VIII. Jüdische Kreuzesholzsage und ihr Verhältnis zur Edda.

[209] Im Toldoth Jeschu findet sich das Vorbild der ungarischen und griechischen Volksüberlieferung. Die Lesart einer Wiener Handschrift lautet, wie folgt:

Jesus wußte, daß ihm ein Erwürgungstod komme; darum, als er noch die Schrift des erklärten Namens (vgl. S. 72) hatte, beschwor er alle Bäume der[209] Welt, sowohl die fruchtbringenden als die nicht fruchtbringenden, daß sie ihn nicht aufnehmen möchten. Wie aber die Jünger sahen, daß er in der Hand der Ältesten ist, zauberten sie zu seiner Rettung, aber sie vermochten nichts. Das war am Rüsttage des Sabbats, und an dem Tage fasteten die Leute und gingen traurig einher, und die Weisen sagten, ihn gleich zu hängen, um zu erfüllen, was da steht: »Du sollst wegschaffen das Böse aus deiner Mitte.« Sie nahmen ihn, banden ihn an Händen und Füßen, brachten ihn auf einen Baum, aber der Baum zerbrach sofort, weil er unter dem Schwüre stand; so machten es auch alle Bäume. Jesus sprach: »Ich weiß es, daß mich die Juden nicht lassen, bis sie mich töten.« Alle Schüler sahen es und weinten und hofften, als sie sahen, daß die Hölzer unten zerbrachen und ihn nicht ertragen können, um so mehr irrten sie sich und glaubten an ihn und sagten, das geschehe infolge seine Würde. Es war aber dort ein Alter [= Judas], ein Haus und Garten; im Garten war ein Baum des Kohls – das ist kein eigentlicher Baum – höher als ein Palmenbaum; und da er von seinem Ahnen, der längst gestorben war, ein Testament hatte, in welchem geschrieben war, es werde ein Kampf entstehen für Israel infolge eines Bastards, und jener Bastard habe durch Erwürgung zu sterben, aber die Bäume würden ihn nicht ertragen ... da sagte jener Alte und andere Alten: »Lasset ihn uns auf diesen Kohl hängenUnd der Kohl nahm ihn auf, denn er hatte nur die Bäume beschworen. Er blieb bis Abends hängen, und die Jünglinge und Frauen warfen Stricke, Kot, Pfeile und Steine auf ihn. Des Abends aber sandten die Weisen, ihn von dort herabzunehmen, und sie nahmen ihn herab, zu erfüllen, was da steht: »Seine Leiche bleibe nicht auf dem Holze,« so taten sie auch und begruben ihn.


  • Literatur: Krauß, Leben Jesu S. 106 f. Vgl. die Lesarten S. 126. 148. Dazu die Anmerkung S. 225 f.: »Daß kein Holz zum Kreuze Jesu tauglich erschien, weil Jesus sie alle beschworen hätte, ihn nicht aufzunehmen, hat folkloristisch an dem Galgen Hamans eine Parallele (Trg. scheni zu Esth. VII, 9). In anderen Ausgaben des Toldoth ist das so gewendet, daß alles Holz zu schwach war, Jesum aufzunehmen, so daß es zerbrach (gewiß wegen des Berichtes, Jesus sei unter dem Kreuze zusammengesunken). Was aber von der merkwürdigen Größe und Stärke des Kohlstengels berichtet wird, wird bereits von Winer, Bibl. Realwörterb.3 s.v. Senf auf talmudische Stellen wie j. Pea VII, 4 und b. Kethub. 111 b zurückgeführt (s. auch Wagenseil p. 40), und wird z.B. in der Version des Raymundus direkt auf diese Stelle angespielt. Das Ganze ist eine Wiederholung der Gleichnisrede Jesu Matt. 13, 31; Luc. 13, 19: Der Senf (σίναπι) kann das Größte werden unter dem Kohl (λάχανον) und kann sogar ein Baum (δένδρον) werden. Doch vermute ich, daß ein arger Kalauer, wie oft im Volksmunde, den Anstoß zu dieser Verdrehung gegeben: Johannisbrotbaum, semitisch בורח, hat die Spottsucht wegen der dem Worte anhaftenden Bedeutung: zerstört (כרח) zu בורכ hinübergeleitet, vgl. Lev. r.c. 35, 6, wo בורח mit ברח Schwert zusammengestellt ist.«

Wie verhält sich diese Sage zur nordischen Baldersage (Gylfaginning, cap. 49, Snorra Edda I, 172 f.)?

Die Hauptzüge der Baldersage bei Snorri stellt Kaarle Krohn in den Finnischen Beiträgen zur german. Myth. S. 112 wie folgt zusammen:[210]

»Odins Sohn Balder hat durch schwere Träume die Vorahnung einer Lebensgefahr. Seine Mutter Frigg vereidigt alle Dinge, Balder nicht zu schaden. Während die Asen auf dem Richtplatze nach Balder schießend, hauend und Steine werfend spielen, begibt sich Loki in der Gestalt eines Weibes zu Frigg in die Fensalir und erfährt von ihr, daß sie aus Geringschätzung unterlassen hat, den Mistelzweig, welcher im Westen von Valholl wächst, zu vereidigen. Loki holt den Mistelzweig, überredet den blinden Hod, damit nach Balder zu schießen, und gibt ihm die Richtung an. Von diesem Pfeile durchbohrt stürzt Balder tot zur Erde. Die allgemeine Sorge bricht in Tränen aus. Frigg verspricht all ihre Huld demjenigen, der den Weg zur Unterwelt reiten wolle, um Balder auszulösen. Hermod, auch ein Sohn Odins, fährt neun Nächte lang durch finstere und tiefe Täler zum Flusse Gjoll, über welchen eine goldene, von der Jungfrau Modgud bewachte Brücke führt. Bei Hel angekommen erhält er auf seine Vorstellung die Antwort, Balder dürfe zu den Äsen zurückkehren, wenn alle Dinge ohne Ausnahme ihn beweinten. Eine Riesin Thokk – man sagt, es sei Loki gewesen – weigert sich, Balder aus der Unterwelt loszuweinen; ›Weder im Leben noch im Tode brachte mir Nutzen des Mannes Sohn; behalte Hel, was sie hat.‹«

Über die auffällige Ähnlichkeit der eddischen Balderlegende mit der Passionsgeschichte1 hat zuletzt Rich. M. Meyer im Archiv für Religionsgeschichte 1907, S. 93 ff. gehandelt und folgende zwei Punkte hervorgehoben:

Erstens: Vor Balders Tod werden alle schädlichen Werkzeuge und Waffen »in Bann getan«; nur ein Mistelzweig wird übersehen, mit dem ihn dann der blinde Hod er schießt. Ebenso wird vor Christi Tod der Kohlstengel übersehen.

Zweitens: Die Unterwelt will Balder wiedergeben, wenn die ganze Welt um ihn weint; die ganze Welt weint um ihn – außer dem als Riesin Thokk verkleideten Bösewicht Loki. Um Christi Tod weint nach der Volkssage die ganze Natur außer der Zitterespe [s. unten S. 232].

Rich. M. Meyer bestreitet den genetischen Zusammenhang beider Erzählungen. Der altnordische Mythus beruhe vielmehr auf doppelter Anwendung eines bekannten Sagenschemas, das Meyer »Alle außer« nennt und durch eine lehrreiche Auswahl von Beispielen darlegt. Außerdem erinnert er an die »relative Unverwundbarkeit« von Helden wie Siegfried und Achilles.

Bei der Beliebtheit jenes Schemas, meint er, dürfe man auf seine Verwendung[211] in zwei einander fernen Mythen nichts bauen. Und das gelte erst recht von dem zweiten Fall, in dem Baldermythus und Passionsgeschichte – diese wieder erst in später Ausschmückung! – eine Schablone gemein haben. Alles weint um Balder – außer Loki. Alles weint um Christus – außer der Zitterespe. Meyer führt dann eine sicher unabhängige Parallele aus Japan an: Eine Göttin treibt alle Fische zusammen und fragt sie: »Wollt ihr dem erlauchten Sohne der himmlischen Gottheit ehrfurchtsvoll dienen?« (nämlich als Nahrung). Alle erklären sich bereit. »Nur der Trepang sagte nichts« – deshalb wurde sein stummer Mund aufgeschlitzt. Daher ist heutzutage der Mund des Trepang geschlitzt (Florenz, Japanische Mythologie, S. 273). »Die beiden ätiologischen Märchen von Zitterespe und Trepang sind auf das gleiche Schema gebaut – auf dasselbe, dem die einschränkende Vollständigkeitsangabe bei Balders Tod angehört: alle sind bereit, außer –.«

Ferner hat v.d. Leyen, Märchen in den Göttersagen der Edda S. 22 f., die Frage des Zusammenhangs mit der sorgfältigsten Kritik untersucht. Ich führe folgende wichtige Sätze an:

»Ein übersehenes Wesen oder ein übersehener Gegenstand wird dem zum Verderben, der alle andern unschädlich machte oder für den sie unschädlich gemacht wurden – das ist ein Märchenmotiv, das sich oft nachweisen läßt. Beispiele: Grimm KHM 50, Gonzenbach I S. 342, Wenzig, westslav. M.S. 176, Waldau S. 376. – Eine Pflanze, eine Ranke, ein Stengel wird zur Todeswaffe, wenn Schwerter versagen. Auch diese Vorstellung kennt das Märchen: vgl. Clouston I, 163; Somadeva Kathāsaritsagara X, 65 transl. by Tawney II, 103; Iātaka Nr. 80; Grimm KHM 28; Starkađssage (Golther S. 326), Waldau S. 303 f. Damit wären die beiden wesentlichen Motive aus dem Bericht über Balders Tod als märchenhafte und zwar als späte Zutat erkannt (v.d. Leyen nimmt mit Detter, Paul und Braunes Beitr. 19, 495 f. und Riedner, Ztschr. f. dt. Altert. 41, 305 an, daß Balder in der älteren Sagengestalt durch ein Schwert – und zwar durch das einzige, das ihn verletzen konnte, seinen Tod fand).«

Was das Toldoth Jeschu anlangt, so sind nach v.d. Leyen auch in dieses Märchenmotive eingedrungen. Ein solches sei auch der Krautstengel, der für Jesus tödlich ist.2

Einen Zug freilich haben – wie v.d. Leyen S. 25 hervorhebt – nur die Gylfaginning und das Toldoth Jeschu gemein: Judas und Loki holen und bringen selbst die tödliche Pflanze. (In der obigen Lesart nicht klar.)[212] Und noch eine andere Ähnlichkeit besteht zwischen Loki und Judas: In der Gylfaginning reitet Hermod zu Hel hinab. Diese verspricht ihm, den Gott den Seinen zurückzugeben, wenn die ganze Natur um ihn klage. Und es klagten alle; nur Loki, als Unholdin in einer Höhle sitzend, weigert sich, Tränen zu vergießen.

Das Toldoth Jeschu berichtet (Eisenmeyer S. 191): nur Judas beteiligte sich nicht an dem Fasten und Beten, das die bestürzten Juden auf die Nachricht von Christi Auferstehung anhuben.

Diese Ähnlichkeiten ergeben sich aber, wie v.d. Leyen S. 25 sagt, aus der Situation. Ein Zusammenhang aus der jüdischen Schmähschrift und der nordischen Göttermythe brauche daraus nicht gefolgert zu werden.

Wenn es heißt: die ganze Natur trauerte um ihren Liebling, selbst die Metalle »wie du es gesehen haben wirst, daß diese Dinge weinen (wenn sie aus dem Frost in die Hitze kommen),« so »liege der Gedanke dieser Trauer so ungemein nah, daß er zu einer Entstehung nicht erst der Hilfe christlicher Reminiszenzen bedurfte!«

Gegen die Methode R.M. Meyers habe ich einzuwenden, daß die einseitige Betonung des allgemeinen Schemas ohne jede Rücksicht auf die so überaus wichtige Übereinstimmung in Einzelheiten niemals zu befriedigenden Ergebnissen führen kann. Wenn Meyer z.B. den »Raub des Rangzeichens« in derselben Weise behandelt (ebd. S. 97 ff.), so darf ich darauf darauf hinweisen, daß sich im ersten Bande der Natursagen (S. 32 f. 141) ein schlagender Beweis für den inneren Zusammenhang von Erzählungen gerade dieses Schemas findet. Wie Ahriman den Vertrag mit Ormuzd verschluckt und ausspeit, so auch in der modernen grusinischen Sage der Teufel, den Christus zum Ausspeien veranlaßt.

Die Übereinstimmungen, die v.d. Leyen hervorhebt, scheinen mir andererseits ausreichend, die Ausnahme eines Zusammenhanges zu begründen. Dazu kommt, daß wir in den oben angeführten Sagen aus Ungarn und Griechenland ausgezeichnete Parallelen zur nordischen haben. Warum sollte es nicht auch im Norden eine in christlichem Geiste gehaltene, dem Toldoth Jeschu wesensgleiche Legende gegeben haben, so daß die Volksüberlieferung zweimal aus derselben literarischen Quelle geschöpft hätte? Wichtig ist auch die westenglische Sage, daß Christi Kreuz aus der Mistel (mistletoe) verfertigt und seitdem verurteilt worden sei, als Schmarotzerpflanze zu leben. In welchem Verhältnis steht sie zu der Sage von dem tödlichen Mistelzweig? Die Mistel kann, wie Kaarle Krohn, finn. Beitr. S. 118 nach Henrik Schück (Studier II, 20–23) bemerkt, weder als Speer noch als Pfeil gedacht werden; »hier liegt einfach eine gedankenlose Kombination der Kreuzholzmistel mit dem Speere des Longinus vor«. Die Longinuslegende berichtet nämlich, daß ein blinder Krieger dem Herrn vor dessen Tode einen Speer in die Seite[213] stößt, der vom Teufel geschärft und auf dessen Anstiftung ihm in die Hand gegeben ist. Sie findet sich in Dänemark (in einem 1732 gedruckten Volksliede) und in einer finnisch- und russisch-karelischen Variante (Bugge, Studier I, 38; dazu Krohn, Beiträge S. 114 und bes. 118).

Ebenso entstanden sind, wie Krohn S. 118 richtig bemerkt, die doppelten Widersacher des Balder, Hod und Loki, durch die Verknüpfung der verschiedenen Widersacher Jesu: des Judas, welcher den Kohlstengel zum Kreuzholz holt, und des blinden Kriegsmannes, welcher auf Anstiften des Teufels den Speer stößt. Daß es wirklich eine christliche Legende gegeben hat, in welcher die Kreuzholz- und die Longinus-Legende verschmolzen worden und an welche sich noch eine Unterweltfahrts-Legende (vgl. Christi Niederfahrt zum Hades, Bugge, Studier I 53, 234) angeschlossen, ist durch die finnische Rune von Lemminkäinens Tode bestätigt worden, über die K. Krohn, S. 83–112 eingehend gehandelt hat. Den wesentlichen Inhalt gibt er S. 112 in folgender Weise wieder:


Der »taugliche Sohn« Gottes [Christus] hat eine Vorahnung von der Todesgefahr, in welche er gerät. Ein blinder Hirt mit Schlapphut, welchen zu bestechen er unterlassen hat, durchbohrt ihn mit einem giftigen Wasserpflanzenstengel und wirft seinen Körper in den Fluß von Tuonela. Aus einer blutenden Bürste errät seine Mutter, die Jungfrau Maria, daß er getötet worden ist, und begibt sich eilig in die Unterwelt, wo sie ihn mit einem Rechen in dem Flusse sucht und findet. Es gelingt ihr aber nicht, ihn wieder zu beleben.

Fußnoten

1 Auf das Toldoth Jeschu wies zuerst hin: Conrad Hofmann, Germania 2, 48. Daß christliche Einflüsse Schritt für Schritt in die germanische Mythe eingedrungen seien, behauptete Bugge, Studien über d. Entstehung d. nord. Götter- u. Heldensagen, übers. von O. Brenner, bes. S. 59; vgl. Golther, Handb. d. germ. Mythol., S. 372; E.H. Meyer, Mythol. d. Germanen, S. 401. Über den unzweifelhaften Zusammenhang zwischen dem Baldermythus und dem finnischen von Lemminkäinens Tod siehe Kauffmann, Balder, S. 242 f.; K. Krohn, Finnische Beiträge z. germ. Mythologie, bes. S. 212.


2 Ein mittelalterliches Erzählungsmotiv, das sich an die Baldersage ebenso ansetzte wie an das Toldoth Jeschu, nimmt auch Detter S. 514 Anm. 1 an. W. Schwartz, Indogerman. Volksglaube S. 267 f. führt aus, es handle sich im Toldoth Jeschu nicht um Vergessen einer Staude, sondern um eine Wortspielerei in echt rabbinischem Geiste (vgl. ob. S. 210 Anm.). Dortselbst S. 95–104 Pflanzen als todbringende Waffen.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 214.
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