I. Die einbrechende Flut.

1. Einfache Form.

[134] 1. Aus Frankreich.


a) In alten Zeiten stieg der Herrgott oft in Menschengestalt auf die Erde herunter und wandelte unter den Menschen. Einmal überraschte ihn die Nacht, und er kam zu einer Stunde, in der alle Geschöpfe die Ruhe suchen, in ein Dorf hoch oben in den Bergen von Bigorre. Er bat um Gastfreundschaft an den Türen vieler reicher Leute, aber keiner wollte ihn aufnehmen. Er fand kein anderes Obdach als die Hütte eines armen Kuhhirten. Und da dieser Kuhhirt dem Wanderer kein Nachtessen vorsetzen konnte, schlachtete er sein einziges Kalb, bereitete es zu und setzte ihm das Fleisch vor. Da sagte Gott zu dem armen Kuhhirten: »Mein lieber Wirt, sammle all die Knochen von diesem Kalb, außer diesem einen, den will ich nehmen.« Der Kuhhirt gehorchte, und nachdem sie gegessen hatten, legte er alle Knochen des Kalbes in einer Reihe in eine Ecke des Hauses, und dann legten die beiden sich nieder und schliefen. Bei Tagesanbruch stand der Kuhhirt auf und ging hinaus. Da sah er das Kalb, dessen Fleisch sie am Abend gegessen hatten, wie es vor der Hütte graste; und es hatte all seine Knochen, außer dem einen, welchen der Herrgott genommen hatte; der läutete fröhlich in einer großen Glocke, die an seinem Hals hing. Das Dorf aber mit seinen bösen und ungastlichen Bewohnern wurde außer der Hütte des Hirten gänzlich verschlungen, und an seine Stelle trat ein großer See, dessen klares Wasser so blau wie der Himmel war. Dieser See heißt Lhéou.


  • Literatur: Folklore Journal I, 383, aus Mary Eyres, A Lady's Walks in the South of France 1865, 293. Auch: Cordier, Légendes des Hautes-Pyrénées p. 24, Bladé, Contes de Gascogne 2, 146, Sébillot, Folklore 3, 393. Zur Wiederbelebung des Kalbes vgl. die norwegische Sage von Thor, der die Böcke des Bauern Egill belebt, es liegt Entlehnung aus der Volkssage vor (Golther, Mythologie S. 276; Grimm, Mythologie4 154).

b) Christus predigt den Heiden, und die Druiden hetzen das Volk gegen ihn auf, nur eine Witwe mit einer Ziege beherbergt ihn; dafür wird sie samt dem Tier gerettet, während die Stadt von dem Lac du Boucher verschlungen wird. Die Alte erhält ein Haus, neben dem Christus eine Quelle entstehen läßt.


  • Literatur: Sébillot, Folklore de France 3, 398.

c) Sankt Petrus hat an einem Winterabende bei allen Fischern und Bauern vergebens vorgesprochen. Endlich findet er abseits in einem Häuschen eine Frau, die ihn gastlich aufnimmt und ihm ein Strohlager am Herde zurechtmacht. Als Petrus am Morgen Abschied nimmt, gibt er sich zu erkennen und verheißt ihr[134] Belohnung, während ihre bösen Nachbarn bestraft werden würden. Es entsteht der See von Brindos, aus dem man noch bisweilen Glockentöne vernimmt. Nur das Haus der Frau wird verschont.


  • Literatur: Sébillot 3, 393 = Bulletin de Biarritz-Association août 1902, p. 136.

d) Jesus und Petrus als Bettler überall abgewiesen; aufgenommen von einem armen betagten Ehepaar; noch während der Nacht scheiden sie und werden auf ihre Bitte von den beiden Alten begleitet. An der Stelle des Dorfes entsteht der nach ihm benannte Teich von Lhers. Nur die Hütte der Alten wird verschont.


  • Literatur: La Tradition 19, 291.

e) Eine Bettlerin wird überall abgewiesen, nur ein armer Greis nimmt sie auf. Zur Strafe läßt Gott den See von Narlay (Haute-Saône) entstehen und verschont nur das Haus des Greises.


  • Literatur: Sébillot 3, 396 = Monnier, Cultes des esprits dans la Séquanie 59.

f) Die Nonnen im Kloster von Harricourt weisen Christus, der als armer Greis vorspricht, ab. Eine Diene rin nimmt ihn heimlich auf. Am andern Morgen heißt er sie ihm folgen und ihre Habe mitnehmen. Das Kloster wird von einem Sumpf verschlungen.


  • Literatur: Sébillot 3, 395 = A. Meyrac, Villes et villages des Ardennes p. 282.

2. Aus Wales.


Wo jetzt in Brecknockshire ein großer See liegt, war vor Zeiten eine große Stadt. Der König sandte einen Boten zu den sündhaften Leuten, sie zu erforschen, sie achteten seiner nicht und versagten ihm Herberge. Da trat er in eine elende Hütte, worin bloß ein weinendes Kind in der Wiege lag, übernachtete, und beim Weggehen fiel ihm sein einer Handschuh in die Wiege. Nicht lange hatte er die Stadt hinter sich liegen, so vernahm er Geräusch und Wehklagen. Er beschloß umzukehren und den verlorenen Handschuh zu suchen, aber die Stadt war verschwunden, und Gewässer deckte die ganze Ebene. Mitten auf den Wogen schwamm ihm aber eine Wiege entgegen, in der Kind und Handschuh lagen. Dies Kind nahm er mit zum König, der es als den einzigen aus der versunkenen Stadt übrig gebliebenen Menschen auferziehen hieß.


  • Literatur: Grimm, Mythologie4, S. 481.

3. Aus dem Berner Oberland.


Vom Dörflein Ralligen am Thunersee und von Schillingsdorf, einem durch Bergfall verschütteten Ort des Grindelwaldtales, vermutlich von anderen Orten mehr, wird erzählt: Bei Sturm und Regen kam ein wandernder Zwerg durch das Dörflein, ging von Hütte zu Hütte und pochte regentriefend an die Türen der Leute, aber niemand erbarmte sich und wollte ihm öffnen, ja sie höhnten ihn noch dazu aus. Am Rand des Dorfes wohnten zwei fromme Arme, Mann und Frau, da schlich das Zwerglein müd und matt an seinem Stab einher, klopfte dreimal bescheidentlich ans Fensterchen, der alte Hirt tat ihm sogleich auf und bot gern und willig dem Gaste das wenige dar, was sein Haus vermochte. Die alte Frau trug Brot auf, Milch und Käs, und ein paar Tropfen Milch schlürfte das Zwerglein und aß Brosamen von Milch und Käse. »Ich bin's eben nicht gewohnt,« sprach es, »so derbe Kost zu speisen, aber ich dank euch von Herzen, und Gott lohn's; nun ich geruht habe, will ich meinen Fuß weitersetzen!« »Ei bewahre!« rief die Frau, »in der Nacht, in das Wetter hinaus! Nehmt dort mit einem Bettlein[135] vorlieb!« Aber das Zwerglein schüttelte und lächelte: »Droben auf der Flut hab' ich allerhand zu schaffen und darf nicht länger ausbleiben, morgen sollt ihr mein schon gedenken.« Der anbrechende Tag aber weckte sie mit Unwetter und Sturm, Blitze fuhren am roten Himmel, und Ströme Wassers ergossen sich. Da riß oben am Joch der Flut ein gewaltiger Fels los und rollte zum Dorf herunter mitsamt Bäumen, Steinen und Erde. Menschen und Vieh, alles was Atem hatte im Dorf, wurden begraben. Schon war die Woge durchgedrungen bis an die Hütte der beiden Alten, und zitternd und bebend traten sie vor ihre Türe hin. Da sahen sie mitten im Strom ein großes Felsenstück nahen. Obendarauf hüpfte lustig das Zwerglein, als wenn es ritte, ruderte mit einem mächtigen Fichtenstamm, und der Fels staute das Wasser und wehrte es von der Hütte ab, daß sie unverletzt stand und die Hausleute außer Gefahr waren. Aber das Zwerglein schwoll immer größer und höher, ward zu einem ungeheuren Riesen und zerfloß in Luft, während jene auf gebogenen Knieen beteten und Gott für ihre Errettung dankten.


  • Literatur: Grimm, Deutsche Sagen Nr. 45 = Wyß, Volkssagen (1815), S. 62.

2. Erweiterung durch das Wunder des anschwellenden Kuchens.

Aus Frankreich.


a) Christus bittet eine Frau, die gerade Brot in den Backofen einschiebt, um ein Brot, und als sie es verweigert, um etwas Teig, um ihn zu backen. Sie willigt ein. Der Teig schwillt an, und sie nimmt ihn weg. Eine Dienerin, die nebenan Mehl beutelt, bäckt ihm heimlich einen Kuchen. Er rät ihr, das Haus zu verlassen, da ein großes Unglück hereinbrechen werde, aber sie lacht nur. Darauf kommt er zu einem Hirten und erhält ein Stück vom Schenkel eines Kalbes, der dann wieder nachwächst. Als der Hirte die Herde in den Stall treiben will, fordert er ihn auf, sich mit ihr unter einen Weißdorn zu flüchten. Danach bricht ein Sturm aus, und ein See entsteht. Noch heute hört man bisweilen die Stimme der Mehlbeutlerin, Hahnenschrei und Hundegebell.


  • Literatur: Sébillot 3, 394 = Dardy, Anthologie de l'Albret 2, 51–59.

b) Gott kommt als Bettler nach Lourdes; überall abgewiesen, wird er nur von zwei armen Frauen aufgenommen; ein Kindlein liegt in der Wiege. Da Gott warten soll, bis sie ein Roggenbrot gebacken haben, setzt er sich an den Herd, und die Kuchen wachsen wunderbar auf. Nachdem er gegessen, befiehlt er ihnen zur Belohnung, ihm mit dem Kinde zu folgen, denn die Stadt würde zur Strafe verschlungen werden. Es entsteht ein See, an dessen Ufer man noch jetzt einen Stein von der Form einer Wiege erblickt.


  • Literatur: Sébillot 3, 392 = Eugène Cordier, Légendes des Hautes-Pyrénées p. 21–23; im wesentlichen übereinstimmend: Bladé, Contes de G-ascogne 2, 147.

3. Erweiterung durch das Verbot des Zurückschauens und die Strafe der Versteinerung.

Aus Frankreich.


a) Die Stadt Herbauge ist voll Bosheit. Saint Martin de Vertou will sie bekehren, findet nirgends Unterkunft als bei einem armen Manne Namens Romain und seiner Frau. Die Stadt hört nicht auf seine Bußpredigt. An einem Festabend sagt Gott dem Heiligen, er wolle die Stadt ertränken. Dieser benachrichtigt seine Wirte, befiehlt ihnen, mit ihm zu kommen und sich nicht umzukehren. Die Frau nimmt drei Brote und folgt dem Heiligen, sieht sich aber um und wird versteinert[136] mitsamt ihren Ölkuchen. Romain blickt sich nach ihr um und wird ebenfalls zu Stein. Es entsteht der See von Grandlieu.


  • Literatur: Sébillot 3, 397 = Sébillot, petite légende dorée 205–207. In moderner mündlicher und mittelalterlich-literarischer Überlieferung: Acta Sanctorum Octobris tom. X, p. 803 ff [Siehe unter Nachtr.]. Eine Anspielung bei einem Schriftsteller des 14. Jahrhunderts zeigt, daß diese Legende wohlbekannt war.

Et pour ce devint comme une pierre tout aussi comme Saint Martin de Verto, quand il fist fondre la cité de Erbauge, qui estoit en l'éveschie de Nantes, laquelle fondy par le péché de luxure et d'orgueil, comme fist la cité dont Loth fut sauvé.


  • Literatur: (Le livre du chevalier de la Tour Landry, p. 113. Bibl. elzévirienne).

In einer mündlichen Überlieferung wird hinzugefügt, daß die Bewohner einen goldenen Teufel anbeteten und daß die Geretteten nur Eßbares mitnehmen durften.

In einer Variante liegen die versteinerten Ölkuchen neben der Frau: Bizeul, De Rezé et du pays de Rais, p. 50. – Eine Variante aus der Vendée, betreffend die Versteinerung, siehe Sébillot 3, 397.


b) Christus kommt in der Gestalt eines Bettlers in die Nähe der Stadt Issarlès (nordwestlich Ardèche). Auf dem Lande wird er gut aufgenommen, einmal erhält er Kartoffeln, das andre Mal will man gerade Brot backen und sagt ihm, daß er warten solle, bis es fertig sei; dann werde er ein schönes Milchbrot erhalten. Jesus sagt: »Es ist schon gebacken.« Sie laden ihn zum Essen ein, er nimmt nur das Milchbrot, geht fort und schenkt es weiterhin zwei Stadtkindern, deren Mutter es in den Schweinetrog wirft. Als er diese um Almosen bittet, weist sie ihn schroff ab. Ebenso wird er in der ganzen Stadt abgewiesen. Im vorletzten Haus heißt es, sie hätten nur Sauerteig, wiewohl sie Brot genug haben. Vorm letzten Hause sitzt eine Frau, die ihre Ziege melkt. Auf seine Bitte will sie ihm alle Milch geben, aber er nimmt nur ein Glas und befiehlt ihr, sich bei einem kommenden Lärm nicht umzusehen. Sie gehorcht jedoch nicht und wird, wie die ganze Stadt, vom See von Issarlès verschlungen.


  • Literatur: Mélusine 1, 327. Vgl. Sébillot, Folklore de France 3, 391.

c) Gott als Bettler klopft überall vergebens an, eine arme Alte nimmt ihn auf und will ihm Brot kneten und die Ziege melken. Gott dankt und heißt sie die Ziege sogleich fortführen und sich nicht umkehren, welches Geräusch sie auch hören möge. Darauf verschwindet er. Während die Frau den Befehl ausführt, verfinstert sich der Himmel, schrecklicher Lärm ertönt, die Frau vergißt das Verbot und wird mitsamt der Ziege versteinert. An Stelle der Stadt entsteht der Lac du Bouchet Saint-Nicolas.


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 392.

d) Wie die vorige Variante, doch fehlt die Ziege, es wird nur die Frau, die sich umsieht, versteinert. Es ent steht der See von Gour de Tézénat.


  • Literatur: Sébillot 3, 393 = Sébillot, litt. orale de l'Auvergne p. 237.

4. Verkürzungen und Entstellungen.

1. Aus Frankreich.


a) Der Lague de Xaintrailles, unweit Nérac, entstand an Stelle einer Mühle und des dazugehörigen Grundbesitzes, weil der geizige Müller am Weihnachtsabend »einen Bettler« abwies.


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 395 = Revue des trad. pop. 6, 434.

[137] b) Ein Sumpf bei Saint-Jacques-La-Lande entstand an der Stelle eines Schlosses, dessen geizige Bewohner dem Herrn Christus ein Almosen verweigerten.


  • Literatur: Sébillot 3, 394 = Revue des trad. pop. 7, 210.

c) Eine Bettlerin mit ihrem Kinde im Arm wird in der ganzen Stadt Damvauthier nicht aufgenommen; sie betet, ein Greis erscheint, beherbergt sie und verschwindet. Am andern Morgen liegt an Stelle der Stadt der See Saint-Point.


  • Literatur: Sébillot 3, 396 = Thuriet, trad. pop. du Doubs p. 463–65.

d) Am Jordan wohnt Philemon. Petrus klopft an und bittet um Herberge; er habe aber 12 Gefährten. Alle finden Aufnahme, als Belohnung erhält er alle seine guten Wünsche erfüllt. Ehe er in den Himmel kommt, will er sehen, wie es in der Hölle aussieht, und spielt mit dem Teufel um Seelen der Verdammten und gewinnt zwölf. Mit denen kommt er an den Himmel und wird mit ihnen eingelassen.


  • Literatur: Thuriet, trad. pop. de la Haute-Saône et du Jura 602: Légende »commune au Doubs, à la Haute-Saône et au Jura.«

e) In alter Zeit, als Gott noch auf Erden wandelte, gab es noch kein Wasser wie heute, und viele Leute starben vor Durst. Wer einen Brunnen hatte, wollte seine Nachbarn nicht daraus schöpfen lassen, aus Furcht, er könnte für sich selbst nicht genug haben. Eines Tages, als der liebe Gott mit Johannes und Petrus unterwegs war, bekam er Durst, oder vielmehr, sie bekamen alle drei Durst. Sie kehrten bei einer guten Frau ein und baten sie um ein Glas Wasser; aber anstatt es ihnen zu geben, sagte sie ihnen Grobheiten und nannte sie Taugenichtse und Landstreicher. Da gingen sie zu einer andern Frau, die sie nicht besser empfing; endlich zu einer dritten, die barmherziger war. Sie gab ihnen zu essen und zu trinken und ließ sie in ihrem eigenen Bette schlafen. Als die Reisenden sich gut ausgeruht hatten, rüsteten sie sich zur Abreise. Der liebe Gott wollte sie bezahlen; aber sie wollte nichts annehmen, und da er sich gegen die beiden anderen Frauen aufgebracht zeigte, bat sie ihn, er möge ihnen nicht zürnen, denn das Wasser sei spärlich im Lande. Der liebe Gott sprach zu ihr: »Da Dir kein Geld wollt, möchte ich Euch ein Geschenk machen.« Er nahm eine kleine Tonne, die Petrus unter dem Arme trug und an die eine Röhre angesetzt war, und sprach zu der Frau: »Diese kleine Tonne hat viel Wunderkraft; Ihr werdet sie um eine dreifache Gunst bitten können, aber nur die erste wird sie Euch gewähren; wählt gut, und wenn Ihr Euch einen Wunsch ausgedacht habt, so drehet die Röhre um.«

Die Frau stellte die Tonne in ihren Schrank, ohne den Worten des Reisenden weiter Glauben zu schenken. Eines Tages, als sie von einem Wege nach Hause kam, wollte sie Wasser trinken; aber eine Nachbarin hatte ihr inzwischen alles Wasser weggenommen, das sie sich aufgehoben hatte. Dieses Dorf nun gehörte einem reichen Herrn, der bei Todesstrafe verboten hatte, vom Donnerstag bis Sonntag Wasser zu schöpfen. Es war schon Mittwoch Abend, und niemand konnte nach Sonnenuntergang hinausgehen. Die Frau war sehr verdrossen, und sie murrte über ihren Herrn. Da dachte sie an die Tonne und sprach: »Ich muß doch zusehen, ob sie die Kraft hat, von der jener Mann sprach, der sie mir gab.« Sie stellte sie auf den Tisch und sprach: »Meine kleine Tonne, gieb mir recht viel Wasser für mich und alle, die es brauchen.« Dann drehte sie an dem Hahn und sah sogleich ein schönes klares Wasser hervorsprudeln. Sie löschte ihren Durst, aber das Wasser floß immerfort aus der Tonne, und sie konnte den Hahn nicht[138] wieder schließen. Sie bereute es nun, um diese Gunst gebeten zu haben, und sprach bei sich: »Ich hätte den Zauberer, der es mir gegeben hat, fragen sollen, was man zu der Tonne sagen muß, um das Wasser zurückzuhalten. Jetzt muß ich mein Haus verlassen, wenn ich nicht ertrinken will«.

Sie nahm ihre Wertsachen, und da das Wasser immer weiter floß, floh sie auf einen Berg. Die übrigen Nachbarn ertranken und wurden in Fische verwandelt. Die Tonne gab immer weiter Wasser: aus ihr kamen die Flüsse und Meere, und soviel Wasser ist darinnen, daß das Meer nicht erschöpft werden kann und die Flüsse sich nicht vermindern.


  • Literatur: Sébillot, légendes de la mer 2, 331.

2. Aus der Altmark. (Verblaßte Erinnerung an die sicher einst ausführlich erzählte Sage.)


An der Stelle, wo jetzt der Arendsee in der Altmark liegt, stand vor alters ein großes Schloß. Dieses ging urplötzlich unter, und nicht mehr kam davon als ein Mann und ein Weib. Wie die beiden nun fortgingen, sah sich das Weib zufällig um und ward der schleunigen Veränderung inne. [Statt des alten Schlusses – vielleicht Versteinerung? – folgt der Ausruf der Frau: »Arendsee!« = Arend (so hieß der Mann), sieh doch! Darum nannte man die am See erbaute Stadt Arendsee.]


  • Literatur: Grimm, Deutsche Sagen Nr. 112 = Praetorius, Weltbeschreibung 1, 97 (»aus mündlicher Sage«). Vgl. Annales fuld. ad a. 822 (Pertz 1, 357): item in parte orientalis Saxoniae, quae Soraborum finibus contigua est, in quodam deserto loco, iuxta lacum qui dicitur Arnseo, terra in modum aggeris intumuit et limitem unius leugae spatio porrectum sub una nocte, absque humani operis molimine, ad instar valli surrexit. Vgl. ann. Einhardi ad a. 822 (Pertz 1, 209).

3. Aus Estland.


a) In Woltwede, unweit des Kärsu-Berges, sieht man zwei tiefe Gruben. Da standen vor Zeiten zwei Bauernhöfe. Die Sage erzählt, daß Jesus zur Zeit seines Erdenlebens einmal spät abends in diese Gesinden eingetreten war und um Nachtlager gebeten hatte. Der Wirt aber hatte ihn mit harten Worten abgewiesen. Da ging Jesus von dannen. Die Höfe aber versanken unter die Erde. Später wollte man noch von Zeit zu Zeit einen Hahn krähen gehört haben tief unter der Erde.


  • Literatur: Aus dem handschr. Nachlaß von Dr. J. Hurt.

b) Als Jesus noch mit seinen Jüngern auf Erden wandelte, kam er einst in einen Bauernhof, wo die Leute Hochzeit hielten. Er bat um Nachtlager für sich und seine Jünger. Da sie aber sehr ärmlich gekleidet waren, wurden sie abgewiesen, und man drohte ihnen, sie mit Hunden zu hetzen, falls sie es wagen sollten, zurückzukommen. Jesus verfluchte das Haus und ging von dannen. Da begann Wasser aus der Erde hervorzudringen und vom Himmel herabzufließen, bis der Bauernhof zu einem See wurde. Der See ist unweit der Kirche zu Odenpäh und heißt Meossö-See. Bei klarem Wetter könne man jetzt noch das Haus und die Menschen sehen und auf den Pfortenpfosten den Bräutigam und die Braut, die sieh dahin geflüchtet hatten und noch jetzt so stehen.

[Es folgt nun die oben S. 98 mitgeteilte Geschichte von der Frau mit dem Melkgefäß, woran sich noch diese dritte anschließt:]

Darauf kam Jesus zu einem armen Mann und bat um Essen. Da dieser nichts zu geben hatte, sagte Jesus, er solle seine Kuh schlachten und eine Suppe kochen.[139] Traurigen Herzens tat es der Mann. Als Jesus am Morgen aufbrach, gab der Mann ihm noch den Kopf und die vier Füße der Kuh mit auf den Weg. Am dritten Tage ging der Mann nach alter Gewohnheit in den Stall melken, ohne daran zu denken, daß die Kuh schon gesehlachtet und verzehrt war, und fand vier schöne junge Kühe und einen Stier vor.


  • Literatur: Aus dem handschr. Nachlaß von Dr. J. Hurt.

5. Parallele.

Märchen der Konde (Nordufer des Njassa, Ostafrika).


Im Gebiet der Konde liegt ein lieblicher See, dessen Durchmesser auf 600 Meter zu schätzen ist. Sein klares Wasser ist nicht durch Schilf oder Rohr verdeckt; Wasservögel aller Art beleben ihn; seine Ufer fallen allmählich ab, und rings umgibt ihn ein herrlicher Kranz von grünen Bäumen.

Vor langer Zeit stand hier ein Dorf. Da kam einst ein Wanderer seines Weges, er war müde vom weiten Marsch und bat um einen Trunk Wasser. Aber es war umsonst. »Wir haben nichts in der Hütte,« hieß es, obwohl Wasser genug vorhanden war. Mit derselben Bitte ging er zur nächsten Hütte, doch auch hier erhielt er dieselbe Antwort. Endlich sprach der müde Wanderer einen Knaben an, der unter einem Baume saß. Der Knabe entgegnete: »Iß zunächst ein wenig, denn Wasser auf einen hungrigen Magen ist nicht gut.« Der Wanderer aber sagte: »Ich möchte nur etwas zu trinken haben.« Darauf gab ihm der Knabe Bier, und der fremde Mann trank. Als er ausgetrunken hatte, fragte er den Knaben: »Wo ist denn deine Mutter?« »Die ist zum Ackern aufs Feld gegangen.« »So gehe schnell hin und rufe sie.« Sobald der Knabe außerhalb Sehweite war, senkte sich plötzlich das Dorf, von allen Seiten quoll Wasser hervor, und ein See entstand. Der Wanderer aber rief mit weithin schallender Stimme: »Ihr Leute dieses Orts! Ihr sagtet, ihr hättet kein Wasser, hier habt ihr welches, nun trinket!« – Ein einziger Baum stand noch eine lange Zeit in der Mitte des Sees, und ein Hahn, der sich auf ihn gerettet hatte, krähte noch manchen Tag, bis auch er verstummte.


  • Literatur: A. Merensky, Deutsche Arbeit am Njassa, Berlin 1894.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 134-140.
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