2. Hiob.

Entstehung der Seidenraupen. (Aus Italien.)

[336] Die Belluneser Bauern1 glauben, daß die Seidenraupen2 aus den[336] Würmern des geduldigen Hiob entstanden seien, der, wie sie sagen, die neun Sterbelektionen verfaßt habe.

Man erzählt nämlich:


Hiob war ein heiliger Mann und beging nie eine Sünde. Einst sprach der Teufel zu dem Herrn: »Was Wunder, wenn er nicht sündigt. Er hat alles, was er will.«

Da sagte der Herr: »Wohlan, mach mit Hiob, was du willst, befiehl du!«

Da nahm der Teufel zunächst dem Hiob alles, was er besaß, und als er sah, daß er nicht klagte, schickte er ihm eine schwere Krankheit. Aber Hiob klagte nicht, bis er in dieser Krankheit voll von Gewürm war.

Eines Tages, als er in furchtbarem Zustande war, hob ihn seine Frau auf und trug ihn auf einen Düngerhaufen, und alle, die vorübergingen, lachten über Hiob. Er aber klagte noch immer nicht.

In dieser Zeit wuchs auf dem Düngerhaufen ein Baum mit schönen grünen Blättern, der dem heiligen Hiob prächtigen Schatten gab, und die Würmer Hiobs krochen in seine Krone.

Hiob betete noch immer.

Als der Herr sah, daß dieser heilige Mann noch immer keine Sünde beging, eilte er zum Teufel und sagte: »Sahst du, daß Hiob der Qualen je überdrüssig wurde? Jetzt weiche von ihm, übergib ihn mir.«

»Gut, gut, tue, was du willst,« sagte der Teufel.

Der Herr gab Hiob das doppelte von dem, was er vorher hatte, beendigte seine Krankheit, und die Würmer krochen alle auf den Baum, den Maulbeerbaum.

Die Würmer wurden in die »Cavalieri« verwandelt, das sind die Tiere, die die Seide machen, und von Seide ist das Priestergewand, ohne das nicht zelebriert werden kann.

Hiob wurde alt, reich und zufrieden.


  • Literatur: Cibele, Zoologia pop. Veneta S. 44; vgl. Rolland, Faune pop. III, 322.

Fußnoten

1 Am 19. August 1475 wurde in Belluno die Seide eingeführt und die Bestimmung gegeben, daß jeder Wiesenbesitzer jährlich Maulbeerbäume zu pflanzen habe, um mit deren Blättern die Seidenraupen zu nähren.


2 Diese Tiere gelten als von Gott gesegnet, weil sie die Seide für die Altarbekleidungen liefern.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 337.
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