III. Der Besuch bei Elisabeth.

[7] Das Evangelium von Mariä Heimsuchung (Luk. 1, 39–56) ist von der Poesie reiner Weiblichkeit erfüllt. Maria geht über das Gebirge zu der Stadt Judas, kommt in das Haus Zacharias und grüßt Elisabeth, ihre Verwandte. Eine Heilige steht vor einer Heiligen, beide von Gott zur Mutterschaft auserkoren, beide der Quell unendlichen Segens. Und Elisabeth wird des heiligen Geistes voll: als erste unter den Menschen preist sie selig die Gebenedeiete des Herrn. Marias Seele aber erhebt die Barmherzigkeit des Höchsten, der Großes an ihr getan hat. Drei Monate verweilt sie zu Besuch, darnach kehrt sie nach Nazareth zurück.

Die Poesie jener Begegnung war für die Volkssage kein verwendbarer Stoff. Die Sage will an Handlungen anknüpfen, die sie ausschmücken, weiterbilden und schließlich auch durch neuen Inhalt ersetzen kann. Hier aber fehlte die Handlung, und so ließ sich nichts daraus machen. Zu brauchen war nur der Gang über das Gebirge. Unter den Tritten der Heiligen sprossen Blumen hervor, wie die Rose von Jericho (Meier, Sagen aus Schwaben 1, 241, Parallelen s. unten), das Marienblümchen (= Gänseblümchen) und der Liebfrauenschuh (Sepp, Symbolik 5, 8). Aber auch die Tierwelt nimmt an dieser Reise Anteil. Die Schwalben geben ihr freundlich zwitschernd das Geleite, weshalb sie noch heute der Mutter Gottes heilig sind und unter ihrem Schütze stehen. Die Nattern aber, welche sie züngelnd verfolgen und mit ihrem Basiliskenblicke durchschießen, werden geblendet und heißen nun Blindschleichen, damit sie den Menschen fürder nicht schaden (Sepp, ebd. Vgl. Menghin, Aus dem deutschen Südtirol S. 109). Daß sich die böhmische und italienische Lokalsage diesen Stoff zu eigen machten, ist freilich eine geographische Ungeheuerlichkeit, sie sind aber willkommene Zeugnisse für die sorglose Art, wie mit Überlieferungen umgegangen wird.


Zwischen dem Hausberge bei Graslitz und dem Holzhaue ist die Räumer, ein Tal, das mit großen Granitblöcken besät ist. Dort liegt auch ein Stein, auf welchem[7] der Abdruck eines Fußes sichtbar ist. Als die heilige Jungfrau übers Gebirge zu ihrer Base Elisabeth ging, soll sie hier (!) gestrauchelt sein und den Fuß in den Stein eingetreten haben. Die Fußtapfe hat deshalb auch die merkwürdige Eigenschaft, daß jeder Fuß in dieselbe paßt.


  • Literatur: Grohmann, Sagen aus Böhmen S. 306.

Am Castell buon Ladrone sieht man noch die Stelle, wo die heilige Jungfrau auf diesem ihrem Gange über das Gebirge geruht haben soll und der gute Räuber ihr manchen Dienst erwies, während die andern sie ausrauben wollten.


  • Literatur: Sepp, Symbolik 5, 8. Begegnung mit Räubern, jedoch während der Reise nach Ägypten, siehe Ev. inf. arab. cap. 13 u. 23, bei Tischendorf2 S. 186 u. 192.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 7-8.
Lizenz:
Kategorien: