Vorwort.

Während die beiden ersten Bände dieses Werkes die Aufgabe hatten, über die Grenzen eines bloßen Sammelwerkes hinaus auch dem Ursprung und den Wanderwegen naturdeutender Überlieferungen nachzuforschen, zeigt sich der vorliegende Band im wesentlichen als Sammlung. Er enthält nur wenige, und zwar höchst einfache Beispiele für die Wanderung von Volk zu Volk; die Hauptmasse ist dem Nachweise bestimmt, daß die Gleichartigkeit menschlichen Denkens bei Natur- und Kulturvölkern gleichartige Erzeugnisse hervorruft, deren Übereinstimmungen bei aller Verschiedenheit im einzelnen die Bastiansche Lehre vom Völkergedanken bestätigen. Mit schwierigen, weltweit verzweigten Wanderstoffen, besonders mit solchen, deren Entwicklungsgeschichte auf literarischen, z.B. indischen oder griechischen Ursprung zurückweist, wird sich der zweite Teil der Tiersagen im vierten Bande beschäftigen. Auch wird dieser zum Schlüsse die Sagen des klassischen Altertums, und zwar in derselben Anordnung wie die übrigen Tiersagen darbieten, so daß sie sowohl in ihrer engeren Zusammengehörigkeit als auch in Vergleichung mit den Sagen anderer Zeiten und Völker betrachtet werden können. Diese Verteilung auf zwei Bände, die übrigens auch durch äußere Rücksichten geboten war, dürfte den Überblick über das quirlende Wirrwarr der Stoffe erleichtern.

Freilich scheint es manchmal, als wolle sich dieses Chaos nicht bändigen lassen! Die Tiersagen übertreffen ja alle anderen an Zahl und an Reichtum des Inhalts, und wie es dem Ordner mühsam war, sie zu sichten, so wird es dem Leser nicht immer bequem sein, sich zurechtzufinden. Die Anordnung nach Motiven, die natürlich die allein mögliche ist, weil sie allein zu Ergebnissen führt, bringt den Nachteil mit sich, daß alle die Tiere, die verschiedenen Motivgruppen angehören, an verschiedenen Stellen behandelt werden müssen. Darunter leidet die Klarheit der Erkenntnis, mit welchen Tieren sich das Erklärungsbedürfnis vorzugsweise beschäftigt, welche ihrer Eigenschaften die Sagenbildung am meisten angeregt hat und inwieweit die Beobachtungsgabe ausreicht, auch das Unscheinbare oder Seltene mit Sicherheit zu erfassen. Auch gehören nicht wenige Märchen und Sagen mehreren Motivgruppen gleichzeitig an. Sie sind nach dem Hauptmotiv[3] einer bestimmten Gruppe zugeteilt, enthalten aber noch andere Motive, von deren Gruppen sie nicht ganz zu trennen sind. Doch bietet ein sehr ausführliches Register die Möglichkeit, Getrenntes zu vereinigen, ja ganz neue Anordnungen (z.B. nach Tieren) vorzunehmen.

Bei Beschaffung des Materials, das auf Vollständigkeit natürlich keinen Anspruch machen kann, hat mich außer den bisherigen Mitarbeitern auch Herr Dr. Joseph Páta in Prag freundlichst unterstützt, indem er eine stattliche Reihe slawischer Bücher durchsah und fleißig übersetzte. Ferner hatte Herr Ad. Wrasmann in Berlin die Güte, mir einige Märchen zu übersenden. Ihnen, wie auch den übrigen Helfern, sage ich meinen herzlichsten Dank.

Ganz besonders aber bin ich dem ausgezeichneten Indologen Herrn Dr. Johannes Hertel in Döbeln verpflichtet, der einen ganzen Band Indische Sagen meinem Werke einreihen und so einen überaus wertvollen Beitrag zur Sagengeschichte liefern wird.


LEIPZIG, am 21. Januar 1910.


DR. OSKAR DÄHNHARDT,

Gymnasialoberlehrer zu St. Thomä.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. III3-IV4.
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