B. Entstehung der Biene.

[129] 1. Sage der Südslaven.


Einst wanderten Christus und der heilige Petrus durch die Welt und kamen zu einer Frau, gerade als sie Fladen einschoß. Redete Christus sie an und bat sie: »Na, wird auch für mich ein Fladen dabei abfallen?« Die Frau war eine gutherzige Seele, kein Bettler verließ ohne Gabe ihr Haus, und da wollte sie auch diesmal nicht den Mann leer ausgehen lassen. »Meinetwegen soll dir der da zufallen,« sagte sie und bestimmte für ihn den kleinsten Fladen, der lag oben auf der Brotschaufel. Just wollte sie den Fladen einschießen, doch Christus ergriff sie bei der Hand: »Wart ein bißchen, ich will mir ihn bezeichnen, damit ich mir keinen anderen nehme, wenn das Brot gebacken ist.« Trat näher und drückte den Finger in den Fladen. Hierauf schoß das Weib den Fladen in den Ofen ein.

Die zwei unbekannten Männer legten sich im Schatten nieder und ruhten sich aus.

Jesu Fladen wuchs zusehends. In kurzer Zeit war sein Fladen größer als alle anderen. Darob wunderte sich das Weib nicht wenig. Nun reute sie's, daß sie den Fladen dem Wanderer geschenkt. »Ei was!« sagt sie zu sich, »muß ich ihm denn gerade den geben? Ich fertige ihn mit einem anderen ab. Wäre wirklich jammerschade um den Fladen, ist so schön aufgegangen!« Geht hin, knetet in aller Eile einen andern an, drückt den Finger hinein und steckt den Fladen in den Ofen.

Nachdem alle gebacken waren, rief das Weib die Wanderer und reichte Jesu den Fladen, den sie für ihn be stimmt hatte. Doch Jesus weigerte sich, den Fladen anzunehmen, schaute das Weib scharf an und sprach: »Weib, das ist nicht mein Fladen. Gib mir den versprochenen!« Das Weib stellte sich dumm, wollte Jesu ihren anderen Fladen aufzwingen und behauptete steif und fest, das wäre der rechte, er solle ihn nur nehmen. Als sie ihn durchaus nicht überreden konnte, wurde sie zuletzt fuchtig und warf den Fladen Jesu an die Schläfe. Da nahm Jesus diesen und ging mit Petrus weiter.

Nach einigen Augenblicken sprach er zu Petrus: »Schau mal, schau, was hab' ich da auf der Schläfe, wo mir das Weib den Schlag versetzt hat?« Petrus[129] schaute und sah eine Wunde, und in der Wunde ein zierlich Würmlein. Gingen weiter. Sprach von neuem Christus zu Petrus, er solle die Wunde anschauen: »Es juckt mich und brennt mich heftig,« sagte er. Petrus schaute, und was gewahrte er? Ein Geschöpfchen, einer Fliege ähnlich. Das ist gleich auf den nahen Fels geflogen. »Schau, Petrus«, sprach der Herr, »dieses Geschöpflein ist die Biene. Sie wird allezeit Wachs bereiten; ohne das wird man keine heilige Messe lesen können.« – Das ist also der Ursprung der Bienen.


  • Literatur: Krauß, Sagen u. Märchen der Südslaven 2, 421.

2. Kleinrussische Varianten.


a) Jesus Christus und der hl. Petrus kamen zu einem Bäcker und wollten dort Brot kaufen; es gab jedoch kein fertig gebackenes, es war nur eins zum Backen eingeteigt, und zwar war dies in gleiche Teile geteilt. Da wählte Christus sich einen von diesen Abschnitten und sagte: »Der sei mein!« Die Frau des Bäckers buk ihnen dies Brot; wie erschrak sie aber, als jener Teil, den Christus ausgesucht hatte, groß ward! Wie sie das Brot aus dem Ofen herausgenommen, wollte Christus sich seins nehmen, sie aber sagte: »Du solltest dir doch solch ein Brot nehmen, welches ebensoviel kostet wie das andere!« Und sie stritten darüber. Und es kam so weit, daß sie Christus mit dem Schüreisen auf den Kopf schlug. Und so ging Christus mit Petrus weiter. Wie sie bis zum Walde kamen, sagte Christus, daß ihm sein Kopf zerschlagen sei, und dort in der Wunde befände sich ein Wurm. Und als der hl. Petrus ihn fand und ihn Christo zeigte, sagte Christus zu Petrus: »Leg das Würmchen dort in das Loch der Buche!« Und sie gingen weiter. Wie sie ein anderes Mal an jene Stelle kamen, gab es dort viel Honig. Aus des Herrn Kopfe war die Biene entstanden.


  • Literatur: N. Werchratsky, Snadobi S. 121–22.

b) Als Jesus Christus auf Erden mit den Jüngern ging, konnten diese sich nicht auf einmal daran gewöhnen. Es waren einfache Leute. Der heilige Petrus sagte immer wieder: »Herr, ich bin hungrig!« Jesus Christus aber hatte selbst nichts gegessen, er lächelte bloß vor sich hin. Später aber, als Petrus eingeschlafen war, nahm Jesus Christus ihm die Gedärme heraus und hängte sie auf einen Birnbaum. Petrus erwachte, stand auf und wunderte sich, daß er keinen Hunger spürte. Wie nun die Stunden vergehen, kommen sie an jenem Birnbaum vorbei, und auf jenem Birnbaum befindet sich ein großer Schwarm Bienen. Petrus fragt: »Herr, was ist das?« – Jesus Christus aber sagt: »Petre, erkennst du es nicht? Das sind ja deine Gedärme. Ohne sie bist du im Vorteil, die Bienen aber werden Gott zur Ehre, den Menschen zum Nutzen sein.«


  • Literatur: Etnogr. Zbirnyk 13, Nr. 73. Vgl. Žytje i Slowo 1894, II, 181.

3. Aus Polen.


Einst ging der Herr Jesus mit dem hl. Peter und Paul, und sie kamen in eine Hütte, wo ein altes Weib wohnte, und wollten dort nächtigen. Aber als sie die Reisenden erblickte, nahm sie einen Stein, schleuderte ihn und traf den Kopf des hl. Paulus damit, so daß sie ihm ein Loch schlug. Und da es heiß war, so sammelten sich Würmer um dieses Loch herum. Als sie nun in den Wald kamen, nahm der Herr Jesus sie aus diesem Loche und steckte sie in ein Loch eines alten Baumes. Als Jesus nach längerer Zeit denselben Weg mit seinen Aposteln zurückging, befahl er dem hl. Paul in das Loch hineinzusehen. Der hl. Paul tat dies. Wie groß aber war sein Erstaunen, als er jene fliegen, arbeiten, Kunstwerke[130] schaffen und unbekannte Süßigkeiten hervorbringen sah! Diese Fliegen sind Bienen, und jene Süßigkeit ist der Honig, den sie uns liefern.


  • Literatur: Zbiór 5, 157, Nr. 61.

4. Aus Deutsch-Böhmen.


Der Herr Jesus ging mit Petrus durch einen Wald und kam an einen hohlen Baum. Da sprach Petrus: Wozu mag wohl der hohle Baum nütze sein? Der Herr aber blieb stehen und bat Petrus, er möge ihm einmal an die Stirn sehen, da jucke es ihn. Siehe da, eine kleine Made kam aus der Stirn heraus. Die setzte der Herr Jesus in den hohlen Stamm. Und als die beiden Männer nach einiger Zeit wieder zurückkamen, hatte sich der Stamm in einen Bienenstock verwandelt.


  • Literatur: K. Reuschel, Zeitschr. f.d. dtsch. Unterr. 1900, 416.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 129-131.
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