3. Sage vom Seidenwurm.

[329] Die Fortsetzung der Sage von der Königin von Saba berichtet, daß Salomo dem Wiedehopf einen Brief unter die Flügel bindet, in welchem die Königin zur Unterwerfung aufgefordert wird. Auf diese Botschaft kommt sie, und nachdem sie die Weisheit und Wundermacht des Königs erprobt hat, bekehrt sie sich und wird seine Frau. Auch dieser Teil der Sage ist zur Naturdeutung benutzt worden.

Bei Weil, Bibl. Leg. d. Muselmänner, S. 260 ff., wird erzählt:


[Als die Königin von Saba durch den Wiedehopf den Brief Salomos erhalten hatte, bereitete sie Geschenke für Salomo.] Sie legte dazu ein verschlossenes Schächtelchen, in welchem eine undurchlöcherte Perle und ein Diamant lag, durch den sich ein krummes Loch zog, endlich noch einen kristallnen Becher. [Dazu sandte sie 500 Jünglinge und 500 Jungfrauen, gleich an Gestalt, Wuchs und Kleidung.] »Du wirst,« so schrieb sie ihm, »als wirklicher Prophet, wohl imstande sein, die Jünglinge von den Mädchen zu unterscheiden, den Inhalt des verschlossenen Kästchens zu erraten, die Perle zu durchbohren und durch den Diamanten einen Faden zu ziehen, endlich auch den Becher mit einem Wasser zu füllen, das weder vom Himmel gefallen, noch aus der Erde gequollen.« ... Der Wiedehopf hörte dies alles mit an, denn er hielt sich immer in der Nähe der Königin, bis ihre Gesandten abreisten. Dann flog er in gerader Richtung, ohne auszuruhen, bis vor Salomos Zelt und berichtete ihm, was er gehört ... Salomo setzt die Gesandten in Staunen, indem er ihnen berichtet, was der Brief enthält ... Darauf schied er Jünglinge und Jungfrauen nach der Art, wie sie sich wuschen,1 füllte den Becher mit dem Schweiß eines Pferdes und durchbohrte die Perle mit dem Steine, dessen Kenntnis er Sachr und dem Raben (siehe unten) verdankte, nur das Einfädeln des Diamanten, dessen Öffnung alle möglichen Krümmungen machte, setzte ihn in einige Verlegenheit, bis endlich ein Satan einen Wurm brachte, welcher sich durchwand und einen seidnen Faden zurückließ. Salomo fragte den Wurm, womit er ihn für diesen[329] großen Dienst, durch den seine Propheten würde gerettet sei, belohnen könne. Der Wurm erbat sich einen schönen Fruchtbaum zur Wohnung. Salomo wies ihm den Maulbeerbaum an, der von dieser Stunde an für alle Zeiten den Seidenwürmern sicheres Obdach und Nahrung gewährt.

Nach Grünbaum, Neue Beiträge, S. 217 f., sagt Zamahśarî und kürzer Baiḍâwî, daß die Königin unter anderm 500 als Jungfrauen gekleidete Jünglinge und 500 Jungfrauen schickte und ein Kästchen, in welchem eine ungebohrte Perle sowie ein krummgebohrter Onyx war. Denn sie sagte: »Wenn er ein Prophet ist, so wird er die Jünglinge und Jungfrauen voneinander unterscheiden, die Perle durchbohren und durch den Edelstein einen Faden ziehen können.« Salomo wußte die Jünglinge und Jungfrauen auf kluge Weise zu erkennen. Um die Perle zu durchbohren, ließ er einen Holzwurm herbeibringen, der dieses ausführte, während ein weißer Wurm einen Faden, den er in den Mund genommen, durch den Onyx hindurchzog.

Tabarî erwähnt nach Grünbaum, S. 220, daß Salomo wegen der ungebohrten Perle zuerst die Menschen, dann die Dschinnen und zuletzt die Dämonen befragte, auf deren Rat er den Wurm Araa2 bringen ließ, der mit einem Faden im Munde die Perle durchbohrte und zugleich den Faden hindurchzog.

Auch Alkisâi (fol. 314 v) erwähnt die einander ähnlichen Jünglinge und Jungfrauen, die Perle und den Onyx. Die ganze Erzählung steht auch in Ta'labî's Prophetengeschichte; vgl. Socin, Arab. Gramm., S. 49 ff. (Grünbaum, ebd.).


Vergleicht man den ätiologischen Schluß der ersten Version mit den zuletzt genannten Sagen, die des Schlusses entbehren, so stellt sich der besondere Reiz der Ätiologie recht deutlich vor Augen. Er verleiht dem Ganzen ein erhöhtes Interesse. Die Geschichte einer weit entlegenen Vergangenheit rückt gleichsam in die Gegenwart, insofern noch heute die Spuren des Ereignisses vorhanden und jedermann sichtbar sind.

Fußnoten

1 Über die mannigfache Gestaltung der Sage von der Knaben- und Mädchenprobe siehe Franz Delitzsch: Über den Gobelin von Kirschkau in der Neuen Christoterpe, Jahrg. 1883.


2 Hier ist der Stein der vorhergehenden Version zum Wurm geworden. Ebenso wird der wunderbare Schamir, dessen Salomo zum Tempelbau bedurfte und der nach. Sota 48, 2 die Eigenschaft besaß, den härtesten Stein zu spalten, im Talmud als Stein, späterhin öfters als Wurm bezeichnet.

(Siehe darüber: Grünbaum Zeitschr. d. deutschen morgenl. Gesellsch. 31, S. 205. Über Schamir als Stein: Zarncke, Graltempel 38; Arch. f. slaw. Philol. 6, 52; als Wurm: Müllenhoff-Scherer, Denkm. II, 375; Diemer, Deutsche Gedichte d. 11. u. 12. Jahrhunderts, S. 44, Anm.; Wünsche, Babyl. Talmud I, 220.)


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 330.
Lizenz:
Kategorien: