literatur: Sbornik za narodn. umotv. I, 3. Abt. 97 = X, 1. Abt. S. 51; Strauß, Bulgaren S. 28.
    Seit dem Sturze vom Turm gibt es Wasserteufel, Feldteufel und Teichteufel (Čubinsky I, 191).

Betrachten wir die Sage vom Tiberiasmeer im Zusammenhang mit ihren Varianten, so stellt sie sich als ein Gemisch östlicher und bulgarischer Tradition dar. Die aus dem Osten uns bekannten Motive brauchen hier nicht nochmals hervorgehoben zu werden. Den Zusammenhang mit alten bulgarischen Apokryphen und anderen kirchenslawischen Denkmälern hat Dragomanov (Sbornik X, 12 ff.) bereits übersichtlich dargestellt. Er durchmustert das unstreitig alte »Gespräch der drei Heiligen«, das auch in einer bulgarischen Rezension bekannt ist (abgedruckt in Starine VI von Novaković), ferner:

Das kirchenslawische Kniga bytija nebesi i zemli herausgeg. von A. Popov in Čtenija Mosk. Obščtv. Ist. i Dron. Rossiskich 1881, I.

Das serbische: Slovo za neboto i zemiata in Jagić Archiv I, 95.

Bulgarisch: Skazanije o bytie (Mskr. von Novaković) [nach Močulski auch in einer Handschrift von Drinov].

Vgl. Russk. Fil. Vêstnik 1887, Nr. 1, 123. S. 155.

Diese alten Denkmäler enthalten auch einige kosmogonische Vorstellungen, wie sie die Sage vom Tiberiasmeer aufweist. Sie sind entweder in demselben Geiste verfaßt, oder aber ihre Ideen sind geradezu in die Sage vom Tiberiasmeer hineingetragen. Z.B. wird im Serbischen Slovo auf die Frage: woraus die Erde geschaffen sei, geantwortet: Aus Wasserschlamm. Im Bulgarischen erfährt die Frage: Woraus erschuf Gott Himmel und Erde die Antwort: Er nahm Meerschlamm, ließ ihn fest werden und schuf Himmel und Erde. Nach einer russischen Version des Gesprächs der drei Heiligen befahl Gott (also doch wohl dem Satanael?), Meerschlamm herbeizuholen und Erde zu erschaffen.

Porfiriev, apokr. skaz. o novozav. licach i sobytiach 385.

Von hier aus ist es indessen noch sehr weit bis zur Entwicklung einer anschaulichen Legende. Da sich nun die Erzählung vom Tiberiasmeer[50] bisher nur in Nordrußland fand und in verhältnismäßig recht jungen Handschriften, so meint Dragomanov, daß sie nicht vor dem 16. Jahrhundert und zwar großrussisch aufgezeichnet wurde, daß aber auch eine mündli che Überlieferung existierte, aus der z.B. die Erzählung vom Vogel Satanael stammte, denn gerade diese ist bei den russischen Slawen weit verbreitet. Wir fügen den Hinweis hinzu, daß die Varianten vom Entstehen der Teufel durch Wasserspritzen eine ältere Fassung darstellen, als das Herausklopfen der Geister (vgl. oben, S. 18, weitere Parallelen siehe unten). Wenn also diese Fassung als lebendige Volkssage sich findet, so beweist das jene mündliche Überlieferung, die Dragomanov nur voraussetzt. Die schriftlich aufgezeichnete Sage beruht auf weniger reinen Quellen als die mündliche. Woher diese Tiberiasmeersage nach Rußland kam, oder ob und wie sie dort entstanden ist, darauf gibt Dragomanov keine bestimmte Antwort. Sie konnte dorthin kommen, sagt er, »entweder aus Süden von den Bulgaren oder von Kleinasien über das Schwarze Meer oder vom Kaukasus oder auch von Osten her von den turanischen Völkern.« Gleichwohl können wir die Frage des Ursprungs, wenn auch nicht die der Wanderungsstraße beantworten. Es handelt sich um die erste Begegnung zwischen Gott und dem Teufel. Über das gewaltige Urmeer erklingt die gespannte Frage: Wer bist du (der Zusatz: Wiewohl er es wußte, habe Gott gefragt, ist ganz jungen Datums), diese Frage richtet ein Vogel an den andern. Hatten nicht die Jesiden etwas völlig Entsprechendes? Und wenn auch der Teufel klug mit der Anerkennung des Herrn der Herren antwortet, so zeigt die Bemerkung, daß er ohne diese Klugheit vernichtet worden wäre, eine Erinnerung an jenen Gott-Vogel der Jesiden, der den stolzen Gabriel, welcher ihm die Anerkennung weigerte, zu der endlich doch abgegebenen Erklärung zwang: Du bist Gott. Sehen wir noch weiter zurück in die Vorgeschichte unserer Sage: auch bei den Zervaniten fragte ein Gott den andern: »Wer bist du,« und jener andere war das verkörperte Prinzip des Bösen. Die zahlreichen Übereinstimmungen mit ural-altaischen Volkssagen, die ihrerseits unmöglich mit der Sage vom Tiberiasmeer in genetischem Zusammenhang stehen können, zeigen ebenfalls auf die gemeinsame Quelle hin, aus der wir bei den Jesiden und den Mandäern die relativ ähnlichsten Ausflüsse kennen gelernt haben.

Andererseits ist das Untertauchen des Vogels, das bei den Russen und weiter östlich und nordöstlich, wie wir sehen werden, eine große Rolle spielt, bei den Bulgaren so gut wie gänzlich unbekannt, es wird ein einziges Mal nebensächlich erwähnt. Konnte, um einen von Dragomanov an anderer Stelle gebrauchten Ausdruck zu wiederholen: »die bulgarische Armut den russischen Reichtum gebären«?

Fußnoten

1 Die vollständigste Rezension dieses Denkmals steht bei Močulski, Istorikoliteraturnij analis sticha O golubinoj knig, Varšava 1887, eine neue Variante bei Veselovskij V, Kap. 11, S. 41–49 (dort auch die vollständige Bibliographie). Ins Deutsche übersetzt steht eine Fassung, die sich als Variante eines Manuskripts aus dem 18. Jhdt. darstellt (»Mskr. von Gregorović«), bei Pypin-Spasovič, Gesch. d. slaw. Lit. I, S. 108; eine andere, ein Text des 16. Jhdts., den E. Barsov (in den Moskauer Čtenija v. Imper. obšč. Istor. i drevnost. 1886, II) veröffentlicht hat, bei V. Jagić, Slav. Beiträge zu den bibl. Apokryphen, S. 44.


2 Barsovs Version bei Jagić, S. 44.


3 Bei Pypin-Spas., S. 109: Darauf machte Gott Satanael zum Oberhaupt aller Ordnungen seiner Engel, und die Schar Satanaels – dessen Schöpfung – zählte er als zehnte hinzu.


4 Variante bei Pypin: Mönchskleid mit einfachem Kreuz Christi.


5 Pypin: Michael ward nun zum Oberhaupt aller Ordnungen der Engel eingesetzt, und die Erzengel sagten: Amen. Dieses Wort traf den einen von der Schar des Teufels in den Bergen, den andern auf den Flüssen, den dritten, während er in der Luft flog, und es verwickelte sich hier einer mit dem Beine, dort einer mit der Hand in einer Wolke, und so verharren sie bis auf den heutigen Tag.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 51.
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