II. Verwandlung in einen Specht.

[123] 1. Aus Norwegen. (Dort heißt der Schwarzspecht Gertrudsvogel.)


Als unser Herr Christus und Sankt Petrus noch auf Erden wandelten, kamen sie einmal zu einer Frau, die bei ihrem Backtrog stand und Teig knetete. Sie hieß Gertrud und hatte eine rote Mütze auf. Da beide den Tag über schon weit[123] gegangen und sehr hungrig waren, bat Christus die Frau um ein Stückchen Brot. Ja, das sollte er haben, sagte sie, und nahm ein Stücken Teig und knetete es aus. Aber da ward es so groß, daß es den ganzen Backtrog ausfüllte. Nein, das war allzu groß, das konnte er nicht bekommen! Sie nahm nun ein kleineres Stück, aber als sie es ausgeknetet hatte, war es ebenfalls zu groß geworden. Das konnte er auch nicht bekommen. Das dritte Mal nahm sie ein ganz, ganz kleines Stück, aber auch diesmal ward es wieder zu groß.

»Ja, so kann ich euch nichts geben,« sagte Gertrud. »Ihr müßt ohne Zehrung wieder abziehen, denn das Brot wird ja immer zu groß.« Da zürnte Christus und sprach: »Weil du ein so schlechtes Herz hast und mir nicht einmal ein Stückchen Brot gönnst, so sollst du zur Strafe dafür in einen Vogel verwandelt werden und deine Nahrung zwischen Holz und Rinde suchen, und nicht öfter sollst du zu trinken haben, als wenn es regnet.«

Und kaum hatte er die Worte gesprochen, so war sie zum Gertrudsvogel verwandelt und flog zum Schornstein hinaus. Noch jetzt sieht man sie herumfliegen mit der roten Mütze auf dem Kopf und schwarz über den ganzen Leib. Denn der Ruß im Schornstein hat sie geschwärzt. Sie hackt und pickt beständig in den Bäumen nach Essen und piept immer, wenn es regnen will. Denn sie ist beständig durstig.


  • Literatur: Asbjörnsen und Moe, Norske Folkeeventyr = Norwegische Volksm. 1, Nr. 2. Vgl. Grimm, Myth.4 2, 561; Müllenhoff, Natur im Volksmund 38.

2. Aus Schweden.


St. Peter und der Heiland trafen ein Weib mit Backen beschäftigt und wurden gebeten, Holz für sie zu spalten. Als Lohn verlangten sie einen Kuchen, die Frau wollte ihnen aber nichts geben. Der Heiland schlug sie deshalb mit der Backschaufel an den Kopf. Sie wurde ein Specht, die Schaufel ihr Schnabel; der Schornstein färbte sie rußig.


  • Literatur: Aminson, Södermanl. äldre Kulturhist. 7, 97.

3. Sage der Schweden in Estland (aus Nuckö und Worms).


Eine reiche Bauerswirtin in Worms war sehr geizig und hielt ihre Dienstleute schlecht. An einem Sonntagmorgen forderte ihr Mann sie auf, mit ihm zur Kirche zu gehen. Sie aber wollte die Zeit benutzen und unterdessen Brot backen; daher weigerte sie sich, ihn zu begleiten. Vergeblich stellte er ihr vor, wie unrecht eine solche Entweihung des heiligen Tages sei; sie blieb bei ihrem Willen und verabschiedete ihren Eheherrn mit unziemlichen Schimpfreden und Lästerworten. Sobald jener davongegangen war, fing sie an, den Ofen zu heizen, den Teig zu bereiten und hineinzuschieben. Nach einigen Stunden war das Brot gar und dampfte mit angenehmem Dufte. In demselben Augenblicke kam ein armer Mann an einer Krücke an die Tür des Hauses und bat mit kläglicher Stimme um ein Stückchen Brot. Die hartherzige Frau verweigerte es ihm und sagte: »Wir haben selbst nicht einen Bissen Brot im Hause, daher kann ich nichts gehen!« Mit diesen Worten ging sie in die Stube zurück und bedeckte das frische Brot mit ihrer Schürze, damit der Bettler ihre Lüge nicht bemerke. Dieser aber folgte ihr nach und sprach: »Duftet nicht das Brot lieblich und kräftig? Und du verbirgst es vor dem Armen, der dieser Gottesgabe entbehrt und dich um ein kleines Stücklein bittet? Aber zur Strafe für deine Entweihung des Sonntags und für deine Unbarmherzigkeit sollst du mühsam deine Nahrung gewinnen und in hohlen Bäumen deine armselige Wohnung aufschlagen!« Der Bettler war bei diesen Worten jung[124] und herrlich geworden, und mit Schrecken erkannte die Bäuerin den Herrn Jesum in ihm. Er berührte sie mit seinem Stabe, und alsbald schrumpften ihre Glieder zusammen, sie sah sich in einen Vogel verwandelt. Das schwarze Kleid wurde zu schwarzem Gefieder, die rote Mütze erkannte man wieder in einem roten Fleck auf dem Kopfe. Als Schwarzspecht flog sie in die Wälder, wo sie ihr eintöniges und klägliches Geschrei ertönen läßt und mit vieler Mühe die Würmchen aus der Rinde der Bäume heraushackt.


  • Literatur: Rußwurm, Sagen aus Hapsal 171, Nr. 184. Vgl. Eibofolke 2, 198: Der Schwarzspecht ist ein verwandeltes Weib aus der Insel Worms, das am Sonntag während des Gottesdienstes Brot buk. Das schwarze Kleid wurde zu schwarzen Federn, und in dem roten Flecke auf dem Kopfe erkennt man noch die rote Mütze.

4. Sage der finnländischen Schweden.


Einmal, als Jesus auf Erden wandelte, kam er zu einem alten Weibe, das stand und buk Brot. »Sei so gut und backe mir auch ein Brot,« sagte Jesus. Aber die Alte wurde ärgerlich und rief: »Was stehst du hier und faulenzest!« Und dann nahm sie die Brotschaufel und trieb ihn fort. Aber Jesus, der machen konnte, was er wollte, stellte es so an, daß die Alte zu einem Schwarzspecht wurde und zum Schornstein hinausflog. Als die Alte stand und buk, hatte sie eine rote Mütze auf dem Kopfe, und deshalb hat der Schwarzspecht noch heute einen roten Kopf.


  • Literatur: Nyland 2 (Nyländska folksagor), S. 191, Nr. 158, aus dem Kirchspiel Borgå.

5. Aus Finnland.


Jesus ging als Knabe zu einer Frau und bat um ein kleines Brot. Als er es bekommen hatte, legte er es in den Ofen, es wurde so groß, daß es fast nicht aus dem Ofen ging. Jesus bat um ein kleineres. Die Frau nahm nun zweimal ein anderes, aber es geschah immer dasselbe. Da sagte die Frau, sie habe es eilig und müsse schnell einmal nach den Kälbern sehen. Jesus sagte: »Nun, so geh!« Da flog sie fort als Specht, und seitdem ruft sie immer die Kälber; weil aber der Vogel durch den Kamin flog, wurde er schwarz.


  • Literatur: Krohn, Suomalaisia Kansansatuja Nr. 293.

6. Aus Dänemark.


Der Heiland und St. Peter auf der Wanderung besuchen eine arme Frau, Gjertrud genannt; sie war im Begriff, Pfannkuchen zu backen, und der Heiland erbat sich einen solchen. Sie legte ein bißchen Teig in die Pfanne, der Heiland segnete den Teig, er wuchs und breitete sich aus. Der Frau schien aber der Kuchen für die Fremden zu groß, sie wiederholte den Versuch nochmals und nochmals, der Kuchen wurde immer zu groß, auch der letzte, wozu sie nur Teig von der Größe einer Fingerspitze nahm. Wegen ihres Geizes verwandelte sie der Heiland in einen Vogel, den Zaunschlüpfer (troglodytes), der immer versuchen muß, sich vor den Menschen zu verbergen, und man nennt ihn Gjertrudssmutte (smutte = schlüpfen).


7. Aus Ostpreußen.


Bäckerin mit roter Kappe jagt Gott, der um Brot bittet, davon und wird zum Schwarzspecht, der zwischen Holz und Rinde Nahrung sucht.


  • Literatur: Altpreuß. Monatsschrift 22, 291 f.

8. Aus Pommern.


Als unser Herr und Heiland noch auf der Erde wandelte, bat er einst eine Bäckersfrau um Brot. Diese aber war hartherzig und gab ihm nichts, ja sie jagte ihn sogar aus ihrem Hause. Da sagte der Herr, sie solle sich in einen Vogel verwandeln,[125] der seine Nahrung aus dem Holz picken solle. Alsbald wurde die Frau zu einem Buntspecht, und weil sie gerade eine rote Kopfbedeckung trug, so hatte auch der Vogel eine rote Kappe auf dem Kopfe.


  • Literatur: Bl. f. pomm. Volksk. 5, 31.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 123-126.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon