Vorwort.

Der vorliegende Band, der sich die Aufgabe gestellt hat, die neutestamentlichen Sagen in weitestem Umfange zu sammeln, vergleichend darzustellen und nach Möglichkeit entwicklungsgeschichtlich zu untersuchen, ist dem ersten Bande nach Anlage und Ausführung sehr ähnlich. Zwar beschränken sich die historischen und geographischen Zusammenhänge auf engere Grenzen, da ja im wesentlichen nur die christlichen Kulturländer als Verbreitungsgebiete in Frage kommen, aber der Beweis, daß die Beschaffenheit der Natur das Sinnen und Sagen der Völker zu allen Zeiten lebhaft beschäftigt und eine große Menge poetischer Deutungen hervorgerufen hat, geht hier wie dort die gleichen Wege; ebenso wird die Frage, inwieweit stoffliche Verwandtschaft durch Wanderung von Volk zu Volk oder durch jeweilige Selbständigkeit der Erfindung zu erklären ist, nicht minder auch die vielfache Berührung der Sagengeschichte mit der Religionsgeschichte durch beide Bände in gleicher Weise beleuchtet. Eine zusammenhängende Darstellung des Wesens, Werdens und Wanderns der Sagen blieb beidemal dem Schlußband vorbehalten, als dessen Grundlage auch die folgenden Bände gedacht sind. Besondere Beachtung verdient das reiche maltesische und estnische Material, das hier zum ersten Male abgedruckt ist. Die estnischen Sagen verdanke ich Herrn Professor Kaarle Krohn in Helsingfors, durch dessen gütige Vermittlung ich sie dem handschriftlichen Nachlaß von J. Hurt entnehmen durfte; die maltesischen hat die ausgezeichnete Sammlerin Fräulein Bertha Ilg dem Volke abgelauscht und mir freundlichst überlassen.

Die nächsten zwei Bände, die ich im nächsten Jahre zu veröffentlichen gedenke, werden Tiersagen enthalten, der fünfte Band Pflanzensagen nebst einer lexikalisch nach Tieren und Pflanzen geordneten Sagenübersicht und einem Verzeichnisse der Sagenmotive. Wenn in dieser Weise eine neue, straffe Ordnung des auseinanderstrebenden Stoffes von Band I–V hergestellt und ein bequemer Durchblick ermöglicht ist, sollen die letzten Bände (insbesondere die Gestirn- und Meeressagen), sobald es irgend angeht, herausgegeben werden.


Leipzig, im Oktober 1908.


Dr. Oskar Dähnhardt.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. III3.
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