14. Lokalsagen.

[292] So bliebe denn nur noch übrig, auf ein paar kleinasiatische Lokalsagen hinzuweisen.1


[292] 1. Nach der Sündflut stieß sich Noahs Arche am Gipfel des Berges Argäus. Ärgerlich verwünschte Noah den Berg und sprach: Mögen Winter und Sturm niemals deinen Gipfel verlassen. Darum ist der Gipfel des Argäus immer stürmisch und von ewigem Schnee bedeckt.

2. Man ist überzeugt, daß die Überreste von Noahs Arche sich auf dem Gipfel des Argäus befinden. Der Gipfel ist beinahe unersteigbar, nur die Hirten finden hinauf. Mehr als ein Turkomane versichert, die Reste der Arche in der Grotte, die sich auf dem Gipfel befindet, gesehen zu haben.

3. Diese Höhle hätte Noah als Hafen gedient. Man sähe noch, versichert man, den Ring, an dem der gerechte Mann sein Schiff befestigt habe.

Carnoy-Nicolaides, Trad. de l'Asie mineure p. 223 f.

4. Man zeigt auf dem Gipfel des Argäus auch das Steuer der Arche, und es wird alljährlich ein Gedenkfest gefeiert.


  • Literatur: La Tradition II, 115.

Diese Lokalsagen sind nicht bedeutungslos. Sie stützen nämlich eine an sich ansprechende Vermutung Useners, der (Sintflutsagen S. 49) zu der öfteren Anwendung des Münzstempels ΝΩΕ in dem phrygischen Apameia bemerkt: Es muß die Sintflutsage dort in der Weise lokalisiert gewesen sein, daß die Landung der Truhe an einen Berg der Stadt oder ihrer Umgebung geknüpft war. Höchstwahrscheinlich wurde die Truhe selbst oder ein Rest derselben an der Stätte gezeigt, wo sie gelandet sein sollte. Wenn nun der Argäus, der sich in der Ebene von Mazaka so stattlich emporreckt, die orientalische Phantasie zur Sagenbildung reizte, so kann ebensogut ein Berg bei Apameia mit der Noahsage in Verbindung gesetzt worden sein.

Im Anschluß daran möchte ich noch auf zwei Gräberfunde hinweisen, über die Usener (S. 248 ff.) handelt. Der eine stammt aus Vetulonia (Etrurien) und gehört dem 7. Jahrh. v. Chr. an, der andere stammt aus Sardinien und weist auf eine noch ältere Technik zurück. Es sind Bronzeschiffchen mit Tieren an Bord. Beide bezwecken, wie die Ähnlichkeit mit einem christlichen Bildwerk auf einem Trierer Sarge zeigt, eine Vorstellung von der Arche Noah zu geben und beweisen demnach, daß die semitische Überlieferung von der Sündflut schon früh in die klassische Kulturwelt eingedrungen ist. Bemerkenswert sind nun auf dem etrurischen Schiff zwei nagende Ratten, Schweine, die aus einem Futterkorb fressen,[293] und ein Igel, der zusammengerollt vor einem Hunde liegt. Unter den Tieren des sardinischen Schiffes befindet sich ebenfalls das Schwein. Der Trierer Sarkophag zeigt u.a. den Löwen und den Eber. Das alles sind Tiere, die in den Sagen vorkommen. Da es nun, wie Usener richtig bemerkt, Volkssitte gewesen sein muß, daß man den Toten eine Abbildung jenes Wunderschiffes ins Grab legte, so liegt der Gedanke nahe, daß namentlich solche Tiere abgebildet waren, an denen eine Volkssage haftete. So wird Noah ja auch häufig mit der Taube auf Grabmälern abgebildet (Usener S. 252, Anm.). Wenn diese Vermutung richtig wäre, so hätten wir ein hohes Alter der Ratten- und Schweinssage und der Sage vom Igel. Die moslemische Tradition hätte dann aus der semitischen geschöpft.

Fußnoten

1 Daß auch anderwärts die bibl. Sündflutsage zur Lokalsage geworden sein mag, zeigt z.B. eine Sage, die sich an den St. Martinsberg bei Tarnów (Galizien) knüpft: Als die Sündflut auf der Erde war und alle Bäume von unten her weggespült wurden, da tauchten diese Bäume empor und schwammen auf der Wasseroberfläche einher. Nach der Sündflut sank das Wasser herab, und die schwimmenden Stämme hielten sich am Martinsberge an. Aus diesen Stämmen erbauten sich die Frommen eine Kirche, welche bis auf heute besteht. Andere sagen, es sei einst die Biała, welche unweit im Tale fließt, aus ihren Ufern getreten und habe den Martinsberg überschwemmt. Während dieser Überschwemmung sei die Martinskirche aus unbekannten Ländern hergeschwommen. Ztschr. f.ö. Vk. VIII, S. 42. Dazu die Anm.: »Von den herbeigeschwommenen Kirchen, Kapellen, Statuen und Bildnissen gibt es bei den Polen sehr viele Sagen. Manche greifen sogar in das Heidentum zurück und beziehen sich auf die Wassergottheiten Wanda und Wid.« – Man sieht also, daß die Sündflutsage sich einfach als eine Stoff-Übertragung darstellt.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 294.
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