G. Herkunft der Erweiterung.

[121] 25. Offenbar hat sich hier eine neue Sage eingedrängt, die in Bulgarien in folgender Form bekannt ist:


Einstmals, als Gott auf Erden wandelte, sammelte er im Walde eine Schafherde und schickte sich an, sie zu hüten, um so die Menschen zu lehren, die Schafe zu weiden. Und er hatte den Wolf als Hüter der Schafe bestellt. Aber siehe da, eines Tages, als ein Schaf nicht weiter wollte, ärgerte sich der Wolf, warf es zu Boden und biß es tot. Da erhob Gott seine Pelzhandschuhe, warf sie in der Richtung nach dem Wolf und sprach zu ihnen: »Verfolget ihn!« Da wurden die Handschuhe zu Hunden und machten sich auf, den Wolf zu verfolgen. Seitdem hüten die Hunde die Schafe, um zu verhindern, daß der Wolf sich ihnen nähert.


  • Literatur: Schischmanoff, Nr. 11 = Strausz, Die Bulgaren, S. 64.

26. Aromunische Sage.


Gott selbst weidete im Anfang die Herde, und sein Wächter war der Wolf. Dieser aber war so schlecht, daß er jedes zurückbleibende Schaf zerriß. Deshalb schuf Gott den Hund zum Wächter der Schafe und vertrieb den Wolf. Seitdem[121] fällt der Wolf die Herde an, denn die Schafe sind an seinem Schicksal schuld; die Hunde aber vertreiben ihn.


  • Literatur: Papahagi, Din liter. pop. a Aromînilor, S. 787.

In denselben Sagenkreis vom göttlichen Hirten, der offenbar sehr beliebt war, gehören noch folgende Sagen, die sich wieder als Neubildungen darstellen:


27. Aus Bulgarien.


Einst, als Gott noch auf Erden, wandelte, nahm er sich vor, die Menschen arbeiten zu lehren, damit sie sich ernähren könnten. Er schirrte also zwei Ochsen vor den Pflug und begab sich auf den Acker, um ihn zu bestellen. Er pflügte einige Zeit, aber gegen Mittag ließ er die Rinder Ruhe halten und legte sich selbst zum Schlafe nieder. Während Gott Vater schlief, kam ein Wolf und erwürgte einen Ochsen. Als der Herr aufwachte, merkte er, von wem das Unglück gekommen war, spannte den Wolf statt des Ochsen vor den Pflug und begann ihn mit den Stacheln zu bearbeiten, um ihn vorwärts zu treiben. Der andere Ochse zog den Pflug vorwärts, aber der Wolf fiel unter das Joch und grub sich mit dem Maule in die Fahrspur ein.

Da sprach Gott zu ihm: »Siehst du jetzt, daß du schwächer bist als der Ochse, da du nicht einmal den Pflug mit ihm ziehen kannst? Von jetzt ab also wird der Ochse dich mit seinen Hörnern stoßen, und du wirst vor ihm fliehen.«

Darum greift jetzt der Wolf wohl das Pferd, das Schaf, die Kuh an, aber niemals den Ochsen, und er flüchtet sich vor ihm.


  • Literatur: Schischmanoff, Nr. 18, und Strausz, S. 70.

28. Aus Sofia.


Einstmals als Gott auf Erden wandelte, schuf er eine große Schafherde und auch den Wolf und den Hund dazu, daß sie die Schafe weideten. Dem Hund befahl er, vor der Herde zu laufen, und wenn er Hunger habe, solle er das schlechteste Schaf fressen, das hinter den anderen zurückbleibe. Dem Wolfe befahl er, die Herde von hinten zu treiben, und wenn er Hunger habe, solle er ein Schaf fressen, das nicht laufen könne. Der Hund gehorchte, aber der Wolf nicht. Als er die Herde eine Zeitlang getrieben hatte, ward er hungrig, brach in die ganze Herde ein und suchte sich den besten Widder heraus. Wie nun Gott kam, um seine Herde zu besichtigen, führte er sie selbst, indem er auf seiner Hirtenflöte blies. Der Hund nahte sich ihm, um gegen den Wolf Klage zu führen, und Gott rief dem Wolf zu und fragte: »Welches Schaf wirst du dir auswählen, das vorn laufende oder das zurückbleibende? Was du dir wählst, das soll dir für alle Zukunft bestimmt sein.« »Das vorn laufende,« antwortete der Wolf. Da schlug ihn Gott mit der Flöte aufs Rückgrat und sagte zum Hunde: »Von jetzt an sollst du ihn, wo immer du ihn siehst, verfolgen.« Und den Wolf verfluchte er: »Von jetzt an soll dich der Hund nicht mehr an die Herde heranlassen. Und wenn du dich näherst, soll dir der Hirt mit seinem Stab aufs Rückgrat schlagen, daß du zu Boden fällst.« Und so ist es bis zum heutigen Tage.


  • Literatur: Sbornik umotvor. 13, 3. Abt., S. 169.

29. Aus Rumänien.


a) Als Gott noch auf Erden weilte, streifte er mit seiner Rinderherde durch die Auen. Ermüdet legte er sein Haupt auf einem Maulwurfshügel nieder und hieß die Tiere Ruhe halten, um ihn nicht zu stören. Gott schlief zunächst ganz gut,[122] bis er durch entsetzliches Gebrüll geweckt wurde. Zugleich kam auch der Heilige Sore (= Sonne) herbei und sagte, die Rinder hätten so getobt und ihm die Kleider zerrissen. Er sei gekommen, um Gott zu bitten, diese Tiere zur Strafe in Hirschkäfer zu verwandeln. Gott untersuchte die Sache, fand die Rinder schuldig und verwandelte sie in Hirschkäfer; die Ochsen mit großen Hörnern, die Kühe mit kleinen. Deshalb heißen diese Käfer »Ochsen Gottes« und »Kühe Gottes«.


  • Literatur: Marianu, Insectele 36.

b) Ebenda die Variante: Die Hirschkäfer sollten dem Heiligen Elias beim Bau des Feuerwagens helfen. Da sie nicht wollten, bekamen sie zur Strafe Zangen am Mund befestigt.


  • Literatur: Über die Heiligkeit der Hirschkäfer im heidnischen Altertum siehe Grimm, Mythologie4 152. 576.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 121-123.
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