II. Sagen von Tieren, die im Wasser leben.

[208] 1. Indianersagen.


a) Sage der Ts'ets'ā'ut.


Einstmals war das Stachelschwein auf einer kleinen Insel. Es fing an zu regnen, und die Wasser stiegen, daß es vom Festland abgeschnitten wurde. Es schrie und sang: »Ich wollte, es hörte auf zu regnen! Ich wollte, es würde kalt und die Wasser gefrören!« Dann zerstreuten sich die Wolken, und das Wasser fror. Dem Stachelschwein gelang es, das Ufer zu erreichen, wenn auch mit großer Schwierigkeit, da das Eis sehr glatt war. Der Biber begegnete ihm und sagte: »Du mußt zu Hause bleiben, wenn die Zweige der Bäume mit Frost bedeckt sind, oder du wirst fallen und die Knochen brechen.« Das Stachelschwein erwiderte: »Von nun an sollst du in Flüssen und Seen leben!«


  • Literatur: Journal of Am. Folklore 10, 43 – Boas, Indianische Sagen, S. 305, Petitot S. 234.

[208] b) Sage der Çatlō'ltq.


Einst nahm P'a, der Rabe, den Seehund zur Frau. Dieser hatte aber einen Sohn. Eines Tages ging P'a mit demselben auf die Jagd und ließ ihn, als sie viele Hirsche geschossen hatten, nach Herzenslust essen. Da wurde der junge Mann durstig und ging zu einer Quelle, um Wasser zu trinken. Als er sich nun hinabbeugte, nahm der Rabe einen Stock und schlug ihn in den Nacken, so daß er sein Genick brach. Dann machte er sich ein Feuer, briet seinen Stiefsohn und aß ihn auf. Er fuhr nun nach Hause zurück, und als er seine Frau sah, tat er, als weine er. Errief: »Tsk·ān, Tsk•ān! dein armer Sohn ist ins Wasser gefallen und ertrunken.« Er setzte sich ans Feuer und lehnte sich zurück, als ob er zornig sei. Auf einmal mußte er aufstoßen, da er zu viel Tran gegessen hatte, und übergab sich gerade ins Feuer, das hoch aufflammte, als der Tran hineinfiel. Da wußte die Frau, daß P'a ihren Sohn getötet und verzehrt hatte. Sie ward zornig und sprang ins Meer. Seither leben die Seehunde im Wasser.


  • Literatur: Boas, Jndianische Sagen von der nordpacifischen Küste.

c) Sage der Cowitchin.


Qäls ging den Cowitchin-Fluß hinauf und kam nach K·ua'mitcan. Dort lebte ein mächtiger Häuptling, namens K·'ē'sek·. Als Qäls kam, stand jener vor seinem Hause. Sie blieben einander gegenüber stehen und versuchten sich durch ihre Blicke gegenseitig zu besiegen (vgl. Bd. 1, S. 76). Endlich zeigte sich Qäls als der stärkere, und K·'ē'sek· stieg in den See Qā'tsa hinab, wo er noch heute lebt. Er erschuf die Forellen in Qā'tsa, und von dort schwammen sie die Flüsse hinab.


  • Literatur: Boas, ebd. S. 47.

d) Sage der Cherokee.


Die Tiere waren alle von verschiedener Größe, und auch ihre Röcke unterschieden sich an Farbe und Muster. Einige hatten lange haarige Pelze und andere kurze. Die einen hatten ringförmig gezeichnete Schwänze, die anderen hatten gar keine. Einige hatten braune, andere schwarze oder gelbe Röcke. Sie stritten immer über ihr Aussehen und beschlossen zuletzt eine Versammlung abzuhalten, um darüber zu entscheiden, wer den schönsten Rock habe.

Sie hörten viel über die Otter, die sehr weit flußaufwärts wohnte, so daß sie die anderen Tiere selten besuchte. Es hieß, sie habe den allerschönsten Rock, aber niemand wußte so recht, wie er aussah, denn es war lange her, seit jemand die Otter gesehen hatte. Sie wußten nicht einmal genau, wo sie lebte, nur ungefähr in welcher Richtung, aber sie wußten, daß sie zur Versammlung kommen würde, wenn sie angesagt wäre.

Nun wollte aber das Kaninchen die Wahl auf sich lenken. Als es jedoch schien, daß sie auf die Otter fallen würde, heckte es einen Anschlag aus, wie es die Otter darum betrügen könne. Es stellte ein paar schlaue Fragen, bis es erfuhr, welchen Weg die Otter zum Versammlungsort nehmen würde. Dann ging es fort, ohne etwas zu sagen. Nach vier Tagereisen begegnete es der Otter und erkannte sie sogleich an ihrem weichen, dunkelbraunen Pelzrock. Die Otter freute sich, es zu sehen, und fragte, wohin es ginge. Das Kaninchen sagte: »Die Tiere haben mich geschickt, Euch zur Versammlung zu holen; weil Ihr so weit weg wohnt, befürchten sie, Ihr möchtet den Weg nicht kennen.« Die Otter dankte dem Kaninchen, und sie gingen zusammen weiter.

Sie wanderten den ganzen Tag in der Richtung auf den Versammlungsort, und des Nachts suchte das Kaninchen den Lagerplatz aus, schnitt Gebüsch ab für die[209] Betten und machte alles hübsch in Ordnung. Denn die Otter war ja in der Gegend fremd. Am nächsten Morgen gingen sie weiter. Des Nachmittags fing das Kaninchen an, Holz und Rinde auf dem Wege aufzusammeln und sich auf den Bücken zu laden. Als die Otter fragte, wozu das sei, sagte das Kaninchen: »Damit wir des Nachts hübsch warm und gemütlich schlafen können!« Nach einer Weile, nicht lange vor Sonnenuntergang, machten sie halt und bereiteten sich ihr Lager. Als sie zu Abend gegessen hatten, nahm das Kaninchen einen Stock und schnitzte ihn zu einer Schaufel zurecht. Die Otter verwunderte sich darüber und fragte wieder, wozu das sei. »Ich träume gut, wenn ich mit einer Schaufel unter dem Kopf schlafe,« sagte das Kaninchen. Als die Schaufel fertig war, fing das Kaninchen an, Gebüsch wegzuschneiden, um einen Weg zum Flusse zu bahnen. Die Otter erstaunte immer mehr und wollte wissen, wozu das alles sei. Das Kaninchen sagte: »Es regnet hier manchmal Feuer, und der Himmel sieht heute abend etwas danach aus. Geh nur schlafen, ich will wach bleiben, und wenn das Feuer kommt und ihr mich rufen hört, lauft und springt in den Fluß. Am besten wäre es, Ihr hängt Euren Rock da drüben an den Ast, damit er nicht verbrannt wird.«

Die Otter tat das, und sie wickelten sich beide zum Schlafen ein, aber das Kaninchen blieb wach. Nach einem Weilchen war das Feuer bis auf ein paar rote Kohlen niedergebrannt. Das Kaninchen rief, aber die Otter war fest eingeschlafen und antwortete nicht. Bald darauf rief es wieder, aber die Otter rührte sich nicht. Da tat das Kaninchen heiße Kohlen auf die Schaufel, warf sie in die Luft und rief: »Es regnet Feuer! Es regnet Feuer!«

Die heißen Kohlen fielen auf die Otter, und sie sprang auf. »Ins Wasser!« rief das Kaninchen, und die Otter lief und sprang in den Fluß und hat seitdem immer im Wasser gelebt.

Das Kaninchen nahm den Rock der Otter, zog ihn an, ließ den seinigen dafür da und ging zur Versammlung. Alle Tiere waren schon beisammen und sahen nach der Otter aus. Da erblickten sie sie in der Ferne und sagten zueinander: »Die Otter kommt!« und schickten eins von den kleinen Tieren hin, um ihr den besten Sitz anzuweisen. Sie freuten sich alle, sie zu sehen, und gingen nacheinander hin, sie zu bewillkommnen, aber die Otter hielt ihren Kopf gesenkt und hielt eine Pfote über das Gesicht. Sie wunderten sich, daß sie so scheu war, bis der Bär hinzukam und die Pfote wegzog. Da sah man des Kaninchens gespaltene Nase. Es sprang auf und rannte fort, der Bär schlug nach ihm und hieb ihm den Schwanz ab, aber das Kaninchen war schneller als er und entschlüpfte.


  • Literatur: Mooney, Myths of the Cherokee, S. 267.

2. Estnische Sage.


Der Wels soll darum im Flusse leben und sich nicht ins Meer wagen, weil er fürchtet, dort zu einem Kaulbarsch zusammenzuschrumpfen.


  • Literatur: Wiedemann, Aus dem inn. u. äuß. Leben der Esten, S. 456.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 208-210.
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