VI. Der Essigtrank.

[205] Die oben angeführte Sage vom Schilfrohr knüpft auch an die eindrucksvolle Stelle Marc. 15, 36 an: »Da lief einer und füllete einen Schwamm mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und tränkte ihn und sprach: Halt, laßt sehen, ob Elias komme und ihn herabnehme (vgl. Joh. 19, 29: Sie aber Mieten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten es ihm dar zum Munde)«.


1. Aus Schleswig-Holstein.


Es wird erzählt, ein Kriegsknecht hätte dem Heiland am Kreuze ein Schilfrohr zum Spott an den Mund gehalten. Christus aber habe sich an dem Tropfen, der am Blatte gehangen, gelabt und aus Dankbarkeit dieses Blatt mit seinen Zähnen gezeichnet.


  • Literatur: Jahrb. f. Landeskunde d. Herzogt. Schleswig-Holstein 7, 391.

Ebenso in Belgien (Revue des trad. pop. 16, 48), den Niederlanden (Ons Volksleven 12, 105: Jesus biß vor Schmerz in das Blatt) und in der wendischen Lausitz (Schulenburg, Wend. Volkss. u. Gebr. 268).


2. Aus Mecklenburg.


Unsen Herrn Christus hebben se doch den Schwamm mit Essig up'n Ruhrhalm rupdahn, dor hed he in sine Angst dorin beten, un dorvon is de Tähnenbiss dor in.


  • Literatur: Wossidlo, Volkstümliches aus Mecklenburg 1. Heft, Nr. 64. Anders in einer Variante, die W. ebendort anführt. Danach kommen die Einschnitte vom Teufel: All de schewen Beken in'n Lann, de het de Düwel hakt mit sin Grotmoder; un as se nu bi de Reknitzen sünd, dünn ritt de Ollsch enen Strang kort, un nu geht dat jo ümmer hen un her, dicht an't Water lang, un in'n Ret het's sik fast beten, dree Tähnen sünd noch in jede Blatt.

3. Aus Ruppin und der Westpriegnitz.


  • Literatur: Im wesentlichen übereinstimmend: Handtmann, Sagen S. 83.

4. Variante.


Als Petrus über das Meer von Galiläa wandelte und zu sinken begann (Matth. 14, 30), griff er nach einem hohen Schilfstengel, der aus dem Meeresboden in die Höhe gewachsen war. Doch das Schilf beugte sich unter dem Druck von Petrus' Hand nieder. Er wollte sich gleichwohl mit aller Gewalt oben halten und biß in[205] seiner Angst in einen Knoten des Schilfstengels. Da kam der Herr, nahm den Sinkenden bei der Hand und sprach: »O ihr Kleingläubigen, warum zweifelt ihr?« Seitdem ist der Schilfstengel zweimal gebogen (im dritten und vierten Glied) und zeigt noch deutlich die Spur des Bisses.


  • Literatur: Handtmann S. 82, niederl. auch Ons Volksleven 11, 67.

Sehen wir uns nach dem Ursprung dieser und der oben S. 198 angeführten Sagen vom Schilfrohr um, so fällt uns zunächst auf, daß der Biß nicht nur von Christus und Petrus erzählt wird, sondern auch vom Teufel und seiner Großmutter. Auch weiter unten (S. 232) werden wir hören, daß entweder der Teufel oder sein Esel in die Schilfblätter gebissen habe. Das erinnert an Sagen wie die vom Teufelsabbiß und anderen Merkmalen, die der Böse an Pflanzen und Tieren zurückläßt (vgl. Bd. 1, S. 200), und an den Rollentausch zwischen Petrus und dem Teufel (siehe Bd. 1, Register). Ich führe hier noch einen polnischen Aberglauben an: die Wurzeln des St. Peterskrautes (Dentaria), in welche der hl. Petrus hineingebissen hat, kurieren Zahnweh (Globus 35, 270). Auch Christus wird dem Teufel gleichgesetzt (s. oben S. 183). Alle drei sind offenbar an die Stelle eines alten mythischen Wesens getreten, und wir haben es in den Schilfsagen mit altheidnischen Überlieferungen zu tun. Nun wissen wir, daß den nordwestlichen Deutschen, namentlich Friesen und Seeländern, von uralter Zeit her das Seeblatt (die nymphaea nenuphar) Gegenstand der Verehrung war (Grimm, Myth.4 545). Plinius erwähnt ein dem Donnergott geheiligtes Wassergewächs herba britannica (Grimm, ebd. 1000), das den Römern aus den zwischen Britannien und Germanien gelegenen Inseln gebracht wurde, vielleicht dieselbe Pflanze wie das Seeblatt, vielleicht hydrolapathum. Von der Nymphaea alba sagt man noch heute, daß sie den Alp banne (Söhns4 95). Den Lausitzer Wenden heißen die Blüten oder Samenkapseln einiger Schilfe wodneho muz'ä (des Wassermanns) porsty (Grimm, Myth.4 405; dazu Nachtr. 3, 142). Das Schilf hat also zugleich mit andern Wasserpflanzen eine vielleicht nicht unbedeutende Stellung im heidnischen Glauben innegehabt, und es ist möglich, daß es auch mit Donar in Verbindung gebracht wurde, dessen Abbild in unseren Sagen, wie ja auch sonst, der Teufel sein könnte. Möglich, daß der Gott sie in derselben Situation – im Boot – erfaßt habe, wie sie die Variante oben S. 198 darstellt. Eine Parallele vom sorbus (altn. reynir – Vogelbeerbaum) scheint das zu bestätigen. Es ist ein heiliger Strauch, weil ihn Thôrr im Strom faßte und sich daran hielt, weshalb gesagt wird: ›reynir er biörg Thôrs‹: sorbus auxilium Thori est (Sn. Edda 114. Die ausführliche Erzählung bei Golther, Handb. d. germ. Myth. S. 275). Noch heute glaubt man in Schweden, daß ein Stab von diesem ›rönn‹ gegen Zauber sichere, und am Schiff hat der gemeine Mann gern etwas von Rönnholz gemacht zum Schutz gegen Sturm- und Wassergeister. Grimm, Mythol.4 1016 [1165]. [Unter anderen Pflanzen, die mit Thor oder Donar in Verbindung[206] gebracht werden, wäre z.B. der Hederich (Gundermann)1 zu erwähnen, der auch Donnerrebe heißt. (Vgl. ferner: Grimm4 997. 999.)] – Somit würden die Varianten vom Essigtrank jünger sein als die von der Wasserfahrt und zu dem Zweck erdacht, die alten Sagen von dem über die Wogen fahrenden Gott durch rein christliche zu ersetzen.

Fußnoten

1 Grimm, Myth.4 1014 [1163]: gund führt auf die alte Valkyrie, ›Donner‹ auf die blaue Farbe des Blümchens und auf Donar. Dazu tritt, daß den Letten der Hederich pehrkones heißt nach Pehrkon dem Gott.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 207.
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